# taz.de -- Wahlen im Libanon: Die radikalen Gegner der Hisbollah
       
       > Den Lebanese Forces werden bei den Wahlen im Libanon gute Chancen
       > eingeräumt – einer rechten christlichen Partei, die im Bürgerkrieg
       > gewütet hat.
       
 (IMG) Bild: Assaad Chaftari während des Libanesischen Bürgerkriegs, 1982
       
       Assaad Chaftari sitzt am Rande eines Konferenzraums in einem
       hochgeschossenen Hotel, [1][zwölf Kilometer nördlich von Beirut]. Mit der
       flachen Hand fährt er sich über den kahlen Kopf, seine Fingerspitzen
       trommeln auf den Tisch oder aneinander, ganz ruhig wirkt er nie. Immer
       wieder blickt er zur Tür und in die Gesichter der übrigen Gäste. Ein
       wirklich junges ist nicht darunter. „Mir wurde gesagt, es kämen Menschen
       jeden Alters“, sagt er.
       
       Die Veranstalter:innen beruhigen ihn, sagen, seine Rede werde ja über
       Facebook gestreamt. Eingeladen wurde Chaftari vom Lebanese Development
       Network, gekommen sind Vertreter:innen anderer NGOs und Initiativen
       – er soll hier über seine Vergangenheit sprechen, über das Töten und wie er
       es hinter sich gelassen hat. Eigentlich hatte er gehofft, an diesem warmen
       und sonnigen Morgen einen Haufen junger Leute treffen und ihnen seine
       Geschichte erzählen zu können.
       
       Die Geschichte, die er schon so viele Male erzählt hat, dass jedes Wort
       sitzt wie maßgeschneidert. Wie er aufwuchs in einem christlichen Viertel
       Beiruts, mit drei, vier muslimischen Mitschülern, die er genauso liebte,
       wie er den Rest der Muslime verachtete. Wie er im Alter von 20 Jahren
       [2][den Ausbruch des Libanesischen Bürgerkriegs] erlebte, im April 1975.
       Sich bedroht fühlte von den militanten Palästinensern, die, wie er es
       damals sah, in sein Land einfielen, um Angriffe auf Israel verüben und den
       Libanon islamisieren zu können. Wie er sich einer christlichen Miliz
       anschloss, die es sich zum Ziel erklärt hatte, den Libanon zu befreien,
       mindestens von Palästinensern und Syrern, bestenfalls von allen Muslimen,
       denen es weniger um den Libanon als um den Islam ging.
       
       Wie er während des Kriegs in der Miliz bis ganz nach oben aufsteigt und als
       stellvertretender Chef ihres Geheimdienstes Bombenanschläge in Auftrag
       gibt. Dass Menschen sterben und verschwinden auf sein Geheiß und er sich
       bei alldem im Namen der Verteidigung der Christ:innen im Recht fühlt.
       Chaftari erzählt schonungslos, seinen Zuhörer:innen und sich selbst
       gegenüber. Es ist immer auch ein bisschen ihre Geschichte, die sie diesen
       15 Jahre dauernden Bürgerkrieg erlebt haben, auch wenn sie natürlich nicht
       so weit gegangen sind wie Chaftari. „An was immer Schreckliches Sie jetzt
       denken“, sagt er und lässt der Vorstellungskraft der anderen Zeit, sich
       ihren Weg zu bahnen wie Wasser durch Kieselbänke, „ich habe es getan“.
       
