# taz.de -- Deutsche Reaktionen auf Putins Krieg: Etwas, das uns allen wichtig ist
       
       > Deutschland entdeckt den liberalen Pragmatismus. Uns eint der Wunsch,
       > Putin mit dem Überfall auf die Ukraine nicht durchkommen zu lassen.
       
 (IMG) Bild: Die deutsche Gesellschaft ist sich einig: Wir dürfen die Ukraine nicht allein lassen
       
       Der 27. Februar 2022 war einer der sehr wenigen Tage – in meinem Leben
       jedenfalls sind sie bisher nur etwa ein Dutzend Mal vorgekommen –, an dem
       ich mit meiner Regierung ganz und gar einverstanden und in meiner Stadt
       völlig am Platz war. Kalte Wintersonne. Möwen im porzellanblauen Himmel
       über Kreuzberg. Ich hatte mich mit Freunden am Neptunbrunnen für eine
       Demonstration gegen die [1][russische Invasion] verabredet. Die
       zurückliegende Woche hatte an jedem Tag Entwicklungen mit sich gebracht,
       die vor ein paar Wochen noch undenkbar gewesen waren.
       
       Es hatte am Montagabend begonnen, mit einem langen Fassungslosigkeitsmoment
       vor dem Fernseher. Wladimir Putin gab eine Geschichtsstunde. Er saß
       zurückgelehnt – fast ein bisschen flegelnd, jedenfalls sehr demonstrativ
       entspannt – vor Telefonen und Flaggen in einem seltsam
       hotelrezeptionsartigen Studiointerieur. Nach Art genervter Studienräte
       stöhnend und seufzend – als müsse er einer begriffsstutzigen Schulklasse
       einen einfachen Sachverhalt zum fünfzehnten Mal erklären – stellte er sich
       vor der gesamten Fernsehnation (und vor der ganzen Welt) in eine Reihe
       zwischen Lenin und Stalin.
       
       Longue durée: Putin machte eine historische Kontroverse vom September 1922
       zu realer Gegenwart. Er bezog als imaginärer Zeitgenosse Stellung in einer
       Auseinandersetzung zwischen Lenin (der sich damals gerade von seinem ersten
       Gehirnschlag erholte) und dem neu gewählten Generalsekretär Stalin. Es war
       die „Georgienkontroverse“ – die aber auch die Ukraine betraf. Schon damals
       ging es um die beiden heute noch prominentesten Abtrünnigen.
       
       Stalin und Lenin stritten im September 1922 um den künftigen Status der
       Republiken im Staatsgefüge der Sowjetunion, die sich im Dezember formell
       gründen sollte. Lenin setzte damals die grundsätzliche Gleichberechtigung
       aller Republiken durch – vor allem aber ihr Recht, die Union zu verlassen.
       Ohne formellen Rechtstitel, hatte Lenin damals geschrieben, sei „es ganz
       natürlich, dass sich die ‚Freiheit des Austritts aus der Union‘ mit der wir
       uns rechtfertigen, als ein wertloser Fetzen Papier herausstellen wird, der
       völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner Russlands vor der
       Invasion jenes echten Russen zu schützen, des großrussischen Chauvinisten,
       ja im Grunde Schurken und Gewalttäters, wie es der typische russische
       Bürokrat ist“. Putin dagegen sagte an jenem Montag im Februar 2022 – genau
       hundert Jahre später – dass er gewillt sei, den „Fehler“ Lenins jetzt zu
       korrigieren.
       
       Man stürze in der Ukraine doch so gern Leninstatuen, ätzte er: bitte schön,
       gern – aber dann doch richtig. Man werde der Ukraine jetzt mal zeigen, was
       authentischer Antileninismus sei. Ich saß vor dem Gerät, es war mir kalt in
       der Magengrube und ich verstand: so geschichtsbewusst und zugleich brutal,
       so ordinär, zynisch und zugleich auf einem so hohen geschichtlichen
       Reflexionsniveau hat zuletzt Stalin selber gesprochen – und seither
       eigentlich kein Politiker mehr.
       
       Putin, wurde mir klar, war bereit, das final vocabulary ernstzunehmen, das
       man ihm in seinen langen und lebensgeschichtlich entscheidenden
       sowjetischen Geheimdienstjahren beigebracht hatte.
       
       Blutig ernst, wie dann bald genug festzustellen war. Zwei Tage lang konnte
       man den phantasmagorischen Handschlag zwischen Putin und Stalin über das
       Jahrhundert hinweg noch für historische Wichtigtuerei halten. Aber als ich
       am Donnerstagmorgen zum Handy auf meinem Nachttisch griff, war auch diese
       Illusion hinfällig. Der Einmarsch war passiert. Die Entscheidung Lenins war
       mit Bomben, Panzern, Militärfahrzeugen, Feldlazaretten und Spezialeinheiten
       rückgängig gemacht worden. Putin hatte Stalin mit hundert Jahren Verspätung
       recht gegeben.
       
       ## Rendezvous mit der Geschichte des Totalitarismus
       
       Die gerade erst ins Amt gekommene deutsche Regierung und auch die
       Opposition hatten ein Rendezvous mit der Geschichte des Totalitarismus.
       Jahrzehnte von Halbwahrheiten und Wunschdenken waren seit diesem
       Donnerstagmorgen Makulatur. They meant business. Noch in der Nacht von
       Samstag auf Sonntag poppten Nachrichten auf dem Handy auf, die in Aussicht
       stellten, was ich nicht erwartet hatte: die „Ampel“ schien der Situation
       gewachsen. Nord Stream 2 war schon Geschichte. Jetzt wurde auch die
       „finanzielle Atombombe“ des Swift-Ausschlusses gezündet. Der angegriffenen
       Ukraine wurden mit Verweis auf Artikel 51 der UN-Charta Panzerfäuste und
       Stinger-Raketen geliefert. Und für Sonntagvormittag war der Bundestag
       einberufen.
       
