# taz.de -- Pflege und Globalisierung: Kosmopolitinnen aus Not
       
       > Sharon Austrias Mutter verließ die Philippinen und ging nach Israel.
       > Austria tat später das Gleiche. Wo wird die Enkelin einmal arbeiten?
       
 (IMG) Bild: Sharon Austria (rechts) mit Tochter Aira in Tel Aviv
       
       Sharon Austria weinte, als sie ihre Mutter Glory zum Flughafen brachte. Sie
       war 16 Jahre alt, ging in die neunte Klasse in einer Schule in Santiago
       City, einer mittelgroßen Stadt der Philippinen, etwa sieben Autostunden von
       Manila entfernt. Um das Geld für das Studium von Sharon Austria und ihre
       vier jüngeren Brüder aufzubringen, hatte ihre Mutter beschlossen, als
       Pflegekraft im Ausland zu arbeiten. Israel hatte gerade den Markt für
       ausländische Arbeitskräfte geöffnet, und Glory versuchte ihr Glück. Als sie
       hinter den Kontrollen des Flughafens verschwand, wusste Sharon Austria,
       dass sie von nun an auf sie würde verzichten müssen.
       
       Auch ihre Mutter weinte in den nächsten Jahren im 9.000 Kilometer
       entfernten Israel oft. Sharon Austria wusste mitunter, wann genau.
       Normalerweise rief die Mutter an ihrem freien Tag an, von den blauen
       öffentlichen Telefonzellen aus. Die wurden jeden Schabbat rege von den
       ausländischen Arbeitskräften genutzt, um mit ihren weit entfernten Liebsten
       zu sprechen. Manchmal jedoch klingelte das Telefon auch unter der Woche.
       Dann hatte Glorys Arbeitgeberin sie nachts weinen gehört und ihr erlaubt,
       für fünf Minuten vom Festnetz aus zu telefonieren.
       
       Auf den Philippinen machte derweil Sharon Austria ihren jüngeren Brüdern
       das Frühstück, brachte den Kleinsten zum Kindergarten, später zur Schule.
       „Es war, als sei ich plötzlich selbst Mutter geworden“, erinnert sie sich.
       „Aber die Erfahrung hat mich auch zäh gemacht. Mit vier jüngeren Brüdern
       und einem Vater musste ich stark sein.“ Die Durchsetzungskraft, die sie
       damals lernte, kommt ihr heute zugute: im Kampf für die Rechte von
       Arbeitsmigrant*innen.
       
       28 Jahre später bestellt Austria, die heute 43 ist, einen Pfefferminztee in
       einem Café im Zentrum von Tel Aviv. Wie ihre Mutter damals arbeitet nun
       auch sie selbst in Israel. Sie zieht es vor, ihre Geschichte im Café zu
       erzählen, nicht bei sich zu Hause. Denn sie lebt mit abgelaufenem Visum in
       Israel. Nur eine Handvoll engster Vertrauter weiß, wo sie wohnt.
       
       [1][Careworker*innen] von den Philippinen, aus Indien und Thailand sind
       fester Bestandteil der Gesellschaft in Israel, was am Straßenbild zu sehen
       ist. Etwas mehr als 67.000 von ihnen arbeiten derzeit im israelischen
       Pflegesektor, rund 11.000 von ihnen mit abgelaufenem Visum. Da nahezu alle
       ausländischen Pflegekräfte über den Luftweg ein- und ausreisen, ist diese
       Zahl für Israel recht genau nachvollziehbar.
       
       Sie schieben ältere Frauen und Männer in Rollstühlen durch die Straße,
       sitzen neben ihnen auf Bänken in der Sonne. Die Arbeitsbedingungen sind
       extrem hart. Die Carearbeiter*innen erhalten etwas mehr als den
       Mindestlohn. Der liegt in Israel derzeit bei umgerechnet 1.500 Euro
       monatlich. Dafür müssen sie in der Wohnung der zu pflegenden Personen leben
       und sich sechs Tage die Woche rund um die Uhr um deren Bedürfnisse kümmern.
       
       In der Regel ist es schwer, mit den Carearbeiter*innen ins Gespräch zu
       kommen. Die meisten haben Angst, etwas von sich preiszugeben. Denn
       [2][nicht nur sind die Arbeitsbedingungen der migrantischen Pflegekräfte
       hart] – die Gesetze und Regelungen greifen tief in ihre Privatsphäre ein.
       
