# taz.de -- Überlastetes Gesundheitssystem: Eine Nacht in der Notaufnahme
       
       > Gesundheitsminister Lauterbach änderte seinen Kurs in einer Talkshow.
       > Hätte er den Abend besser mit unserem Kolumnisten in der Notaufnahme
       > verbracht.
       
 (IMG) Bild: Erste Hilfe dauert zu lange in der Notaufnahme
       
       Hereinspaziert, [1][Herr Lauterbach], hereinspaziert! Willkommen zu einer
       neuen Ausgabe der Horrorshow: nachts in der Notaufnahme.
       
       In der vergangenen Woche hat der Gesundheitsminister vorgeschlagen, dass
       Coronakranke sich nicht mehr isolieren müssen. Und auch wenn er die
       Entscheidung abends im Fernsehstudio revidierte, bleibt die Begründung
       interessant: Lauterbach sagte, die Gesundheitsämter seien überlastet. Das
       ist sicherlich richtig. Aber ich hätte ihn gern mitgenommen in ein Berliner
       Krankenhaus, in dem ich vor Kurzem eine Nacht verbringen durfte.
       
       Dort stehen, sitzen, liegen auf dem Flur an diesem Donnerstagabend 30, 40
       Kinder und ihre Eltern. Und, das muss wohl betont werden, niemand ist zum
       Spaß hier. Da ist die 6-Jährige mit 40 Grad Fieber, deren Vater den Gang
       entlang tigert, da ist der Junge mit der Platzwunde am Kopf, der erzählt,
       dass der Angreifer sein Handy geklaut habe, da ist das wimmernde Mädchen
       auf der Liege, der Junge mit dem gebrochenen Fuß. Und da ist meine Tochter,
       deren Füße so stark geschwollen sind, dass sie vor Schmerz nicht auftreten
       kann.
       
       Schon an der Anmeldung ist die Schlange lang. Bis man eine Krankenpflegerin
       zu Gesicht bekommt, dauert es eine Stunde. Und die untersucht nicht,
       sondern sortiert das Elend, entscheidet, wer lange warten muss und wer noch
       länger. Es ist eine Notaufnahme für Kinder, ein Krankenhaus in Berlin,
       Hauptstadt der größten Wirtschaft Europas. Hier sind heute Nacht ein
       Kinderarzt und ein Orthopäde im Dienst. Und wenn ein Notfall mit Blaulicht
       kommt und operiert werden muss, geht der natürlich vor.
       
       ## Solidarität der Elenden
       
       Und das ist das einzige Schöne an diesem Abend, die Solidarität. Obwohl
       jeder ein wimmerndes Kind im Arm hat, drängelt niemand vor, werden Babys
       vorgelassen, bleibt die unsichtbare Warteschlange intakt, auch wenn die
       Elenden kreuz und quer in den Ecken lungern.
       
       Apropos Solidarität: 440.000.000.000 Euro kostete das Gesundheitssystem im
       Jahr 2020, mehr als ein Zehntel der deutschen Wirtschaftsleistung. In
       diesem Krankenhaus scheint wenig davon anzukommen: Die Kacheln, die
       Metallschränke, alles sieht aus wie und ist wohl tatsächlich aus den 80er
       Jahren.
       
       Der Zeiger der Wanduhr rückt voran, der Snackautomat surrt, Kinder wimmern.
       Zeit, nachzudenken. Ich denke an die Gehaltsabrechnung, an den Betrag, der
       jeden Monat für die Krankenversicherung abgeht. Ich denke an zwei
       Wortungetüme des Gesundheitswesens: an „Versicherungspflichtgrenze“ und
       „Beitragsbemessungsgrenze“. Beide Wörter sind kompliziert, ihre Bedeutung
       ist einfach: Wenn du reich bist, musst du nicht mitmachen bei unserer
       Solidarität. Ich denke an den niedergelassenen Orthopäden in der
       Verwandtschaft, der gerade irgendwo auf der Welt sein Handicap verbessert
       und dreimal so viel verdient wie sein Kollege in der Notaufnahme. Ich denke
       an die Rendite der Krankenhauskonzerne.
       
       Nach vier Stunden schaut der Orthopäde auf den Fuß meiner Tochter, sagt
       nach einer Sekunde, dass das nichts Orthopädisches sei. Auf den Kinderarzt
       zu warten, sagt er, würde nochmal einige Stunden dauern. Wir geben auf. Am
       nächsten Tag sagt der Kinderarzt, dass er so etwas noch nie gesehen habe,
       könnte gefährlich sein, auf Nierenversagen hindeuten. Er macht
       Untersuchungen, sagt, worauf wir achten sollten. Und wenn es schlimmer
       wird?
       
       Sollen wir wieder in die Notaufnahme.
       
       12 Apr 2022
       
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