       Die Gruppe, der sich Chaftari anschließt, heißt Lebanese Forces (Arabisch:
       al-Quwwāt al-Libnānīyah). Sie gelten als ultrarechts, nationalistisch und
       religiös. Eng verbunden sind sie mit der katholischen Kirche, sie sind
       Partner der Europäischen Volkspartei (EVP, der auch die CDU und CSU
       angehören, und kooperieren in Beirut mit der CDU-nahen
       Konrad-Adenauer-Stiftung. Die schreibt dazu auf Nachfrage: „Die
       Parteienzusammenarbeit gehört zu den Kernaufgaben der politischen
       Stiftungen im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit und unter
       Berücksichtigung eines Multiparteienansatzes.“
       
       Bei den [3][Parlamentswahlen an diesem Wochenende] rechnen die Lebanese
       Forces mit einem guten Ergebnis. Sie veranstalteten die mit Abstand größte
       Wahlkampagne aller Parteien mit Plakaten im ganzen Land. Von keiner Partei
       sah man mehr und meistens dasselbe: eine Reihe mittelalter Männer und den
       Spruch „We want and we can do it“.
       
       Der Chef der Lebanese Forces, Samir Geagea, hat bis heute den Ruf als
       brutalster Kriegsherr des Bürgerkriegs, doch ist er auch der Einzige, der
       anschließend im Gefängnis saß. Heute stünde keine Partei im Libanon weiter
       rechts, sagen politische Beobachter:innen. Doch die Lebanese Forces
       geben sich zunehmend moderat, um mehr Unterstützer:innen in der
       christlichen Mitte zu gewinnen. Und das funktioniert. Denn seit einiger
       Zeit suchen diese Christ:innen und auch viele Sunnit:innen nach einer
       neuen politischen Heimat. Die bislang größte christliche Partei um
       Staatspräsident Michel Aoun verliert an Zustimmung, und viele
       Sunnit:innen fühlen sich orientierungslos, nachdem ihr traditioneller
       Führer und Ex-Ministerpräsident Saad Hariri im Januar bekanntgegeben hat,
       sich aus der Politik zurückzuziehen.
       
       Die Lebanese Forces versuchen, sie alle mit einem starken
       Anti-Hisbollah-Kurs zu vereinen, inszenieren sich als ihr letzter starker
       Gegenspieler. Samir Geagea als den Einzigen, der Hisbollah-Chef Hassan
       Nasrallah noch die Stirn bieten kann. In einigen Gegenden kooperieren die
       Lebanese Forces sogar mit unabhängigen sunnitischen Kandidaten auf
       gemeinsamen Listen. Wie erfolgreich das sein wird, ist ungewiss, denn bei
       vielen muslimischen Wähler:innen hat Geagea aufgrund seiner brutalen
       Vergangenheit im Krieg keinen guten Stand.
       
       Wer sind diese Lebanese Forces heute? Wie viel ist übrig von ihrer
       rechtsextremen Essenz, was glaubwürdig von ihrem aktuellen moderaten
       Auftreten? Und was bedeutet das für den Libanon?
       
       Ursprünglich gründen sich die Lebanese Forces als Miliz, als militanter Arm
       der Partei Kataeb. Deren Gründer, Pierre Gemayel, reist 1936 zu den
       Olympischen Spielen nach Berlin, ist dort fasziniert von der Hitlerjugend,
       ihrer Disziplin. Nach seiner Rückkehr gründet er eine ebensolche
       rechtsgerichtete Jugendbewegung, aus der die Kataeb hervorgeht.
       
       Während des Bürgerkriegs entscheidet Pierres Sohn, Bachir Gemayel, die
       zahlreichen christlichen Milizen zu einen. So entstehen die Lebanese
       Forces. Ihnen und der Kataeb werden im Laufe des Kriegs schwerste
       Verbrechen zur Last gelegt, darunter das Massaker in den palästinensischen
       Flüchtlingscamps Sabra und Schatila 1982, bei dem Hunderte Frauen, Kinder
       und Alte abgeschlachtet werden. Doch im Libanon werden diese Verbrechen nie
       aufgearbeitet. Als der Bürgerkrieg 1989 endet, wird auch entschieden, dass
       alle Milizen zu regulären Parteien umgewandelt werden. Kataeb und Lebanese
       Forces lösen sich voneinander und treten fortan als getrennte Parteien auf.
       