       ## Eine Partnerschaft ist verboten
       
       Als Austrias Mutter Glory in den neunziger Jahren in Israel arbeitete,
       durfte sie keine Paarbeziehung eingehen und keine Kinder kriegen, sonst
       hätte sie ihr Visum verloren. 2006 bezeichnete das Oberste Gericht im Land
       diese Politik als „moderne Sklaverei“ und hob das Verbot auf, Kinder zu
       bekommen.
       
       Die Zustimmung der zu betreuenden Person, dass das Baby gemeinsam mit der
       Arbeitgeber*in und der Mutter in der Wohnung leben kann, braucht es
       dennoch. Alternativ muss eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung für das Kind
       sichergestellt sein – bei dem Gehalt ein Ding der Unmöglichkeit. Das
       Verbot, eine Partnerschaft einzugehen, wurde aufrechterhalten.
       
       „Auf dem Boden der Tatsachen hat sich wenig für die migrantischen
       Pflegekräfte verändert“, sagt [3][Sigal Rosen, Koordinatorin bei der
       Hotline für Flüchtlinge und Migranten.] „Noch immer sind die
       Arbeitnehmer*innen von ihren Arbeitgeber*innen abhängig“.
       
       Rund zwanzig Prozent der Pflegekräfte könnten den Arbeitgeber nicht
       wechseln, ohne Verhaftung und Abschiebung ausgesetzt zu sein, sagt Rosen.
       Diejenigen etwa, die bereits länger als fünf Jahre in Israel arbeiten. Das
       ist die Zeit, die erlaubt ist – außer die Arbeitgeber*innen leben
       länger als fünf Jahre. So arbeiten viele fast ihr gesamtes Erwachsenenleben
       für eine*n Arbeitgeber*in. Sobald diese*r stirbt, werden sie
       aufgefordert, Israel zu verlassen.
       
       Für Austria, die mit ihrem Partner und ihren zwei Kindern zusammenlebt, ist
       klar, dass die Gesetze falsch sind und nicht etwa sie. „Lieber entspreche
       ich nicht dem Gesetz als mein Leben lang allein zu leben, ohne Familie“,
       sagt die zierliche Frau und wischt ihre halblangen braunen Haare aus dem
       Gesicht: „Ich bin doch keine Arbeitsmaschine.“
       
       Im Januar 2003, zehn Jahre nachdem sie ihre Mutter zum Flughafen gebracht
       hatte, landete Austria selbst am Ben-Gurion-Flughafen in der Nähe von Tel
       Aviv. Auch die damals 26-Jährige sah sich gezwungen, im Ausland zu arbeiten
       – trotz des Bachelors in Krankenpflege, den sie mittlerweile in der Tasche
       hatte.
       
       „Als Krankenschwester verdient man auf den Philippinen etwa 500 Dollar
       monatlich. Damit kommt man alleine irgendwie durch. Eine Familie kann man
       davon nicht ernähren“, sagt Austria und zündet sich eine Zigarette an.
       
       Als sie landete, war sie aufgeregt. Weniger wegen ihres neuen Lebens in
       einem Land, das sie nicht kannte. Sondern vor allem, weil sie ihre Mutter
       wiedersehen würde. Die Entfremdung war größer als gedacht. Als Glory ihrer
       Tochter zum Empfang stolz eine Fischsuppe aus seltenem und teurem Fisch
       vorsetzte, wurde Austria traurig. „Wir haben am Telefon über Schulnoten und
       Gesundheit gesprochen, doch ein großer Teil unseres Lebens ist an meiner
       Mutter vorbeigegangen“, sagt sie. Sie hasst Fischsuppe.
       
       ## 5.000 Dollar für die Agentur
       
       In den folgenden zwei Jahren, die sie gemeinsam in Israel verbrachten,
       trafen sie sich für gewöhnlich am Schabbat, Glorys freiem Tag, in der
       Wohnung von Sharon Austrias Arbeitgeberin. Austria kümmerte sich während
       dieser Treffen weiter um sie. „Ich konnte sie nicht alleine lassen, sie
       konnte ja nicht alleine laufen.“
       
       Austria wusch sie, kochte für sie, brachte sie zur Toilette. Die alte Frau
       war Holocaustüberlebende. „Wenn sie in der Nacht Albträume hatte und
       schrie, kam ich zu ihr ans Bett. Manchmal weckte ich sie und beruhigte sie,
       gab ihr etwas zu trinken.“
       
       Fast ein Jahr lang hatte Austria keinen freien Tag. „Es kam mir entgegen,
       denn ich wollte meiner Mutter ja das Geld für die Vermittlungsagentur
       zurückzahlen“, sagt sie. Ohne Vermittlungsagentur kein Visum. 5.000 Dollar
       hatte die Mutter für sie ausgelegt, eine horrende Summe für die beiden.
       
