# taz.de -- Hartz-IV-Sanktionen: Vernarrt ins Bestrafen
       
       > Die Ampel-Koalition setzt Hartz-IV-Sanktionen weitestgehend aus. Das
       > reicht aus, um Panik vor vermeintlich Arbeitsunwilligen auszulösen.
       
 (IMG) Bild: „Fördern und Fordern“ lautet etwas euphemistisch das Prinzip des Hartz-IV-Systems
       
       Auf [1][meiner Schule] gab es Kinder, die sich nicht für Geschichte
       interessierten. Nicht, weil sie sich grundsätzlich nicht dafür
       interessierten. Sie konnten schlicht nichts mit dem faden Unterricht eines
       autoritären Geschichtslehrers anfangen. Also sprachen sie im Unterricht
       über andere Dinge, und nachmittags erledigten sie anderes als Hausaufgaben.
       Der Lehrer ärgerte sich und sanktionierte sie. Er bestellte sie regelmäßig
       zum Nachsitzen. Warum erzähle ich das?
       
       Weil es diese Woche wieder mal um Hartz-IV-Sanktionen geht. Der Bundestag
       hat am Donnerstag beschlossen, diese bis Mitte 2023 größtenteils
       auszusetzen. Nur bei wiederholten Versäumnissen sollen [2][Kürzungen von 10
       Prozent möglich] sein. Das versteht die Ampelkoalition als Übergangslösung
       [3][zum angekündigten Bürgergeld], für das Arbeitsminister Hubertus Heil
       (SPD) im Sommer einen Gesetzentwurf vorlegen will. [4][2019 hatte das
       Bundesverfassungsgericht] die Praxis, nach der Leistungen komplett
       gestrichen werden konnten, für verfassungswidrig erklärt, Kürzungen von
       höchstens 30 Prozent seien angemessen.
       
       Und schon kursieren Horrorgeschichten: „Ohne Sanktionen tanzen uns
       Hartz-IV-Empfänger auf dem Kopf herum“, zitiert die Süddeutsche Zeitung
       eine Jobberaterin, die anonym bleibt und deshalb „ihre Worte weniger
       vorsichtig“ wähle, „als es ein Politiker tun würde“. Einen Kommentar
       überschreibt dieselbe Zeitung mit [5][„Nur noch fördern, nichts mehr
       fordern“]. Die FAZ findet diese Entwicklung auch nicht so gut und schreibt
       abschätzig von „[6][arbeitsunwilligen Hartz-IV-Beziehern“]. Wo kommen wir
       denn hin, wenn jeder kommen und gehen kann, wann er will, und trotzdem eine
       [7][mickrige finanzielle Basis] erhält, die ohnehin kaum für ein
       würdevolles Leben reicht?
       
       ## Ärger über Selbstbetrug
       
       Der Vergleich zwischen Hartz-IV-Bezieher:innen und Schulkindern mag
       nun irritieren, entspricht aber einer Realität, in der Erwachsene wie
       Kinder behandelt werden. Beim Nachsitzen mussten die Kinder sinnlos Seiten
       aus dem Schulbuch abschreiben. Der Lehrer lächelte und sagte zugewandt:
       „Ich mache das nicht, um euch zu ärgern. Ich mache das für euch, damit ihr
       lernt, was Verantwortung ist.“ Mitarbeiter:innen des Jobcenters lassen
       sich anonym zitieren, dass sie es bei einer „Minderheit Unfreiwilliger“ für
       [8][notwendig hielten, notfalls Druck auszuüben], um diese Menschen wieder
       in den Arbeitsmarkt zu bringen.
       
       Dabei ist die Haltung, dass manche zu ihrem Glück gezwungen werden müssten,
       gerade in einer Gesellschaft bemerkenswert, die sich am
       wirtschaftsliberalen Prinzip orientiert, wonach jeder Mensch von ganz
       allein nach der Maximierung seines Nutzens strebe und dies zum Vorteil
       aller geschehe. Vermutlich ist diese Gesellschaft so vernarrt in das
       Bestrafen, weil das mit dem Wohl aller überhaupt nicht hinhaut. Ihren Ärger
       über den Selbstbetrug lässt sie dann an jenen aus, die der Beweis dafür
       sind.
       
       19 May 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [5] https://www.sueddeutsche.de/meinung/hartz-iv-sanktionen-jobcenter-foerdern-und-fordern-die-gruenen-1.5583725?reduced=true
 (DIR) [6] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/abstimmung-im-bundestag-keine-sanktionen-mehr-fuer-hartz-iv-bezieher-18041428.html
 (DIR) [7] /Hartz-IV-soll-erhoeht-werden/!5719014
 (DIR) [8] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/hartz-iv-sanktionen-ampel-koalition-jobcenter-1.5585234?reduced=true
       
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