       Die Lebanese Forces erleben nach dem Krieg die schwierigste Phase ihrer
       Geschichte. Von vielen werden sie für ihre Verbrechen im Bürgerkrieg
       gehasst. Auch auf politischer Ebene versuchen führende prosyrische Kräfte,
       die Partei loszuwerden. Manche ihrer Mitglieder werden ohne Prozess ins
       Gefängnis geworfen oder direkt ermordet. Als Einziger von allen ehemaligen
       Kriegsherren wandert Samir Geagea, seit Ende der 1980er Jahre Anführer der
       Lebanese Forces, 1994 ins Gefängnis. Elf Jahre harrt er in einer, wie es
       heißt, fensterlosen Zelle aus, 2005 kommt er frei. Für seine
       Unterstützer:innen rückt ihn das in die Nähe von Gott. Es macht aus
       ihm einen Märtyrer, den Einzigen, der sich nie den Syrern unterwarf, die
       den Libanon noch bis 2005 besetzten. Ehrfürchtig nennen sie ihn „Dr.
       Geagea“, weil er sechs Semester Medizin studierte, bevor der Krieg begann.
       
       Assaad Chaftari, einst enger Kollege von Geagea, hat ihn noch einmal
       besucht, als dieser aus dem Gefängnis entlassen wurde, später hat er ihm
       zum Tod seiner Eltern kondoliert. „Mehr gibt es nicht mehr zu sagen.“ In
       dem Hotel nördlich von Beirut erzählt Chaftari auch, wie er schließlich
       einen Bischof trifft und mit der Miliz bricht. Seine Verbrechen holen ihn
       ein, mit ihnen zu leben wird zur Qual. Aus „den Muslimen“ werden Ahmads,
       Mahmuds und Mariams mit Geschichte und Gesicht. „Jetzt habe ich in den
       Spiegel geguckt und dort das Biest gesehen.“ Chaftari sagt, dass er nicht
       wusste, wie es weitergehen soll. „Ich hätte mich umbringen können, und ich
       habe mehr als einmal darüber nachgedacht.“
       
       Stattdessen gründet er mit anderen eine Gruppe, die Fighters For Peace,
       bestehend aus ehemaligen Bürgerkriegskämpfern, christlichen, muslimischen,
       drusischen. Sie halten Trainings und Workshops mit Jugendlichen ab, sie
       reden in Schulen und auf Veranstaltungen. Um den jungen Erwachsenen, von
       denen viele jetzt zum ersten Mal wählen, zu vermitteln: Macht nicht die
       gleichen Fehler wie wir damals. Lasst euch nicht von den politischen
       Führern instrumentalisieren, lasst euch nicht gegeneinander aufhetzen.
       
       Eine schwierige Aufgabe, denn die libanesische Gesellschaft lebt auch 30
       Jahre nach Ende des Bürgerkriegs in weiten Teilen mehr neben- als
       miteinander. Die christlichen und muslimischen Viertel Beiruts existieren
       noch immer, bis heute Realität sind auch der schiitische Süden, der
       christliche Küstenstreifen gen Norden, das sunnitische Tripoli, die Drusen
       in den Bergen vom Distrikt Chouf. Und so üben auch die unterschiedlichen
       politischen Gruppen im Libanon ihren Einfluss aus.
       
       Der Libanon blickt auf leidvolle zwei Jahre zurück, [4][erschüttert von der
       schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise] seiner Geschichte und einer
       [5][Explosion im Hafen von Beirut], bei der am 4. August 2020 mehr als 200
       Menschen sterben und Tausende verletzt werden.
       
       Diese Parlamentswahlen sind die ersten, die inmitten der Krise stattfinden
       und [6][nachdem im Herbst 2019 Hunderttausende Menschen auf die Straße
       gingen] und für eine Abschaffung des Systems aus Klientelismus und
       Korruption demonstrierten. Es sind die ersten, die nach der Katastrophe vom
       Hafen stattfinden, die eine ganze Stadt traumatisierte.
       
