# taz.de -- Geschichtsaufarbeitung in Bosnien: Wie viele Opfer waren es wirklich?
       
       > Bosnien streitet darüber, wie viele Kinder bei der Sarajevo-Belagerung in
       > den 90er Jahren getötet wurden. Es ist ein Schritt zur Aufarbeitung des
       > Kriegs.
       
 (IMG) Bild: Gedenkstätte für die getöteten Kinder in Sarajewo
       
       SARAJEVO taz | Die bekannte Filmemacherin Jasmila Zbanić, die 2021 mit
       ihrem [1][Film „Quo Vadis, Aida?“ über den Genozid von Srebrenica] viel
       Anerkennung und mehrere internationale Preise erhalten hat, wird mit dem
       Tod bedroht. Diesmal aber nicht von serbisch- oder
       kroatisch-nationalistischer Seite, sondern von Leuten aus dem Umkreis der
       muslimischen Nationalpartei SDA. In einem Portal des SDA-Abgeordneten Haris
       Zahragić wurde sie regelrecht an den Pranger gestellt.
       
       Anlass dazu war ihre Unterstützung für den serbischen Intellektuellen
       Srdjan Puhalo, der schon vor Wochen moniert hatte, die in der Hauptstadt
       kursierenden Zahlen über die während des Krieges in Sarajevo getöteten
       Kinder stimmten nicht mit der Realität überein. Puhalo, ein
       Menschenrechtler und scharfer Kritiker des serbischen
       [2][Nationalistenführers Milorad Dodik], erklärte, für die angegebene Zahl
       von 1.601 während der Belagerung Sarajevos von 1992 bis 1996 getöteten
       Kinder gebe es keine ausreichenden Belege.
       
       Zbanić unterstützte Puhalo, als der in einer Pressekonferenz scharf
       angegriffen wurde. Auch im Sinne der getöteten Kinder gebiete es sich, die
       Namen der Kinder zu veröffentlichen und die Umstände ihres Todes
       aufzudecken, sagte Zbanić. Damit könne man auch die Täter benennen. Der
       SDA-Abgeordnete Zahragić und andere würden die Opfer des Krieges für die
       eigenen Parteiziele instrumentalisieren. Im Herbst stehen in Bosnien und
       Herzegowina Wahlen an.
       
       Falsche Zahlen zu diesem Zweck zu nutzen ist in dem Balkanland gängige
       Praxis unter Nationalisten. In Sarajevo schwelt schon lange ein Kulturkampf
       zwischen der weltoffenen Bürgergesellschaft und den Anhängern der
       muslimischen Nationalpartei SDA, die nach Meinung der
       nichtnationalistischen linken und liberalen Parteien genau wie die
       nationalistischen Serben und Kroaten noch nicht in der modernen
       demokratischen Welt angekommen sind.
       
       ## Das „multinationale“ Sarajevo
       
       Inzwischen hat das Institut für Recherche zu Verbrechen gegen die
       Menschlichkeit an der Universität Sarajevo erklärt, es habe 2010 alle mit
       Namen bekannten toten Kinder auf 524 beziffert. Die Namen seien auf dem
       Denkmal vor dem Staatspräsidium verzeichnet. Für 291 getötete Kinder seien
       die Namen und Umstände noch unklar, teilweise seien ganze Familien
       ausgelöscht worden. Die Bezifferung auf 1.601 Tote und 15.000 Verwundete
       sei kurz nach dem Krieg 1996 veröffentlicht worden.
       
       In Sarajevo gaben die Bürger bei den letzten Gemeindewahlen 2020
       nichtnationalistischen Parteien wie der SDP (Sozialdemokraten), Nasa
       Stranka (Unsere Partei) und der Patriotischen Front die meisten Stimmen.
       Die bis dahin regierende muslimisch-bosniakische Nationalpartei SDA war
       damit abgewählt. Der „Geist des multinationalen Sarajevos“ wird seither
       auch durch die Bürgermeisterin, die 30-jährige [3][Benjamina Karić], die
       über jüdische Wurzeln verfügt, repräsentiert. Jetzt will die SDA offenbar
       mit aller Macht das Rad zurückdrehen und scheut vor Kampagnen wie jene
       gegen die Regisseurin Zbanić nicht zurück.
       
       Rückendeckung bekam Zbanić unter anderem von dem Direktor des „Kinder im
       Krieg“-Museums Jasminko Halilović und anderen Mitgliedern der
       Bürgergesellschaft in Sarajevo. Nur wenn die Wahrheit ausgesprochen werde,
       könne auch von den anderen Seiten verlangt werden, ihre
       geschichtsrevisionistischen Lügen fallen zu lassen, heißt es aus diesem
       Lager. Nur mit exakten Zahlen und der Aufklärung über sämtliche Umstände
       der Ermordung dieser Kinder könne es eine Aufarbeitung der Geschichte
       geben.
       
       Davon ist Bosnien und Herzegowina, wo die Nationalisten immer noch ihre
       Kriegsverbrecher verehren, auch [4][27 Jahre nach Kriegsende] nach
       Kriegsende weit entfernt.
       
       20 May 2022
       
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