# taz.de -- Marxistischer Studentenbund Spartakus: In einer abstrakten Welt
       
       > Unser Autor war beim Veteranentreffen des Marxistischen Studentenbund
       > Spartakus. Beim Ukrainekrieg plädierte die Mehrheit für „Kompromisse“.
       
 (IMG) Bild: Studentenkongress MSB Spartakus 1971 in Bonn
       
       „Die Vergangenheit ist ein fremdes Land“, schrieb der Schriftsteller L. P.
       Hartley mal; „dort gelten andere Regeln.“ Unter anderem spricht man eine
       Fremdsprache in den Ländern der Vergangenheit. Man spielt andere
       Sprachspiele dort. Es gelten andere Regeln des Redens.
       
       Vor ein paar Tagen, Ende Juni, im Altenberger Hof in Köln-Nippes, beim
       Halbhundertjahr-Veterantentreffen des MSB Spartakus, der
       Studentenorganisation der DKP – 1971 gegründet, 1990 aufgelöst –, hörte ich
       zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Fremdsprachen, die ich für so tot
       gehalten hatte wie das Altkirchenslawische oder das Lateinische. Mehr noch:
       Ich verstand die Fremdsprachen der Vergangenheit sofort und begann selbst,
       mich wieder in ihnen zu bewegen.
       
       Vielleicht, wurde mir an jenem Nachmittag klar, sind Sprachspiele nie ganz
       zu Ende gespielt. Von einem Moment auf den anderen, das war jedenfalls
       meine Erfahrung, nachdem ich mir an jenem Samstagnachmittag ein
       Namensschild auf die Hemdbrust geklebt hatte und mich unter den
       schätzungsweise 150 Angereisten umzusehen begann, war ich unwillkürlich
       wieder für dieselben Zwischentöne musikalisch wie 1974, dem Jahr meines
       Eintritts in den MSB Spartakus.
       
       Es ging damit los, dass ich nach einem gewissen Zögern dann sehr beherzt
       und geläufig gestandene Gewerkschaftsfunktionäre, Studiendirektorinnen,
       Chefredakteure, Germanistinnen und Agraringenieure, obwohl sie mir
       persönlich ganz unbekannt waren, mit Du anredete und von anderen der
       Menschen im Altenberger Hof (die mir so großelterlich vorkamen wie ich
       vermutlich ihnen) als „Genossen“ sprach.
       
       ## Vineta in Köln-Nippes
       
       Das Altwerden war uns allen übrigens nicht ganz schlecht bekommen. Wie aus
       mir war aus den Genossinnen und Genossen durchgehend „etwas geworden“.
       Anders als bei mir dagegen (und bei vielen Maoisten) war der Bruch der
       allermeisten Anwesenden mit den Sprachen der Vergangenheit weniger radikal
       gewesen.
       
       Auch wenn sie nicht mehr so dachten wie damals, hatten sie ihren früh
       eingeübten Sprachspiel-Akzent nie ganz ablegen müssen. Denn die Mehrzahl
       von ihnen war beruflich von einem „gewerkschaftlich orientierten“ Milieu
       zwischen SPD, DGB, Linkspartei und gewerkschaftlicher Bildungsarbeit
       aufgenommen worden, wo verwandte Dialekte gesprochen und gelebt werden.
       
       Und so stiegen, als am Spätnachmittag ein Gespräch aller über den
       russischen Angriff auf die Ukraine zustande kam, mit gleichsam
       naturgesetzlicher Geschwindigkeit die Gesellungsformen, Sitzordnungen,
       Rhetoriken und Geschäftsordnungstricks längst vergangener
       Plenumsdiskussionen und Vollversammlungen aus den Fluten der Zeit auf:
       Vineta in Köln-Nippes.
       
       Was nicht unbedingt am manifesten Inhalt der Wortmeldungen,
       Diskussionsbeiträge und Koreferate lag, die sich im Versammlungsraum, einer
       ausgebauten Scheune, jetzt entfalteten. Was dort zum [1][russischen
       Überfall auf Kiew und den Donbass] zu hören war, hätte man durchaus auch in
       einer Frankfurter oder süddeutschen Zeitung lesen können.
       
       Die Mehrheit plädierte für Verhandlungen, ukrainische Gebietsabtretungen,
       „Kompromisse“ – und natürlich für den all-time-classic des real
       existierenden Sozialismus seit altersher, den „Kampf für den Frieden“. Eine
       Minderheit aber war durchaus auch für die Lieferung wirksamer Waffen.
       
       ## Paralleluniversum zur Gegenwart
       
       Das Erstaunliche, fast Bizarre der Diskussion lag auf einer Metaebene, in
       den Formen und Formeln des hier plötzlich wiederaufgetauchten Sprechens.
       Das Entscheidende waren die antiquierten Regeln der längst vergangenen
       Sprachspiele, die tote Fremdsprache, die in einer Kölner Scheune plötzlich
       wieder so lebendig war, dass ich – wie der Held in manchen Romanen Stephen
       Kings – in Sekundenschnelle aus gewohnten Seinszuständen und
       Sprachspielanordnungen in ein Paralleluniversum aus dem Jahr 1974 und
       wieder zurück in die Gegenwart kippte.
       
       Es zeigte sich zum Beispiel das Sprachspiel einer phantasmagorischen
       Zuständigkeit. Ein „Standpunkt“, hieß es, müsse „erarbeitet“ und
       „eingenommen“ werden. Warum eigentlich? Zu Agitationszwecken, stellte sich
       heraus: Man müsse dies oder jenes den Ukrainern „klarmachen“.
       