       Die Philippinen sind eines der Länder, aus denen sich die meisten Menschen
       aufmachen, um woanders in der Welt zu arbeiten. Auf mehr als zehn Millionen
       schätzte die UN 2016 die Anzahl von philippinischen Arbeitskräften, die
       legal oder illegalisiert im Ausland arbeiten. Das ist fast ein Zehntel der
       Gesamtbevölkerung.
       
       2019 schickten die philippinischen Arbeitsmigrant*innen umgerechnet 29
       Milliarden Euro in den Inselstaat. Zwar bestreitet die philippinische
       Regierung, dass sie Arbeitskräfteexportpolitik betreibt. Doch bereits seit
       den 1970er Jahren gibt es verschiedene Regierungsbehörden, die sich um die
       Bedürfnisse von im Ausland arbeitenden Philippinas und Philippinos kümmert.
       
       Arbeitsmigration von Pflegekräften ist ein globales Phänomen. Weltweit
       arbeiten migrantische Pflegekräfte, zumeist Frauen, in der
       Gesundheitsversorgung und stützen Länder, die unter knapper
       Pflegeversorgung leiden. In keinem anderen OECD-Land gibt es so viele
       ausländische Arbeitskräfte in der Langzeitpflege wie in Israel.
       
       Mehr als neunzig Prozent der zu Hause beschäftigten Pflegekräfte sind in
       diesem Land Ausländer*innen. Zum Vergleich: In Deutschland sind es etwas
       mehr als zehn Prozent. Angesichts der steigenden Lebenserwartung in reichen
       Ländern dürfte sich der Trend, in diesem Niedriglohnsektor auf migrantische
       Arbeitskräfte zurückzugreifen, in den nächsten Jahren verstärken.
       
       Als Austrias Vater 2004 starb, flog ihre Mutter zurück nach Santiago City.
       Auch sie selbst wollte zur Beerdigung auf die Philippinen fliegen, doch auf
       dem Weg zum Flughafen bekam sie einen Anruf vom Sohn ihrer Arbeitgeberin.
       Ihre Arbeitgeberin war gerade gestorben. Sie musste umgehend ein*e neue*n
       Arbeitgeber*in finden, sonst würde ihr Visum ungültig. Die Beerdigung
       ihres Vaters auf den Philippinen fand ohne sie statt.
       
       Ihre Mutter kam nicht mehr nach Israel zurück. Stattdessen zog sie als
       Pflegekraft weiter in die USA. „Meine Mutter und ich konnten all die Zeit,
       die wir nicht zusammen verbracht haben, nicht zurückholen“, sagt Austria
       rückblickend. „Auch nicht in der Zeit, die wir zusammen in Israel
       verbrachten.“ Ihre Stimme klingt traurig, aber auch abgeklärt. „Ich hatte
       ja schon mein eigenes Leben.“
       
       Austrias Partner Marc, den sie auf den Philippinen kennengelernt hat, kam
       ein Jahr nach ihrer eigenen Emigration nach Israel, ebenfalls als
       Pflegekraft. Dass die beiden ein Paar waren, durften die Behörden nicht
       erfahren, weil Arbeitsmigrant*innen wie beschrieben keine
       Partnerschaft eingehen dürfen. Diese Politik dürfte daran liegen, dass die
       israelische Regierung befürchtet, die ausländischen Arbeitskräfte könnten
       sesshaft werden. Eine Befürchtung, die in Israel auch immer mit der Sorge
       um die jüdische Mehrheit innerhalb des Landes verbunden ist.
       
