# taz.de -- Regierungswechsel in Chile: Große Visionen des Gabriel Boric
       
       > Gabriel Boric tritt am Freitag als jüngster Präsident Chiles das
       > Präsidentenamt an. Er verspricht eine feministische und umweltbewusste
       > Regierung.
       
 (IMG) Bild: Gabriel Boric und die zukunftige Innenministerin Izkia Siches haben in Chile viel vor
       
       SANTIAGO taz | Zum ersten Mal eine Frau im Innenministerium, eine
       feministische Aktivistin im Frauenministerium und eine
       Klimawissenschaftlerin im Umweltministerium – das Kabinett von Chiles neuem
       Präsidenten Gabriel Boric steht für Wandel.
       
       An diesem Freitag tritt Boric sein Amt an, und [1][14 der 24 Ministerien
       sind von Frauen besetzt]. „Wir sind hoffnungsvoll, dass diese eine
       feministische Regierung sein wird und dass wir ein feministisches Chile
       aufbauen“, sagte die zukünftige Innenministerin Izkia Siches wenige Tage
       vor dem Regierungsantritt. Sie nahm gemeinsam mit anderen Ministerinnen und
       Tausenden Frauen am Protestmarsch am Weltfrauentag in der Hauptstadt
       Santiago teil.
       
       Frauenministerin Antonia Orellana wird eng mit Boric zusammenarbeiten. Alle
       Ministerien sollen mit Gender-Perspektive geführt werden, kündigte sie an.
       Als erste Maßnahme soll ein Gesetz für das Recht auf ein Leben ohne Gewalt
       vorgelegt werden. „Die Frauen und Mädchen in Chile können nicht mehr länger
       warten“, sagte Orellana am Dienstag.
       
       Weiteres Ziel sei die Integration von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die
       durch die Pandemie stark gesunken ist. Langfristig soll ein nationales
       Pflege- und Sorgesystem aufgebaut werden, um Frauen in der unbezahlten
       Sorgearbeit zu entlasten.
       
       ## Tiefgreifende Veränderungen des Wirtschaftsmodells
       
       „Eine feministische Regierung zu sein, bedeutet, unsere Beziehungen zu
       verändern und unsere Weltsicht, die zu viele Jahrhunderte lang von Männern
       dominiert wurde“, sagte Boric wenige Tage vor seinem Amtsantritt. Nicht nur
       im Hinblick auf Frauenrechte will der 36-Jährige Veränderungen anstoßen. Er
       will einen Sozialstaat aufbauen, der Grundrechte wie Bildung, Gesundheit
       und Renten absichert, die bisher in Chile wie private Konsumgüter behandelt
       werden und den Regeln des Marktes unterliegen.
       
       Das Budget für Kultur will Boric verdoppeln. Der Staat soll zudem
       Umweltschutz sowie den Zugang zu Wasser für alle Menschen garantieren.
       Chile leidet unter einer schweren Dürre – eine Folge des Klimawandels, die
       verschärft wird durch den hohen Wasserverbrauch der Agrarkonzerne, die
       Avocados, Trauben und Äpfel nach Europa, China und in die USA exportieren.
       
       Aber um das Regierungsprogramm umzusetzen, sind [2][tiefgreifende
       Veränderungen] im [3][Wirtschaftsmodell Chiles] notwendig, das momentan auf
       dem Export von Rohstoffen aus dem Bergbau wie Kupfer und Lithium sowie
       Agrar- und Forstwirtschaftsprodukten wie Obst und Zellulose basiert.
       
       Diese Wirtschaftssektoren sorgen für Umweltprobleme, Wassermangel und
       Landkonflikte mit Indigenen. Sie schaffen zudem nur wenige Arbeitsplätze
       und bereichern hauptsächlich Großkonzerne. Die sind es, die sich den
       Veränderungen vermutlich entgegenstellen werden.
       
