# taz.de -- Die Wahrheit: Warme vegane Gemüseschrippe
       
       > Ein Gyros-Stand am Neuköllner Maybachufer in Berlin. Es gibt schwarzen
       > Schimmel. Oder weißen. Jedenfalls sprachlich Schiefes.
       
       Auf dem Flohmarkt am Neuköllner Maybachufer in Berlin, der „Nowkoelln
       Flowmarkt“ heißt, weil die präferierte Klientel aus jungen Edelmenschen
       beim Wort „Flohmarkt“ zu sehr an überteuerten alten Kram, den Geruch von
       Mottenkugeln und alte weiße Menschen denkt und deshalb angeekelt zu Hause
       bleibt, drängen sich junge weiße Menschen um nach Mottenkugeln stinkendem,
       überteuertem alten Kram.
       
       Eine lange Schlange hat sich vor einem Imbiss mit „Vegan Gyros“ gebildet.
       Vegan Gyros aber gibt es nicht. Das ist ein schwarzer Schimmel und
       obendrein eine dummdreiste Aneignung. Zwar würden wir ohne die sensible
       Einbindung fremder Einflüsse zumindest in Musik und Gastronomie wie vor
       zehntausend Jahren nur rohen Sauerampfer fressend rhythmisch gegen die
       Baumstämme trommeln. In dem Moment aber, wo Maß- und Respektlosigkeit dem
       Täter die Hand führt, verstehe ich die Gegner der kulturellen Aneignung
       absolut.
       
       Vegan Gyros ist eine Lüge und ein Verbrechen. Genauso gut könnte man die
       Akropolis abreißen und an ihrer Stelle eine „Saturn“-Filiale errichten –
       das käme ungefähr aufs selbe raus. Wäre ich der Geschäftsführer oder CEFlow
       von dem Flowmarkt (aber of courseamente wäre ich für alle wegen der flachen
       Hierarchien bloß „Der Uli“, für sämtliche Mitarbeiterinnen rund um die Uhr
       ansprechbar, trüge eine Vintage-Sonnenbrille für 263 Euro, und wäre nur so
       lange quasi kommissarisch im Amt, bis endlich eine junge Frau den Job
       übernimmt), würde ich diesem Halbnazi im Geiste eine irgendwie flott
       klingen sollende Mail schreiben: „Hey, sorry, dude, aber white veganism in
       Tateinheit mit cultural appropriation geht bei uns gar nicht. Reflektier
       doch mal, wie verletzend das für Griechen ist. Du kannst total gerne
       wiederkommen, wenn du Biofleisch besorgt hast. Liebe Grüße, Der Uli.
       
       P.S.: Aber schneid dir vorher mal die Haare. Die Leute haben die sonst beim
       Essen immer zwischen den Zähnen.“
       
       Dabei verstehe ich durchaus die Idee hinter dem Konzept, sich vegan zu
       ernähren. Auch ich könnte mir ruhig mal eine fette Scheibe davon
       abschneiden, falls der Satz an dieser Stelle überhaupt okay ist. Aber nennt
       das Zeug dann doch bitte nicht Gyros. Es ist keiner. „Vyros“ wäre
       vielleicht ein Kompromiss, der ja gerade auch in aller Munde ist. Und was
       spräche dagegen, das Produkt danach zu nennen, was es ist: warme
       Gemüseschrippe? Aber bestimmt klingt das wieder nicht sexy genug, sondern
       eher nach alten weißen Mottenkugeln.
       
       Frech, aber auch irgendwie fragil grinst der inkorrekte cis Dude aus seiner
       Vyrosbude. Noch ahnt er weder von meiner Mail noch dem Shitstorm, der sich
       über ihm zusammenbraut. Doch mit seinem postkolonialistischen Bubenstück
       hat dieser braune Wolf im weißen Ökoschafspelz der veganen Sache einen
       echten Bärendienst erwiesen. Dabei wollte er doch sicher nur das beste: für
       die Umwelt, die Kundschaft und vor allem für sich selbst.
       
       26 Apr 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uli Hannemann
       
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