       ## Unterstützung von den Arbeitgebern
       
       2004 fand Austria Beschäftigung bei Leo und Rosemarie Millner. Sie kramt
       ihr Handy hervor und öffnet Facebook. „Rosemarie ist schon so lange
       verstorben“, sagt sie, Tränen treten in ihre Augen. „Aber ich bin immer
       noch mit ihr auf Facebook befreundet.“
       
       „Ich kann stolz behaupten, dass sie neun Jahre länger wegen mir gelebt
       haben. ‚Kein Essen ist so gut wie deins‘, pflegten sie zu sagen.“ Austria
       ist stolz darauf, ihre Arbeitgeber*innen wie einen Teil ihrer selbst
       behandelt zu haben. Sie bekam die Fürsorge vergolten: „Sie haben mich immer
       unterstützt.“
       
       Die Millners ließen sie mit ihrem Partner eine eigene Wohnung beziehen. Und
       als sie mit ihrer ersten Tochter schwanger wurde und ihr Kind bekam – sie
       hatte eine Krankenversicherung –, halfen sie ihr, das Kind vor der
       Einwanderungsbehörde geheim zu halten. „Rosemarie wurde meine zweite
       Mutter“, erzählt Austria: „Wir haben diskutiert und uns gestritten. Aber
       ich habe nie das Haus verlassen, ohne sie in den Arm zu nehmen.“
       
       Ein Jahr später lernte Sharon Austrias Tochter Aira im Wohnzimmer der
       Millners krabbeln. Als sie laufen konnte, begleitete sie ihre
       Ersatz-Großmutter Hand in Hand zum Nagelstudio. Und manchmal, wenn Austria
       kurz in den Supermarkt sprang, blieb Aira bei denen, die sie Großeltern
       nannte, stibitzte Kekse aus der Dose und brachte damit alle zum Lachen.
       
       ## Kinder sollten abgeschoben werden
       
       Ein paar Jahre nach der Geburt ihrer Tochter begann Austria, sich politisch
       zu engagieren. 2009 erklärte Yaakov Ganot, der neue Chef der
       Einwanderungsbehörde, alle Kinder von Arbeitsmigrant*innen abschieben
       zu wollen. Kurz darauf riegelte die Polizei einen Bezirk im Süden Tel Avivs
       ab, in dem die meisten Arbeitsmigrant*innen mit ihren Familien lebten.
       Sie kontrollierten alle, die ein und aus gingen. „Alle mit brauner oder
       schwarzer Haut“, ergänzt Austria.
       
       Austria hatte damals noch ihr Visum und war geschützt. „Aber es war so
       inhuman. Ich dachte die ganze Zeit: Was, wenn dies meinem Kind passiert?“
       Sie zeigte sich solidarisch, ging zu Demonstrationen, die zu der Zeit noch
       in erster Linie von der israelischen Zivilbevölkerung organisiert wurden.
       Der öffentliche Aufruhr, den Ganots Vorgehen ausgelöst hatte, verhinderte
       schließlich, dass es tatsächlich zu einer Massenabschiebung der Kinder kam.
       
       2017 jedoch begann der Staat erneut, vereinzelt Familien mit ihren Kindern
       abzuschieben. „Wir beschlossen, dass wir etwas unternehmen müssen. Sonst
       würden all diese Kinder hier sehr bald abgeschoben,“ erzählt Austria.
       Gemeinsam mit anderen betroffenen ausländischen Pflegekräften gründete sie
       die Gruppe „United Children of Israel“.
       
       Der Name verrät die Forderung der Gruppe: den Kindern, die als Kinder von
       Arbeitsmigrant*innen in Israel geboren wurden und aufwachsen, die
       Möglichkeit zu geben, zu bleiben. Austria ist für die Pressearbeit
       zuständig. Immer wieder macht sie trotz ihres eigenen Risikos Druck beim
       israelischen Parlament, um Anhörungen durchzusetzen. Organisiert
       Demonstrationen. Und steht ganz vorne im Kampf von Zehntausenden
       migrantischer Arbeitskräfte in Israel für menschliche Arbeitsbedingungen.
       
       ## Ohne Arbeitgeber kein Visum
       
       Papiere hatte Austria 2017 schon nicht mehr: Sie verlor ihr Visum 2013, als
       ihre Zeit bei den Millners endete – einige Monate nach der Geburt ihrer
       zweiter Tochter Shivan. Shivan war eine Frühgeburt, die ersten Wochen lag
       sie im Inkubator. Mit sechs Monaten wog sie gerade mal zwei Kilo. Sie
       erbrach, wenn sie trank, weil die Organe nicht voll ausgebildet waren, und
       musste häufig zum Arzt.
       