       ## Hoffnung auf den Verfassungskonvent
       
       Chile hat mehr als 26 Freihandelsabkommen unterschrieben, die ein Problem
       für Boric darstellen können, da viele von ihnen festlegen, dass Konzerne
       den chilenischen Staat vor privaten Schiedsgerichten auf
       Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe verklagen können, wenn dieser
       durch politische Entscheidungen ihre Gewinne beeinträchtigt.
       
       Nicht nur die Freihandelsabkommen, auch die aktuell noch gültige Verfassung
       könnte den Veränderungen im Weg stehen. Ein Verfassungskonvent arbeitet
       derzeit ein neues [4][Grundgesetz] aus – eine Folge des sozialen Aufstands
       2019 und 2020. Der Konvent besteht mehrheitlich aus linken Kräften und
       sozialen Bewegungen. Die neue Verfassung würde die Regierung von Boric
       stärken. Aber zuerst muss sie in einem Referendum Ende des Jahres
       angenommen werden. Rechte und unternehmernahe Gruppen fordern die
       Ablehnung, damit die aktuelle Verfassung aus der Pinochet-Diktatur bestehen
       bleibt.
       
       Auf Widerstand wird Boric zudem im Parlament treffen, in dem seine
       Koalition Apruebo Dignidad, die aus der linken Frente Amplio und der
       Kommunistischen Partei besteht, keine Mehrheit hat. Um seinen Rückhalt zu
       vergrößern, hat der neue Präsident in sein Kabinett deshalb auch
       Politiker:innen aus der ehemaligen Concertación aufgenommen, der
       Mitte-links-Koalition, die Chile nach dem Ende der Diktatur fast
       durchgehend regiert hat.
       
       Eine erste große Herausforderung für Boric wird die geplante Steuerreform
       sein. Die ist notwendig, um das Staatsbudget zu vergrößern und so das
       soziale Sicherungssystem zu finanzieren. Chile ist eines der OECD-Länder
       mit der niedrigsten Steuerlast und der größten Einkommensungleichheit.
       
       ## Klare Abgrenzung vom Modell Venezuelas
       
       Als Finanzminister hat er den ehemaligen Zentralbankchef Mario Marcel
       ernannt, der zuvor bei der Weltbank und der OECD tätig war. Marcel selbst
       bezeichnet sich als „sozialdemokratisch“, Kritiker:innen warnen davor,
       dass er zur Achillesverse der Regierung werden könnte. Der ehemalige
       Präsident Piñera ernannte noch kurz vor seinem Abtritt eine neue
       Zentralbankchefin, die dem neoliberalen Thinktank Libertad y Desarollo
       nahesteht.
       
       Außenpolitisch grenzt Boric sich klar von Venezuela ab, dessen politisches
       Projekt er in einem BBC-Interview als „gescheitert“ bezeichnete.
       Stattdessen wolle er mit dem bolivianischen Präsidenten [5][Luis Arce]
       zusammenarbeiten, mit Gustavo Petro, falls dieser im Mai/Juni die
       [6][Präsidentschaftswahlen in Kolumbien] gewinnen sollte, und mit [7][Lula
       da Silva], falls dieser in Brasilien erneut zum Präsidenten gewählt wird.
       
       In einem Gespräch mit dem linken Expräsidenten von Uruguay, José Mujica, in
       einem uruguayischen Radioprogramm sagte Boric auf Nachfrage über die Lage
       in Venezuela und Nicaragua: „Ein unbeugsames Prinzip ist für mich die
       uneingeschränkte Verteidigung der Menschenrechte, da darf es keinen
       Doppelstandard geben.“ Auch zu Kuba äußerte er sich ähnlich kritisch.
       
       Expräsident Sebastián Piñera hingegen legt sein Amt nieder, ohne für die
       [8][Menschenrechtsverletzungen] durch Polizei und Militär während der
       Proteste 2019 und 2020 zur Verantwortung gezogen worden zu sein.
       
       11 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sophia Boddenberg
       
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