       Nie traten mehr oppositionelle Gruppen an, nie mehr unabhängige
       Kandidat:innen. Doch das Wahlsystem im Libanon ist kompliziert, und die
       alte politische Klasse verfügt über enorme Ressourcen. Einige der
       Oppositionsgruppen kooperieren deshalb in gemeinsamen Listen mit einer der
       Altparteien oder mit wohlhabenden Geschäftsleuten, für viele andere machte
       sie das wiederum als Opposition unglaubwürdig.
       
       So franste die Opposition an vielen Stellen aus. Die Libanes:innen
       rechnen mit keinen großen Veränderungen, und doch: Es ist die Wahl, mit der
       ein Wandel beginnen kann und muss. Weil den meisten auch klar ist, dass es
       so wie bisher nicht weitergeht. Knapp 80 Prozent der Libanes:innen
       leben unterhalb der Armutsgrenze, die Währung hat 90 Prozent ihres Werts
       verloren. Viele Menschen wollen einen echten Staat mit funktionierenden
       Institutionen und einer unabhängigen Justiz.
       
       21 Monate nach der Explosion im Hafen sind keine Verantwortlichen gefunden.
       Die Hisbollah sabotiert die Aufklärungsarbeit von Richtern, die sie zum
       Teil sogar selbst in die Spur gebracht hat. Mitte Oktober 2021 ruft sie zu
       Protesten gegen den aktuellen Untersuchungsrichter Tarek Bitar auf. Was
       dann passiert, ist auch sieben Monate später nicht vollends geklärt. Doch
       es ist ein Auslöser, den die Lebanese Forces erfolgreich für ihre
       Inszenierung als Beschützer der Christ:innen nutzen konnte und wieder
       stark machte.
       
       Vom Justizpalast aus machen sich Unterstützer von Hisbollah und Amal-Partei
       randalierend auf den Weg in ein christliches Viertel, wo sie auf bewaffnete
       Kämpfer treffen. Auf Hausdächern postierte Scharfschützen schießen in die
       Menge. Auch die Armee greift ein. Am Ende sind sieben Menschen tot,
       darunter Unterstützer von Hisbollah und Amal und eine junge Frau, die auf
       der Suche nach ihren Kindern aus dem Fenster schaute.
       
       Viele machen im Anschluss Hisbollah und Amal für die schlimmsten
       Ausschreitungen seit 2008 verantwortlich. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah
       wiederum bezichtigt Samir Geagea, seine Leute auf den Hausdächern postiert
       zu haben, um Demonstranten der Hisbollah zu eliminieren. Geagea wird im
       Zuge der folgenden Ermittlungen zu einer richterlichen Anhörung vorgeladen,
       der er mit der Begründung fernbleibt, er komme nur, wenn auch Nasrallah
       erscheine. Eine rhetorische Forderung, denn Nasrallah lebt auf der Flucht
       vor den Israelis seit Jahren im Untergrund.
       
       In den Bergen über Beirut sitzt Assaad Chaftari in seinem Wohnzimmer, so
       vollgestopft mit buntem Nippes, dass es aussieht wie ein farbenschweres
       Aquarell, das an den Rändern überläuft. Und wieder wandern seine Finger
       immerzu über Kopf und Gesicht, die Tischkante entlang, die Sofalehne. Was
       genau an jenem Oktobertag in Beirut passiert ist, weiß auch er nicht. Aber
       er glaubt: Ob die Lebanese Forces nun absichtlich oder zufällig beteiligt
       waren, der Partei um Samir Geagea hat es genützt. So konnte sie sich wieder
       zur letzten Verteidigerin der bedrohten Christ:innen im Libanon
       stilisieren, wie schon im Krieg. „Das zieht auch bei jungen Christen noch
       immer. Und bei den Älteren habe ich nach den Schießereien wieder diese
       Angst und Wut von früher gespürt.“
       
