# taz.de -- Bundesarbeitsgericht zu Überstunden: Mehrarbeit muss man beweisen
       
       > Ein LKW-Fahrer will Überstunden abrechnen, doch präzise Zeiterfassung
       > fehlt. Nun hat ein Gericht entschieden: Der Arbeitgeber kann das Geld
       > einbehalten.
       
 (IMG) Bild: Detail einer alten Stechuhr zur Arbeitszeiterfassung
       
       FREIBURG taz | Beschäftigte müssen auch künftig beweisen, dass sie
       Überstunden geleistet haben – auch wenn der Arbeitgeber die Arbeitszeit der
       Beschäftigten nicht präzise erfasst. Dies entschied an diesem Mittwoch das
       Bundesarbeitsgericht in Erfurt. Das [1][so genannte „Stechuhr-Urteil“ des
       Europäischen Gerichtshofs von 2019] habe hieran nichts geändert.
       
       Konkret ging es um den Fall eines ostfriesischen Getränke-Ausfahrers. Er
       holte morgens seinen LKW in der Filiale 1 seines Unternehmens ab, fuhr
       damit zur Filiale 2, betätigte dort die Stechuhr und lieferte dann den
       ganzen Tag mit seinem LKW Getränkekisten zu den Kund:innen. Abends
       betätigte er wieder die Stechuhr in Filiale 2 und lieferte anschließend den
       LKW in Filiale 1 ab.
       
       Als der Fahrer 2019 kündigte, verlangte er noch die Bezahlung von
       Überstunden, die er in den Jahren 2016 bis 2018 geleistet habe. Konkret
       forderte der Mann für 429 Stunden jeweils seinen üblichen Stundenlohn von
       je 14,90 Euro, insgesamt 6.392,10 Euro. Laut Stechuhr habe er 348 Stunden
       mehr gearbeitet, als er bei einer Wochenarbeitszeit von 40 Stunden
       verpflichtet war. Hinzu komme noch die Zeit für das Abholen und
       Zurückbringen des LKW.
       
       Der Getränkehändler erkannte die geltend gemachten Überstunden aber nicht
       an. Die Stechuhr berechne nur die „Kommt- und Geht-Zeit“, von der aber 391
       Stunden Essenspausen und bei dem konkreten Fahrer weitere 130 Stunden
       Raucherpausen abzuziehen seien. Unter dem Strich habe der Mann also keine
       Überstunden geleistet.
       
       ## FDP blockt Veränderung
       
       Der Fahrer entgegnete, dass er gar keine Zeit hatte, Pausen zu machen. Da
       jede Getränkebestellung, die bis 11 Uhr einging, noch am selben Tag
       erledigt werden musste, sei der Arbeitsdruck sehr hoch gewesen. Gegessen
       habe er bei der Fahrt und geraucht beim Beladen des Fahrzeugs.
       
       Zunächst gab das Arbeitsgericht Emden dem Fahrer im November 2020 Recht. Es
       verwies auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Mai 2019,
       wonach Arbeitgeber verpflichtet sind, „ein objektives, verlässliches und
       zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem“ einzuführen. Wenn Arbeitgeber
       hierauf verzichten, müssten sie plausible Überstundenforderungen ihrer
       Beschäftigten anerkennen, so das Arbeitsgericht Emden.
       
       Doch das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen hob das ostfriesische
       Urteil im Mai 2021 wieder auf. Die EU habe keine Kompetenz für Lohnfragen.
       Deshalb beschränke sich das EuGH-Urteil auf den Gesundheitsschutz, also auf
       den Schutz der Beschäftigen vor Überschreiten der Höchstarbeitszeit. Es
       bleibe dabei, dass Beschäftigte beweisen müssen, dass ihre Überstunden
       angeordnet und auch geleistet wurden. Es sei lebensfremd, dass der Fahrer
       überhaupt keine Pausen gemacht habe.
       
       Das Bundesarbeitsgericht schloss sich in der Revision nun dem LAG an. Das
       Stechuhr-Urteil des EuGH ändere nichts an der „Darlegungslast“ der
       Mitarbeiter:innen. (Az.: 5 AZR 359/21)
       
       Bisher ist das EuGH-Urteil auch noch gar nicht im deutschen
       Arbeitszeitgesetz umgesetzt worden. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD)
       hält es zwar für notwendig, eine präzise Arbeitszeiterfassung gesetzlich
       anzuordnen. In der alten Bundesregierung blockierte das aber
       Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Und in der aktuellen
       Ampel-Regierung bremst bisher die FDP, die vor [2][„Dokumentierungswahn“]
       warnte.
       
       Im Koalitionsvertrag von 2021 heißt es: „Im Dialog mit den Sozialpartnern
       prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des
       Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible
       Arbeitszeitmodelle (z. B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“
       
       4 May 2022
       
       ## LINKS
       
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