# taz.de -- Linke und der Ukrainekrieg: Die Nato-war-schuld-Linken
       
       > Einige Linke stecken noch immer in alten Denkmustern fest. Statt zu Putin
       > auf Abstand zu gehen, beschuldigen sie weiter die USA und die Nato.
       
 (IMG) Bild: Es geht nicht nur um Sahra Wagenknecht: Friedenskundgebung der Linken am 8. Februar in Berlin
       
       Umdenken ist mühsam, anstrengend, mitunter auch schmerzhaft, weil man von
       einem Stück der eigenen Vergangenheit Abschied nehmen muss. Wenn
       Gewissheiten, die einem über Jahre oder Jahrzehnte beim Denken Halt gegeben
       haben, innerhalb von Tagen zerbröseln, geht das am eigenen Selbstbild nicht
       spurlos vorbei. Warum hat man die Welt bisher nur so gesehen, wie man sie
       sehen wollte – nicht so, wie sie ist? Wollte man sich vielleicht täuschen
       lassen? Und trägt man deshalb eine Mitverantwortung?
       
       Diese Fragen beschäftigen nach Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine
       viele Menschen, über die verschiedenen politischen Lager hinweg. Schaut man
       auf die deutsche Debatte, muss man aber feststellen: Der tiefe Einschnitt,
       den der 24. Februar 2022 darstellt, ist bei einem gar nicht so kleinen Teil
       der Linken noch nicht richtig angekommen. Gemeint ist jener Teil der
       Linken, der sich all die Jahre so sicher war, dass Russlands aggressives
       Verhalten nur als Reaktion auf die [1][Ausdehnung der Nato] erklärt werden
       kann. Und da geht es nicht nur um Sahra Wagenknecht.
       
       Beobachten lassen sich die Widerstände gegen ein Umdenken zurzeit in vielen
       Texten und Wortmeldungen, die alle einem ähnlichen Aufbau folgen. Zu Beginn
       verdammen sie Wladimir Putin als Aggressor, meist mit dem Satz: „Dieser
       Angriffskrieg ist durch nichts zu entschuldigen.“ Dann folgt ein großes
       Aber – und dieselben Textbausteine, die man schon all die Jahre verwendet
       hat: der vermeintliche [2][Wortbruch der Nato nach der Wiedervereinigung],
       das Vordringen des Bündnisses in „russische Einflusssphären“, der
       Militarismus der USA und die Demütigung des stolzen Russlands.
       
       Dass dabei Länder wie die Ukraine oder Georgien zu reinen Pufferzonen
       degradiert werden, deren eigener Wille als vernachlässigbare Größe gilt und
       denen man aus Deutschland – oft von oben herab – die Neutralität empfiehlt,
       wird geflissentlich ignoriert. Genauso wie die Tatsache, dass es sich um
       eine klassische Täter-Opfer-Umkehr handelt, wenn man die Westorientierung
       der Ukraine nach dem Euromaidan 2014 für den russischen Überfall
       mitverantwortlich macht.
       
       Wer den Krieg in der Ukraine immer noch mit der [3][Nato-Osterweiterung]
       erklärt, weigert sich entweder dazuzulernen – oder er hat Putin nicht
       wirklich zugehört. Ginge es dem Diktator im Kreml tatsächlich um die Nato,
       bräuchte er nicht die kruden historischen Phantasmagorien, mit denen er in
       seinen Begründungen für die Invasion immer wieder hantiert: Die Ukraine sei
       eigentlich keine echte Nation, die Bolschewiki hätten Russland ausgeraubt,
       als sie große Gebiete der Ukraine zuschlugen, Lenin hätte vor 100 Jahren
       einen fatalen Fehler gemacht und so weiter.
       
       Für seine neo-imperialen Visionen ruft Putin die Nato noch als Gegner auf –
       als Begründung, warum er das Nachbarland seinem Reich einverleiben will,
       braucht er sie aber nicht. Wer kann da wirklich noch glauben, er hätte sich
       mit einer neutralen Ukraine zufriedengegeben?
       
       Hinter der Erzählung von der Nato-Osterweiterung als geopolitischer Ursünde
       verbirgt sich sehr oft ein linker Antiamerikanismus, dem es wichtiger ist,
       sich an die eigenen Glaubenssätze zu klammern, als die Wirklichkeit
       angemessen zu beschreiben. Die Kurzfassung der Erzählung lautet ja: Der Ami
       ist schuld.
       
       Welche Folgen das hat, konnte man auch im Umgang mit Syrien beobachten. Auf
       der Linken wurde ausführlich über die Rolle der USA bei der Entstehung des
       Krieges diskutiert. Und über die Frage, wie verheerend Barack Obamas
       Entscheidung war, beim Giftgaseinsatz erst eine rote Linie zu ziehen, das
       Überschreiten dieser dann aber nicht zu ahnden. Als Russland 2015 aber
       seine Bomber für Assad losschickte, herrschte in der deutschen Debatte
       weitgehend Schweigen.
       
       Zurück zur Ukraine. Mit dem Beharren auf die Nato-Osterweiterung als
       Auslöser lässt sich ein Teil der Linken auch jetzt noch vom Kreml die
       Talking Points vorgeben und blickt ständig zurück. Es geht aber nicht nur
       um einen Streit darüber, wer im Nachhinein recht gehabt hat. Eine Linke,
       die sich an überkommene Denkmuster klammert, kann zur Debatte um die
       außenpolitischen Folgen der aktuellen Krise nichts Sinnvolles beitragen.
       