       Es war unmöglich für Austria, sich um ihre Arbeitgeber*innen und ihre
       Tochter gleichzeitig zu kümmern. Sie setzte ihre Arbeit bei den Millners
       aus. Nach acht Monaten musste sie ihnen sagen, dass sie die Arbeit nicht
       wieder aufnehmen könnte. Es war eine traurige Trennung für beide Seiten.
       
       Die Familie plante, auf die Philippinen zurückzukehren, als Austria von
       einem Arbeitgeber ihres Mannes ein Angebot erhielt: Da der Unternehmer die
       meiste Zeit in Deutschland lebt, könne sie auf seine Wohnung in Israel
       aufpassen. Sie zögerte nicht und nahm aus ökonomischen Gründen an – und
       wegen ihrer Töchter. Weil sie aber nach mehr als fünf Jahren im Land bei
       den Millners kündigte, verlor sie ihr Visum und konnte auch kein neues mehr
       bekommen. Seitdem leben die vier ohne Aufenthaltserlaubnis in Israel.
       
       Mittlerweile ist Aira vierzehn Jahre alt. Sie erinnert sich gut an Saba und
       Safta – Opa und Oma. So nennt sie die Millners, die mittlerweile verstorben
       sind. Ihre leibliche Großmutter Glory hingegen, die bei ihrer Geburt in den
       USA arbeitete, hat sie noch nie persönlich gesehen – nur ab und zu auf dem
       Handybildschirm ihrer Mutter. Dann sagt sie „Schalom“, winkt und widmet
       sich wieder ihrem Leben in Israel. Airas größte Leidenschaft ist Tanz.
       „Hiphop. Eigentlich alles“, erklärt sie, macht eine Pause und ergänzt:
       „Außer Ballett.“ Ihre Hände hält sie abwehrend weit von sich.
       
       Aira beißt in ihr Pistaziencroissant. „Was ich von den Philippinen weiß?“,
       fragt sie und lacht: „Nichts. Außer, dass das Meer besonders schön sein
       soll. Und dass es extrem viel Streetfood gibt.“ Sie spricht Hebräisch, in
       der Sprache fühlt sie sich am wohlsten, auch ihr Englisch ist sehr gut.
       
       Tagalog, die am weitesten verbreitete Sprache auf den Philippinen und die
       Muttersprache ihrer Eltern, verstehen sie und ihre jüngere Schwester, aber
       sie sprechen sie nicht. „Was sollen wir Tagalog mit ihnen sprechen?“, fragt
       Sharon Austria. „Sie haben hier niemanden, mit dem sie in dieser Sprache
       sprechen können, jenseits von uns.“
       
       Mit ihrem hebräischen Jugendslang und ihrer Lebendigkeit wirkt Aira, die
       seit ihrer Geburt illegalisiert in Israel lebt, wie eine durchschnittliche
       israelische Teenagerin. Seit 2003 gibt es eine Regelung, dass Kinder zur
       Schule gehen dürfen – egal, welchen Status sie haben.
       
       ## Angst vor der Einwanderungspolizei
       
       Doch die Angst vor der Abschiebung in ein Land, das sie noch nie gesehen
       hat, begleitet Aira permanent. Und Angst vor weißen Autos – der Farbe der
       Autos der Immigrationspolizei. Im Sommer 2019 sah Aira viele davon. Es war
       die Zeit der wiederholten Wahlen und der Übergangsregierung.
       Kritiker*innen sagen, das Innenministerium habe die Gelegenheit
       genutzt, seine Pläne ohne Kontrolle durch die Knesset durchziehen zu
       können.
       
       Die Inhaftierungen und Abschiebungen passierten nun nicht mehr vereinzelt
       wie in den Jahren zuvor, sondern in großem Stil. In ihren weißen Vans fuhr
       die Einwanderungspolizei vor die Häuser von Arbeitsmigrant*innen ohne
       Visum, drang in die Häuser ein und verhaftete die gesamten Familien
       inklusive der Kinder.
       
       Für Aira war diese Zeit traumatisch – vor allem, als sie hörte, dass auch
       ihre Wohnung von der Polizei aufgebrochen worden war. Doch da hatte ihre
       Mutter schon ihre Koffer gepackt, sie hielten sich vorübergehend bei
       Bekannten versteckt. Im folgenden halben Jahr schleppten sie ihre Koffer
       von einer Wohnung zur nächsten, insgesamt waren es 15. Bis die Verhaftungen
       wieder weniger wurden und eine Freundin für sie die Wohnung fand, in der
       sie jetzt wohnen.
       