       Eine Genossin versuchte, Empirie zur Geltung zubringen. Die Dinge lägen
       doch denkbar einfach: Die Russen hätten angegriffen und müssten vertrieben
       werden. Doch das auf der Hand Liegende erbleichte im Licht aus gnostischen
       Hinterwelten. Die hier jetzt wieder vorherrschenden Sprachen tauchten die
       Welt in fahles Gespensterlicht. Es war die Stunde der Abstraktion, der alt
       gewordenen Chefideologen, der langen, gewundenen Referate über
       aggressiv-provokatorische Planungen „des Westens“, der dann immer öfter
       „US-Imperialismus“ hieß.
       
       Gegen diese lang bewährte Hauptfeinddarstellung hatte der Hinweis auf die
       imperialen Ansprüche der russischen Gegenseite – die doch oft und offen
       genug geäußert worden sind und werden – keine diskursive Überlebenschance.
       Aber auch nicht Schilderungen der lebendigen, kreativen,
       zukunftsverliebten, westlich gesinnten Gesellschaften oder zumindest
       Gesellschaftssektoren Polens, der Slowakei, Georgiens oder eben der Ukraine
       – deren Lebensrecht jene östlichen Planer und Entscheider seit Langem offen
       bestreiten.
       
       ## Blinde Empiristen
       
       Wer über die Länder zwischen Deutschland und Russland aus eigener
       Anschauung berichtete, den – so wurde betont – konnte man menschlich zwar
       verstehen. Verfallenheit an die Welt der Erscheinungen machte solche
       Empiristen aber blind für das gesellschaftliche Wesen. Sie waren an sich,
       aber nicht für sich. [2][Wie Lenin zufolge das Proletariat unfähig ist],
       die geschichtlichen Gesetze zu verstehen (weshalb die Kommunisten sie ihnen
       erklären müssen), so stellte sich jetzt die Ukraine dar: durch ihre eigene
       Lage verblendet. Und so weiter.
       
       Je länger gesprochen wurde, desto abstrakter wurde die Welt. Ihr Bild war
       jetzt übersichtlich, aber alle Farbe war aus ihr herausgeflossen. Michael
       Wuliger (einst MSB Marburg, dann Jüdische Allgemeine) lieferte als einer
       aus der Fraktion, die den Zungenschlag der Vergangenheit konsequent
       abgelegt hat, ein unerbetenes Schlusswort. Er verglich die
       wiederaufgetauchten Sprachen des Jahres 1974 mit denen der
       Zwischenkriegszeit. Gerade so wie über die Ukraine heute und hier, sagte
       er, habe man vor 1939 über den „Saisonstaat“ Polen gesprochen, bevor
       Deutschland ihn überfiel.
       
       Kaum jemand schien die fundamentale Ohrfeige nicht nur für den Saal und die
       Anwesenden gehört zu haben, die in dieser Wortmeldung lag. Dann hatte uns
       die Gegenwart wieder. Abendessen. Es bestand die Wahl zwischen Vegan und
       Hühnchen, Grauburgunder und Cabernet.
       
       Während ich danach mit drei nach Agitatorenart auf mich einredenden –
       übrigens grundsympathischen – Genossen im Sommerabend saß und Wein trank,
       wurde mir klar, dass Sprachspiele nicht durch „Argumente“ oder den Verweis
       auf „Fakten“ beendet werden. Sobald man glaubt, einen Punkt erhärtet zu
       haben, wird er spätestens durch das diskursive Manöver, dies oder jenes
       (die Massaker in Butscha und Irpin zum Beispiel), zu Fake News zu erklären,
       wieder so weich wie ein nasses Brötchen. Es kam auf Haltungen an.
       
       ## „Warum sprichst du so?“
       
       Politische Diskussionen, dachte ich und sah ins Laub eines Kastanienbaums
       in der Dämmerung hinauf, sind ein Festival der Haltungen. Und ich erinnerte
       mich an eine Stelle in Richard Rortys philosophischem Abenteuerroman
       „Kontingenz, Ironie und Solidarität“, wo es heißt, die „liberale
       Ironikerin“ frage ihre Kontrahenten nicht „Woher weißt du das?“, sondern
       „Warum sprichst du so?“.
       
       Dabei liegt die Antwort auf der Hand: Wir – Kommunisten, Liberale,
       Ukraineunterstützer, Friedenskämpfer, you name it – sprechen, wie wir
       sprechen, weil wir die Sorte von Mensch sein wollen, für die wir uns
       entschieden haben. Wir sprechen so verschiedene Dialekte, weil wir
       unterschiedliche Menschen aus uns selber machen wollen.
       
       Als Mike Wuliger und ich uns im Altenberger Hof verabschiedeten, um im
       Hotel noch einen kleinen Schlummertrunk zu nehmen, spielten wir die aus
       unseren Gegenwarten gewohnten Sprachspiele so neu und selbstbewusst wie
       liberale Ironiker, die zwar „radikale und unaufhörliche Zweifel an dem
       abschließenden Vokabular hegen, das sie gerade benutzen“, wie Rorty
       schreibt, aber mit solchen Zweifeln, immer wieder neu, umgehen können.
       
       Mit seiner Zeit beim MSB Spartakus hat sich Stephan Wackwitz eingehend etwa
       in seinem Buch „Neue Menschen“ auseinandergesetzt (Fischer-Verlag).
       
       4 Jul 2022
       
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