# taz.de -- Zwist um Nato-Beitritt: Erdoğans Schweden-Karte
       
       > Stockholm will in die Nato, doch Ankara droht den Beitritt zu blockieren.
       > Hintergrund ist eine angebliche Kooperation mit der kurdischen PKK.
       
 (IMG) Bild: Droht mit einem Veto: Präsident Erdoğan mit Nato-Generalsekretär Stoltenberg im März in Antalya
       
       STOCKHOLM taz | Magdalena Andersson war zu Tränen gerührt. Wenige Minuten
       bevor sie am 24. November letzten Jahres im Stockholmer Reichstag zur
       ersten schwedischen Ministerpräsidentin gewählt wurde, hatte die parteilose
       Abgeordnete Amineh Kakabaveh in einer persönlichen Erklärung und unter
       Hinweis auf die nun ins Amt kommende Regierung, die ja eine „feministische
       Außenpolitik“ versprach, begründet, warum sie der Sozialdemokratin ihre
       Stimme geben und „auf eine rote Ministerpräsidentin hoffend auf den grünen
       Knopf drücken“ werde. Und sie betonte, dass sie von dieser feministischen
       Regierung einerseits etwas erwarte, ihr andererseits aber „in
       Schwesterlickeit verbunden“ bliebe.
       
       Eine Pattsituation im Parlament hatte die Stimme der aus dem Iran
       stammenden Kurdin entscheidend für die Wahl Anderssons gemacht. So
       wichtig war sie, dass die Sozialdemokraten mit Kakabaveh eine schriftliche
       Vereinbarung schlossen, in der sie sich verpflichteten, „unserer
       Schwesterpartei HDP im Kampf für die Rechte der Kurden beizustehen“, und
       versprachen von Ankara „die Freilassung des Parteivorsitzenden Selahattin
       Demirtaş zu fordern“. Man werde auch die „Zusammenarbeit mit der
       Demokratischen Unionspartei PYD vertiefen“, die eine „tragende Rolle“ bei
       der Verwaltung der autonomen Kurdenregion Rojava im nordöstlichen Syrien
       innehabe und „ein legitimer Partner ist“ heißt es da. Würden „bestimmte
       staatliche Akteure“ die „Freiheitskämpfer der YPG/YPJ oder HDP als
       Terroristen einstufen“, so sei das „völlig inakzeptabel“.
       
       Sechs Monate später erpresst genau so ein „staatlicher Akteur“ in Gestalt
       des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan die Regierung in Stockholm.
       Er droht unter Hinweis auf deren angebliche „Zusammenarbeit mit
       Terroristen“, von denen er rund 30 ausgeliefert haben will, die
       Mitgliedschaft Schwedens in der Nato zu blockieren. Er habe „damit das
       Schicksal Schwedens in seiner Hand“, wie die Tageszeitung Göteborgs-Posten
       kommentiert. Was also nun, Magdalena Andersson?
       
       Die hatte am vergangenen Donnerstag, als sie zusammen mit Finnlands
       Staatspräsident Sauli Niinistö zu einem Blitztermin nach Washington
       geflogen war, ihre blau-gelbe Flaggenbrosche vom 24. November gegen eine
       schwedisch-amerikanische getauscht und US-Präsident Joe Biden angestrahlt,
       als der vom „very, very good day“ geschwärmt hatte, weil nun „two great
       democracies“ der „most powerful defensive alliance in the history of the
       world“ beitreten wollten. Von feministischer Außenpolitik war im Weißen
       Haus keine Rede und in Bezug auf die türkischen Forderungen erklärte
       Andersson: „Diese Probleme werden gelöst werden.“ Was – so ein Kommentar
       der Tageszeitung Aftonbladet –, wohl nur bedeuten könne: „Die Kurden werden
       unter den Bus geworfen, um Erdoğan bei Laune zu halten.“
       
       ## Waffenexportverbot für die Türkei
       
       So verstand das auch Amineh Kakabaveh. Sie kündigte enttäuscht die
       „Schwesterlichkeit“ mit Andersson auf: Deren Regierung könne nun nicht mehr
       mit ihrer Stimme rechnen, „ich bin schwer enttäuscht von ihr“. Tatsächlich
       dürfte Erdoğan die Abgeordnete, die 2016 wegen ihres Kampfs gegen Rassismus
       und Gewalt im Namen der Ehre zur „Schwedin des Jahres“ ernannt worden war,
       auch gemeint haben, als er davon sprach, dass Schweden eine „Brutstätte für
       Terroristen“ sei, die sogar im Parlament sitzen würden.
       