       Aira hat die Kampfeslust ihrer Mutter geerbt und wurde gemeinsam mit ihr
       aktiv. Sie war auf den Demonstrationen gegen das Vorgehen des Staates
       dabei, hielt Schilder in die Höhe, auf denen geschrieben stand: „Kein Kind
       ist illegal.“ Im vergangenen Dezember sprach sie sogar bei einer Anhörung
       in der Knesset: „Ich will mich in meinem Zuhause sicher fühlen, will zur
       Schule gehen, in der Straße laufen und tanzen gehen – ohne Angst. Ich will
       dort weiter leben, wo ich aufgewachsen bin.“
       
       ## Im Alter wieder in die Heimat
       
       Doch ihre Angst geht nicht weg. Noch immer dreht Aira manchmal eine
       zusätzliche Runde, wenn sie sich verfolgt fühlt – um nicht ungewollt
       preiszugeben, wo sie und ihre Familie wohnen.
       
       Glory, Sharon Austrias Mutter, ist mittlerweile auf die Philippinen
       zurückgekehrt. Austria wischt über ihr Smartphone. Auf einem Foto lacht
       Glory, eine Mittsechzigerin mit Hornbrille und schulterlangen braunen
       Haaren, glücklich der Kamera entgegen, umringt von ihren vier Söhnen, deren
       Ehefrauen und Enkelkindern. Vor ihnen ein mit frittierten Snacks und Ananas
       gedeckter Tisch. „Das war letztes Silvester“, erzählt Austria. „Sie war
       gerade aus den USA zurückgekehrt und hat sich zur Ruhe gesetzt.“ Nach 27
       Jahren harter Arbeit in verschiedenen Ländern der Welt ist sie nun wieder
       bei ihrer Familie.
       
       Austria hat einen ähnlichen Plan für sich selbst. „Ich liebe Israel“, sagt
       sie. „Aber ich möchte hier nicht alt werden, nicht im Traum.“ Sie sei
       hergekommen, um ihre Zukunft auf den Philippinen vorzubereiten, für die
       Zeit, wenn ihre Kinder auf eigenen Beinen stehen. Ihr Plan: ein Stück Land
       kaufen, eine Wohnung bauen und sich zum Rentenalter niederlassen. Bis dahin
       kämpft sie dafür, dass ihre Kinder in Israel bleiben können. Damit würde
       ihnen erspart, in einem Land aufzuwachsen, aus dem sie dann weggehen
       müssen, um sich ernähren zu können.
       
       Die vierzehnjährige Aira möchte Stewardess werden. Als Flugbegleiterin die
       Welt sehen und immer wieder nach Israel zurückkommen zu können, das ist ihr
       Wunsch. Noch ist sie ein bisschen zu klein dafür. „Aber ich wachse ja
       noch“, sagt sie zuversichtlich. Und wenn das nicht klappt? „Dann werde ich
       Pflegerin“, sagt sie. Sie sieht zufrieden aus.
       
       8 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://suedostasien.net/philippinische-arbeitsmigration-weltweit-und-nach-deutschland/
 (DIR) [2] /Philippinische-Arbeitsmigranten/!5192429/
 (DIR) [3] https://hotline.org.il/en/about-us/team/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Judith Poppe
       
       ## TAGS
       
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       Leichen identifizieren, Brot backen, Schlafplätze für Geflüchtete suchen –
       es sind vor allem Frauen, die in der und für die Ukraine Friedensarbeit
       leisten. Ist Solidarität weiblich?
       
 (DIR) Anwerbung von Pflegekräften: Deutsch ist ein Standortnachteil
       
       Deutsche Agenturen werben zunehmend Pflegekräfte aus Übersee – doch es gibt
       Hürden. Nun wurde ein Gütesiegel für faire Anwerbung verliehen.
       
 (DIR) Häusliche Pflege in Deutschland: An Mamas Seite
       
       Weil die Mutter unserer Autorin immer mehr vergisst, benötigt sie Hilfe.
       Deshalb ist Marcela bei ihr, kocht, putzt, wechselt die Windel.
       
 (DIR) Arbeitsmigration in Rumänien: Dorf ohne Mütter
       
       Viele Rumäninnen müssen im Ausland arbeiten, um über die Runden zu kommen.
       Darunter haben sie enorm zu leiden – und noch mehr ihre Kinder.