       Es war tatsächlich ein Glücksgefühl, das mich am folgenden Morgen gegen 11
       vor meinem Fernsehgerät übermannte. Die Innenseite dieses Glücksmoments
       jedoch bestand nicht aus Kriegslüsternheit, sondern aus Philosophie. Aus
       pragmatist liberalism. Nicht, weil mich die Lieferung von Kriegsgerät in
       Spannungsgebiete und die Einrichtung eines Sondervermögens zur
       Waffenanschaffung per se glücklich macht, war ich glücklich. Im Gegenteil.
       Diese Lieferung, da sprach mir Robert Habeck eine halbe Stunde später aus
       dem Herzen, war vielmehr ein riskanter, mulmiger, im Wortsinn tief
       fragwürdiger Moment. Von dem trotzdem an diesem Morgen jede und jeder
       unwillkürlich wusste: Das ist jetzt richtig. Wir können so nicht
       weitermachen. Wir können die Ukraine nicht mit diesem Stalin-Impersonator
       allein lassen.
       
       An diesem Morgen war eine gemeinsame Entscheidung der sozialdemokratischen,
       ökologischen, liberalen und konservativen Fraktionen plötzlich wichtiger
       als unsere jeweiligen final vocabularies. Es war so, wie es uns der
       amerikanische Philosoph Richard Rorty in seinem Hauptwerk „Kontingenz,
       Ironie und Solidarität“ zuletzt im Revolutionsjahr 1989 vor Augen geführt
       hatte: finale Überzeugungen (Liberalismus, Konservatismus, Ökologismus,
       Sozialdemokratie) sind für Bürgerinnen und Bürger freier Gesellschaften
       nicht Selbstzweck, sondern „Werkzeuge verschiedener Art“, die „so wenig
       eine Synthese brauchen wie Malerpinsel und Brecheisen“.
       
       Wenn es wirklich etwas zu tun gibt, das uns allen wichtig ist – heute:
       jemanden nicht durchkommen zu lassen, der sich für die Begründung von
       Kriegen auf Joseph Wissarionowitsch Stalin beruft –, dann packen wir alle
       mit den Werkzeugen unserer jeweiligen final vocabularies gemeinsam an. Es
       war ein Moment des gelebten liberal pragmatism, und darin bestand mein
       Glücklichsein.
       
       Es setzte sich während des nun folgenden kalt-sonnigen Nachmittags zwischen
       Alexanderplatz und Siegessäule fort. Ich hatte so viele offensichtlich
       bewegte – von Politik bewegte – Menschen nicht mehr beieinander gesehen
       seit den Bonner Abrüstungsdemonstrationen meiner Mittzwanzigerjahre.
       
       Es war kaum Polizei zu sehen. Die Route schien mehr oder weniger
       improvisiert. Auf der Höhe des Brandenburger Tors kamen dem Zug ebenso
       viele Menschen entgegen wie gerade in die Gegenrichtung strömten.
       Rücksichtnahme, Freundlichkeit und allgemeines gegenseitiges Wohlwollen
       herrschte.
       
       ## Eine gemeinsame Aussage
       
       Die final vocabularies des revolutionären Blocks gingen neben den
       patriotischen Parolen und gelb-blauen Fahnen der ukrainischen Diaspora
       einher. Die große Stadt war plötzlich eine Polis. Sie hatte im freundlichen
       Nebeneinander – ohne dass sie irgend jemand dazu aufgefordert hätte oder
       auch nur dazu auffordern gekonnt hätte – [2][eine gemeinsame Aussage
       hervorgebracht, eine Art spontanes Konzeptkunstwerk] darüber, was in diesem
       Moment von allen zu wünschen war. Nämlich, dass die in ihren Panzern und
       der mit seinem Stalin aus dem Jahr 1922 nicht durchkommen sollten, aus
       welchen letzten Gründen auch immer das zu wünschen sein mochte.
       
       Berlin hatte die Länder zwischen Deutschland und Russland, wo ich so viele
       Jahre meines Lebens verbracht hatte, politisch entdeckt, und Deutschland,
       das war mein Gefühl und der Grund meines merkwürdigen Glücklichseins, den
       pragmatist liberalism.
       
       Hinter dem Brandenburger Tor beschlossen wir – hungrig, müde und
       unpolitisch – in Richtung Kreuzberg abzuschwenken. Auch die Seitenstraßen
       waren fast lückenlos angefüllt mit Menschenmassen, ukrainischen Fahnen,
       Parolen, Blumenkränzen, blaugelben Garderoben und Gesichtsbemalungen,
       selbst gebastelten Transparenten – vor allem aber mit jenem diffusen
       Aufgeregt- und Glücklichsein. Es schien plötzlich außer und in mir zugleich
       zu herrschen.
       
       Und als wir schließlich, durchgefroren wie wir waren, am Kanal in einem
       griechischen Restaurant saßen, ein Bier tranken und auf unser verspätetes
       Mittagessen warteten, wusste ich, dass die Transparente und
       Letztbegründungen, die sich auf der Demonstration plötzlich so einig
       gewesen waren wie die Fraktionen im Bundestag, in Zukunft so notwendig sein
       und zugleich so wenig eine Synthese brauchen würden wie Brecheisen und
       Malerpinsel. Die kommenden Aufgaben, dachte ich, sind größer, als wir uns
       jetzt vorstellen können, und so wenig vorhersehbar wie die Woche, die
       hinter uns liegt.
       
       3 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
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