       Als Chaftari danach Interviews auf Youtube gibt, wird er angefeindet. „Ich
       bin beschimpft worden, als Christ, der gehorsam unter Muslimen lebt, ihnen
       nach dem Mund redet und so etwas. Ich war geschockt.“ Wie auf diese Weise
       die alte Rhetorik des Bürgerkrieges wieder angeheizt wurde, hält Chaftari
       für gefährlich. Und er sagt: „Wer heute fanatisch ist, geht nicht mehr zur
       Kataeb, sondern zu den Lebanese Forces.“
       
       Die Kataeb, die in den vergangenen Jahren immer mehr in sich
       zusammenschrumpfte, bezeichnet sich mittlerweile selbst als Opposition und
       ihre einstige Schwester Lebanese Forces als rechtsextrem. Doch auch die
       Lebanese Forces haben sich längst den Oppositionsmantel übergeworfen,
       sagen, sie seien im Oktober 2019 mit all den Hunderttausend anderen auf die
       Straße gegangen, um gegen die Hisbollah zu demonstrieren. Eine Umdeutung
       der Proteste, die „Alle heißt alle“ zum Hauptslogan hatte. Die Lebanese
       Forces waren ebenso gemeint wie die Hisbollah und die gesamte politische
       Elite.
       
       Tony Bader sieht das anders. Er ist der Chef der Studierendenvereinigung
       der Lebanese Forces, ein wichtiger Kopf der Partei. An den Universitäten
       des Landes haben die Lebanese Forces Vertretungen, Bader koordiniert sie.
       In einem Café in Achrafieh, einem wohlhabenden christlichen Viertel
       Beiruts, rührt er in seinem grünen Tee und blickt durchs Fenster auf die
       vielbefahrenen Straßen. „Man hat genug von der Hisbollah, darum geht es.“
       Für ihn ist deshalb auch das, was an dem Oktobertag 2021 passierte, die
       Geschichte eines Widerstands: „Die Leute lassen nicht zu, dass Kämpfer in
       ihr Viertel eindringen und Ärger machen, da verteidigen sie sich eben.“
       Diese Menschen hätten den Lebanese Forces nahegestanden, aber dass es eine
       Entscheidung der Partei gab, Scharfschützen zu postieren, bestreitet er.
       
       Wie er überhaupt vieles bestreitet, was man den Lebanese Forces vorwerfen
       könnte. Kriegsverbrechen? Nein. Sabra und Schatila? Eine bestimmte Gruppe
       innerhalb der Lebanese Forces um einen Mann namens Elie Hobeika, der bei
       einem innerparteilichen Coup 1986 von Samir Geagea gestürzt wurde. Swastika
       und Hakenkreuze auf den Armen und Waden einiger ihrer Mitglieder?
       Einzelfälle. „Wir hätten nichts dagegen, wenn diese Leute unsere Partei
       verlassen, denn das entspricht nicht dem, für das wir stehen, und das sind
       die Menschenrechte“, sagt Bader. Außerdem für einen unabhängigen souveränen
       Libanon, frei vom Einfluss ausländischer Mächte, vor allem Irans und
       Syriens. Und immer wieder sagt er: für die Bekämpfung der Hisbollah.
       „Solange wir diese bewaffnete Gruppe haben, die unser Land zerstört, können
       wir keines unserer anderen politischen Probleme wirklich lösen.“
       
       Bei einem Zoomgespräch kritisiert der Journalist Jad Ghosn das. Er ist
       einer der bekanntesten Journalist:innen des Libanon, einer, der über
       Parteigrenzen hinweg viel Anerkennung und Respekt genießt. Über die
       Lebanese Forces sagt er: „Sie verfolgen eine eindimensionale Idee von
       Politik, die aber für viele Menschen funktioniert, weil sie Angst vor der
       politischen Rolle der Hisbollah haben.“ Doch nur gegen etwas zu sein, mache
       noch keine Politik.
       
