# taz.de -- Billig mit dem Zug nach Sylt: Hurra, es ist Klassenfahrt
       
       > Sylt hat wegen des Neun-Euro-Tickets Angst vor dem Ansturm des Pöbels.
       > Das gab's schon öfter – unser Autor war dabei. Und stellt nun die
       > Klassenfrage.
       
 (IMG) Bild: Sie schreckten die Einheimischen mit Frisuren und Balzgesängen ab: unser Autor auf Sylt 2005
       
       Wir schreiben das Jahr 1995, in Bosnien ist Krieg, und im [1][Spiegel
       erscheint ein Artikel] mit der Überschrift: „Wie in Sarajevo“. Worum geht
       es? Nicht um eine Stadt unter Belagerung, sondern um eine
       [2][Urlaubsinsel], die von einer Plage heimgesucht wird: dem deutschen
       Proll. „Er drängt in Rotten von bis zu fünf Mann auf einem 30-Mark-Ticket
       am Wochenende aus den Nahverkehrszügen der Deutschen Bahn, die in
       Westerland ankommen.“
       
       Wir schreiben das Jahr 2005, und eine Gruppe junger Männer fährt mit dem
       Zug von Hamburg nach Sylt, zum ersten Mal in ihrem Leben. Einer schreibt
       heute eine Kolumne in der taz. Die jungen Männer brauchen nicht viel für
       ihr kleines Glück: in der einen Hand eine Kiste Bier, in der anderen einen
       Schlafsack, um sich darin in einen Strandkorb zu kauern. Nicht
       auszuschließen, dass ihre Balzgesänge und Frisuren die Insulaner
       abschreckten.
       
       Wir schreiben das Jahr 2022, in der Ukraine ist Krieg, [3][und wieder hat
       Sylt Angst], überrannt zu werden. Denn im Juni beginnt ein großes
       Experiment. Dann können alle den Sommer über [4][für neun Euro pro Monat]
       quer durch Deutschland fahren, mit allen Zügen des Nahverkehrs.
       
       Nun könnte man an dieser Stelle ein paar angestaubte Syltklischees
       hervorholen, aber die braucht es gar nicht. Denn das Ziel der Reise ist
       eigentlich egal. Denn wo kommen wir denn hin, wenn sich einfach jede und
       jeder frei bewegen könnte? Vermutlich hätte es keinen weiteren Beweis
       gebraucht, hier ist er trotzdem: Mobilität ist eine Klassenfrage.
       
       ## Eingestellt wegen des Erfolgs
       
       Nirgendwo zeigt sich das so klar wie bei den Preisen für den Zugverkehr,
       speziell: beim Wochenendticket. Für die Nachgeborenen: Das
       Schönes-Wochenende-Ticket war eine Art Vorgänger des Neun-Euro-Tickets. Für
       einen läppischen Betrag konnten damit fünf Menschen zusammen durchs Land
       fahren. Der Ansturm war groß. Erst wurde es strenger reguliert und
       verteuert, 2019 wurde es eingestellt. Nicht weil es niemand nutzte. Sondern
       weil es zu erfolgreich war.
       
       Erschwingliche Mobilität für alle, ohne dafür ein (deutsches) Auto kaufen
       zu müssen, das konnte keiner wollen. Nicht die Bahn, die teure Tickets
       verkaufen wollte. Nicht die Bundesregierung, die die Interessen der
       Automobilindustrie verteidigen muss.
       
       Beschlossen wurde das Neun-Euro-Ticket im Entlastungspaket nach Beginn des
       Ukrainekriegs. Aber was als Spiegelstrich daherkommt, ist etwas Großes, ein
       Blick in eine andere Zukunft. Es ist ein seltenes Beispiel, bei dem die
       Fortschrittskoalition tatsächlich etwas wagt.
       
       Windräder bauen, um den eigenen Lebensstil aufrechtzuerhalten, ist zwar
       notwendig, aber nicht visionär. Das Neun-Euro-Ticket dagegen stellt die
       große Frage: Wie wollen wir leben? Wie wollen wir uns bewegen?
       
       Gut möglich, dass das Experiment nach hinten losgeht: Dass nicht ein
       Pendler vom Auto in den Zug umsteigt, weil nicht nur Bahnfahren, sondern
       gleichzeitig auch das Benzin subventioniert wird. Dass die Züge noch voller
       sind, weil Waggons fehlen.
       
       Sollte es nun wieder so kommen, wie beim Wochenendticket damals, bedeutet
       das nicht, dass das Experiment gescheitert ist, dass alle Träumer aufwachen
       und sich wieder in den guten, alten Stau einreihen sollen. Nein, das
       Experiment beweist, dass nicht nur eine andere Welt möglich ist, das ist ja
       eh klar. Sondern sogar eine andere deutsche Verkehrspolitik.
       
       7 May 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.spiegel.de/politik/wie-in-sarajevo-a-b7eb12ab-0002-0001-0000-000009209237
 (DIR) [2] /Klima-wandelt-sich-Gesellschaft-auch/!5828920
 (DIR) [3] /Debatte-um-Neun-Euro-Ticket/!5847834
 (DIR) [4] /Vor-dem-Start-des-9-Euro-Tickets/!5852713
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kersten Augustin
       
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