       In einem Interview mit der schwedischen Nachrichtenagentur TT hatte Hakki
       Emre Yunt, der türkische Botschafter in Schweden, in der vergangenen Woche
       die Auslieferung Kakabavehs verlangt. Später hatte die Botschaft diese
       Forderung als „Missverständnis“ bezeichnet. Schon 2019 war die Politikerin,
       die Vorsitzende der feministischen und antirassistischen Vereinigung VHEK
       ist, in einem Rapport der Erdoğan nahestehenden Denkfabrik Seta zusammen
       mit dem damaligen Vorsitzenden der Linkspartei, Jonas Sjöstedt, aber auch
       dem jetzigen schwedischen Verteidigungsminister Peter Hultqvist, der
       Unterstützung für die PKK bezichtigt worden.
       
       Erdoğan wolle vermutlich, dass Schweden das Waffenexportverbot für die
       Türkei aufhebt und die Büros kurdischer Organisationen und Parteien
       schließt, vermutet Kakabaveh. [1][In der Waffenexportfrage geht es Erdoğan
       vor allem um mehr Anerkennung in der Nato und entsprechende
       Waffenlieferungen von den Verbündeten.] Die derzeitigen Waffenembargos
       Schwedens und anderer europäischer Länder gegen die Türkei sind aus Sicht
       Ankaras ärgerlich, aber nicht substanziell.
       
       Vielmehr muss die Türkei ihre Luftwaffe modernisieren und braucht eine
       moderne Raketenabwehr. Weil sie in den USA Schwierigkeiten hatte,
       Patriot-Raketenabwehrsysteme zu kaufen, hat sie russische S-400 gekauft.
       Aus diesem Grund verweigern die USA der Türkei jetzt die Lieferung ihrer
       modernsten Tarnkappenbomber F-35. Erdoğan scheint nun eine Chance zu sehen,
       diese Ablehnung neu zu verhandeln oder aber zumindest aus den USA eine
       modernisierte Version der derzeit in der Türkei eingesetzten
       F-16-Kampfflugzeuge geliefert zu bekommen.
       
       Kakabaveh warnt davor, Erdoğans Antikurdenpolitik nachzukommen. Wenn
       Schweden das tue, werde der türkische Präsident das von allen Nato-Staaten
       verlangen. „Die Kurden werden die blutige Rechnung für die
       finnisch-schwedische Nato-Mitgliedschaft begleichen müssen“, warnt der
       kurdische Schriftsteller Kurdo Baksi: „Wir können doch nicht zulassen, dass
       ein Land, das Meinungs- und Pressefreiheit mit Füßen tritt, den Kampf gegen
       diese Rechte auch noch nach Schweden exportiert.“
       
       ## Angst der schwedisch-kurdischen Diaspora
       
       Innerhalb der schwedisch-kurdischen Diaspora herrsche große Unruhe, sagt
       Ridvan Altun von Navenda Civaka Demokratîk a Kurd, dem Kurdischen
       Demokratischen Gesellschaftszentrum in Schweden. Die Organisation werde
       beschuldigt, eine Unterorganisation der PKK zu sein, man habe Angst,
       deshalb kriminalisiert zu werden, manche fürchteten um ihr Leben. „Wir
       haben eigentlich großes Vertrauen, dass Schweden nicht nachgeben wird“,
       sagt er. Aber wenn Schweden und Finnland das doch tun würden, „hätte die
       Demokratie verloren“: „Es wäre ein Sieg für Erdoğan, wenn es ihm gelänge,
       demokratische Länder zu zwingen, von ihren Prinzipien abzuweichen.“
       
       Ist es wieder einmal so weit, dass der Westen die Kurden im Stich lässt,
       fragt der Linken-Politiker Jonas Sjöstedt: „Es wäre ja wahrlich nicht das
       erste Mal.“ Die Tatsache, dass Schweden und Finnland kurdischen
       Flüchtlingen, die die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen, Asyl gewähren
       und „offiziell gegen die dortige Repression gegen Oppositionelle,
       Akademiker, Journalisten und Minderheiten protestieren konnten“, dies als
       Nato-Mitglieder nun aber nicht mehr dürfen sollen, werfe ein
       grundsätzliches Problem der Nato auf, die ja eigentlich eine Allianz
       demokratischer Staaten sein will, meint Ronald Suny, Professor für
       Geschichte und Politik an der University of Michigan: „Finnland und
       Schweden erfüllen die Parameter einer Nato-Mitgliedschaft deutlich besser
       als einige der aktuellen Mitglieder des Bündnisses.
       
       Während die Vereinigten Staaten erklären, dass der Krieg in der Ukraine ein
       Kampf zwischen Demokratie und Autokratie sei, stellt die Opposition der
       Türkei gegen die nordischen Länder, die gegen das Abdriften der Türkei in
       den Illiberalismus protestiert haben, die Einheit und die ideologische
       Kohärenz der Nato auf die Probe.“
       
       23 May 2022
       
       ## LINKS
       
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