       ## Putins Neo-Imperialismus
       
       Denn die Erklärung mit der Nato-Osterweiterung verstellt den Blick auf das
       heutige Russland. Die Erzählung ist ja auch deshalb so bequem, weil der
       Westen sich dann nur mit sich selbst beschäftigen muss.
       
       Auch darum hat man in den vergangenen Jahren nicht genauer hingeschaut, wie
       der Kreml die stockende wirtschaftliche Modernisierung des Landes mit einer
       extremen Militarisierung konterte. Wie Zivilgesellschaft und unabhängigem
       Journalismus seit dem nationalistischen Rausch der Krim-Annexion die Luft
       abgedrückt wurde, wie Putin das staatliche Fernsehen zu einer Hassmaschine
       umbaute und sich für seinen Neo-Imperialismus die Stichworte von dem
       rechtsextremen Denker Alexander Dugin lieh.
       
       Ein Festhalten an der Nato-ist-schuld-Erzählung behindert zum anderen aber
       auch eine ehrliche Debatte auf der Linken über den 24. Februar – und was
       daraus folgt. Wladimir Putin führt in der Ukraine jeden Tag vor, wie er mit
       einem Land umgeht, das militärisch schwächer ist. Eine Linke, der daraufhin
       nur einfällt: „Aber die Nato …“ oder „Frieden schaffen ohne Waffen“,
       schließt sich selber aus dem Diskurs aus.
       
       Verdammt viele Menschen in diesem Land sind gerade sehr froh, dass es die
       Nato gibt. Weitere Länder werden jetzt in das Verteidigungsbündnis drängen.
       Und die deutsche Aufrüstung wird kommen. Das sind Fakten, mit denen man in
       den nächsten Jahren umgehen muss.
       
       Linke Politik wird da nur einen konstruktiven Einfluss haben können – auch
       im Sinne, dass das Militärische nicht überhandnimmt –, wenn sie sich von
       überkommenen Denkmustern verabschiedet und sich nüchtern dieser neuen Welt
       stellt.
       
       8 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Ukraine-Russland-Konflikt/!5828698
 (DIR) [2] /Jahrespressekonferenz-von-Putin/!5821197
 (DIR) [3] /Krieg-in-der-Ukraine/!5835173
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Pfaff
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Russland
 (DIR) Nato
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Wladimir Putin
 (DIR) Linke
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Verbrecher Verlag
 (DIR) taz Plan
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Frauenkampftag
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Historikerin über Nato-Osterweiterung: „Die Ukraine im Stich gelassen“
       
       Putin begründet den Angriff auf die Ukraine auch mit der
       Nato-Osterweiterung. Historikerin Mary Elise Sarotte rekonstruiert, wie das
       damals genau war.
       
 (DIR) Marxist über die Linke und den Krieg: „Wacht auf!“
       
       Paul Mason ist Marxist – und verteidigt die Nato. Welche Reformvorschläge
       er hat und was er von der deutschen Linken verlangt: ein Gespräch.
       
 (DIR) Linke Buchtage in Berlin: Für Liebe unter Linken und zum Buch
       
       Am Wochenende finden wieder die linken Buchtage in Präsenz statt. Für
       Diskussionsstoff auf Lesungen und Podien sorgt vor allem der Ukrainekrieg.
       
 (DIR) Aktivismus in Berlin: Nicht alles über den Haufen werfen
       
       Putins Angriff zwingt uns, einige linke Positionen zu überdenken. NATO,
       Militarismus und Nationalstaaten muss man dabei trotzdem nicht toll finden.
       
 (DIR) Russische Kriegspropaganda für Kinder: Böser Mikola und guter Wanja
       
       Moskaus Propaganda richtet sich auch an Kinder, wie ein Animationsfilm
       offenbart. Selbst in Schulklassen wird die Wahrheit über den Krieg
       verdreht.
       
 (DIR) Frauentag in Berlin: Ein Zeichen der Solidarität
       
       Am Frauentag ging es auf der Demo an der Volksbühne um Care-Arbeit. Viele
       Frauen protestierten aber auch gegen den Krieg.
       
 (DIR) Gasgewinnung in den Niederlanden: Groninger Gretchenfrage
       
       Weil die Förderung jahrelang Erdbeben verursachte, war in den Niederlanden
       das Thema Erdgas eigentlich erledigt. Der Ukrainekrieg stellt das infrage.
       
 (DIR) Massenproteste gegen Ukrainekrieg: Auf die Straße für den Frieden
       
       Ein breites Antikriegsbündnis ruft zu Protesten auf – auch gegen deutsche
       Aufrüstungspläne. Waffenlieferungen hingegen bleiben umstritten.
       
 (DIR) Millionen-Metropole Charkiw: Die vierte Schlacht
       
       Charkiw steht unter Beschuss. Erinnerungen an Kriege prägen die Stadt – und
       die vielen Studierenden aus aller Welt, die um ihr Leben bangen müssen.
       
 (DIR) Evakuierung von Zivilisten gescheitert: Gefangen in Mariupol
       
       Mehr als 400.000 Menschen sitzen ohne Strom und Wasser fest. Andauernder
       Beschuss verhindert die Öffnung humanitärer Korridore.
       
 (DIR) Tschechische Solidarität im Ukrainekrieg: Gelebte Verbundenheit
       
       In Tschechien leben viele UkrainerInnen. Einige wollen nun in den Krieg
       ziehen – andere ihre Verwandten davor schützen.