       Man müsse außerdem zwischen dem unterscheiden, was die Vertreter:innen
       der Lebanese Forces öffentlich sagten und was nicht. „Keine Partei im
       Libanon steht weiter rechts. Aber in ihrer öffentlichen Rhetorik sind sie
       vorsichtig geworden, weil sie auf diese Weise mehr gewinnen. In Frankreich
       unterstützen sie Marine Le Pen, weil sie sich für die Christ:innen
       einsetzt, sie fanden Trump gut, weil er einen harten Kurs gegen Iran fuhr.
       Im Libanon richtet sich ihre ganze Radikalität gegen die Hisbollah, und das
       genügt.“
       
       Mit Ausbruch der Coronapandemie im Libanon forderte Samir Geagea, die
       palästinensischen und syrischen Flüchtlingscamps komplett zu schließen,
       niemanden mehr hinein und hinaus zu lassen. Im aktuellen Wahlprogramm, das
       Studierendenkoordinator Tony Bader Ende April über Whatsapp schickt, heißt
       es, die Lebanese Forces lehnen eine Ansiedlung der palästinensischen
       Flüchtlinge kategorisch ab und fordern auch eine sofortige Rückkehr der
       vertriebenen Syrer in ihr Land.
       
       Tony Bader beschreibt die Lebanese Forces als Mitte-rechts-Partei, die an
       die Freiheit glaubt, an die eines jeden Einzelnen, aber auch an die des
       Markts, an privaten Besitz und private Rechte. „Wir sind rechts, aber nicht
       rechtsextrem. In unserer Vergangenheit findet man extreme Standpunkte,
       ja, aber wir rücken schon seit Jahren immer mehr in die politische Mitte.“
       
       Dazu gehöre auch, für Frauenrechte einzustehen und die Dekriminalisierung
       von Homosexualität. Um im Weiteren diskutieren zu können, ob auch eine
       Gleichstellung mit heterosexuellen Partnerschaften „infrage käme“. Beim
       Thema Abtreibung vertrete man die gleiche Position wie die katholische
       Kirche. Man favorisiere ein politisches System nach Schweizer Vorbild, das
       die „Pluralität des Libanon“ berücksichtige. Ein Land also, das in
       christliche und muslimische Kantone geteilt ist, in dem alle
       Bürger:innen gleich sind, den Christ:innen aber eine „wesentliche
       Rolle“ zukommt. Und: „Wir sind gegen alle Positionen, die nicht mit den
       Menschenrechten vereinbar sind. Dem steht das Programm der Hisbollah
       diametral entgegen.“
       
       Jad Ghosn sagt, die Lebanese Forces würden eine Strategie verfolgen, die
       sie aber nicht öffentlich zugeben könnten, denn bei der gehe es darum, auf
       eine ausländische Macht zu warten, die den Libanon von der Hisbollah
       befreie. „Aber das ist natürlich keine besonders patriotische oder
       nationalistische Sichtweise, also wird sie nicht öffentlich kommuniziert.“
       
       Tatsächlich haben die Lebanese Forces einen besonders engen ausländischen
       Verbündeten, von dem jede:r weiß: Saudi-Arabien. Die von Wikileaks 2015
       veröffentlichten „Saudi Cables“ enthalten ein Dokument, das der saudische
       Botschafter im Libanon an seinen König schickte. In dem berichtet er von
       einem Treffen mit Samir Geagea, bei dem dieser die Saudis um Geld bittet.
       Geld, das für den Kampf gegen die Hisbollah genutzt werden solle. Der
       saudische Botschafter schließt das Kommuniqué mit der Einschätzung,
       Geageas Lebanese Forces könnten wichtige Alliierte im Kampf gegen die
       Hisbollah sein, sie würden, so heißt es, „alles tun“.
       
       Dass auch das Geld für die großangelegte Wahlkampagne der Lebanese Forces
       aus Riad kam, ist ein offenes Geheimnis. Die Saudis haben sich für Geagea
       als ihren Mann im Libanon entschieden, weil ihr natürlicher Verbündeter,
       Saad Hariri, selbst Sunnit mit saudi-arabischer Staatsbürgerschaft, in
       ihren Augen zu nachsichtig mit der Hisbollah umging.
       
       Natürlich sei die Hisbollah ein besonderer Player im Libanon, sagt der
       Journalist Jad Ghosn, der stärkste, der mit dem größten und potentesten
       Unterstützer im Hintergrund, dem keine andere Partei, keine Miliz und auch
       nicht die libanesische Armee beikommen könnte. Doch auch die Lebanese
       Forces hätten ihren Geldgeber im Ausland, auch sie seien bewaffnet und
       führten paramilitärische Trainings durch, wie im vergangenen Oktober zu
       sehen war. „Und deshalb sind für mich Parteien wie Hisbollah und Lebanese
       Forces und all die anderen in gleichen Teilen verantwortlich für die
       Situation in unserem Land: Sie haben alle miteinander dafür gesorgt,
       dass der Staat in seinem Innern derart geschwächt ist, dass er nicht in der
       Lage ist, mit Problemen wie eben der Hisbollah selbst fertig zu werden“,
       sagt Ghosn.
       
       Wen er wählen wird, weiß der ehemalige Milizionär Assaad Chaftari noch
       nicht, dafür aber, dass er weitermachen wird. Er wird seine Geschichte
       immer und immer wieder erzählen, so lange er eben kann. Auch wegen der
       Momente, die ihm Mut machen und den Frust aushalten lassen. Neulich erst,
       als eine sehr junge Christin nach einer Veranstaltung auf ihn wartete und
       ihm eine Frage ins Ohr wisperte. Wie sie ihre Eltern denn dazu bringen
       könne, dass sie mehr in muslimischen Vierteln unternehmen dürfe oder dass
       sie einfach mitkämen. Sie fragte ihn um Rat. Da streicht sich Chaftari
       wieder über den kahlen Kopf, trommelt seine Fingerspitzen aneinander und
       blickt zu Boden. Den feinen feuchten Film, der sich jetzt über seine
       Pupillen spannt, sieht man trotzdem.
       
       Hanna Voß ist freie Journalistin und Programmmanagerin im Beirut-Büro der
       Rosa-Luxemburg-Stiftung
       
       Transparenzhinweis: Das Gespräch mit Jad Ghosn hat bereits im Januar
       stattgefunden. Im April hat Ghosn bekannt gegeben, selbst für eine
       oppositionelle Partei anzutreten, und kandidiert bei den Wahlen für einen
       Listenplatz im Metn-Distrikt, östlich von Beirut, für die Gruppe Citizens
       in a State.
       
       14 May 2022
       
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       verlieren, die Opposition legt zu. Die Regierungsbildung dürfte dauern.
       
 (DIR) Parlamentswahl im Libanon: Libanesische Diaspora hat gewählt
       
       Im Ausland lebendene Libanes*innen haben ihre Stimme für die Wahl am
       kommenden Sonntag abgegeben. Scheinbar kam es zu Wahlverstößen.
       
 (DIR) „Rettungsplan“ für den Libanon: Reformen wird es nicht geben
       
       Der milliardenschwere Deal zwischen dem Libanon und dem Internationalen
       Währungsfonds spielt nur der politischen Elite im Libanon in die Karten.
       
 (DIR) Nach Hafen-Explosion im Libanon: Ohne Strafe keine Gerechtigkeit
       
       Fast zwei Jahre nach der Explosion im Libanon haben Familien gegen
       Ex-Minister geklagt. An das politische und juristische System glauben nicht
       alle.