# taz.de -- Ökosozialer Umbau: Ampel hat Angst vor der Wende
       
       > Die Regierungskoalition ist dabei, eine historische Chance zum
       > ökosozialen Umbau zu verpassen. Die Gesellschaft würde viele harte
       > Maßnahmen mittragen.
       
 (IMG) Bild: Erster autofreier Sonntag der Bundesrepublik am 25.11.1973
       
       Man möchte in die Tischkante beißen. Schon wieder ist die Regierung dabei,
       eine historische Chance zum ökosozialen Umbau zu verpassen – wie schon in
       der Coronakrise. Die wurde nicht genutzt, um die Billigfliegerei
       einzudämmen und die Profitorientierung im Gesundheitssystem zu beenden. Nun
       rächt sich das. Mit den Affenpocken droht die nächste Epidemie und der
       gleiche Fehler.
       
       Auch den Krieg in der Ukraine könnte die Ampelkoalition viel stärker für
       die notwendige Transformation nutzen. Die Regierung macht mit ihrem
       Ausstieg aus Putins fossilen Energien zwar vieles richtig, aber auch vieles
       falsch. Der Neubau von elf extrem klimaschädlichen
       [1][Flüssiggas-Terminals], der im Eiltempo durchgedrückt wurde, ist ein
       katastrophales Beispiel. Weitere sind die schwachsinnige Subvention des
       [2][Benzinpreises] und der Unwille, mit ambitionierten Energiesparmaßnahmen
       putin- und fossilfreie Zonen zu schaffen. Selbst die Internationale
       Energieagentur hat schon im März ausgerechnet, dass sich durch zehn
       Einzelmaßnahmen täglich rund 2,7 Millionen Barrel Öl einsparen ließen – so
       viel wie der Benzinverbrauch aller Autos in China. Dazu zählen Tempolimit,
       Streichung der Inlandsflüge, mehr Homeoffice und autofreie Sonntage.
       
       Warum wird so gut wie nichts davon verwirklicht? Wovor hat die Regierung
       Angst? Vor Gelbwesten-Protesten? Oder dem kleinen Koalitionspartner FDP?
       Rechtspopulistische Proteste sind zwar nie völlig auszuschließen, lassen
       sich aber durch kluges, transparentes Vorgehen einschränken.
       
       Die Akzeptanz für Doppelstrategien gegen Putin und die Klimakrise ist in
       der Gesellschaft so breit wie nie zuvor – und das muss nicht Verzicht
       bedeuten, sondern kann mehr Lebensqualität bringen. Beispiel autofreie
       Sonntage: Wer sie in der Ölkrise 1973/74 erlebt hat, weiß, wie zauberhaft
       sie waren: Sonnenuntergänge mit Nachtigallgesang an Autobahnen und in
       Innenstädten. Beispiel Tempolimits: Schon lange zeichnen sich hierfür
       Mehrheiten in der Bevölkerung ab. Warum dies nicht lustvoll zelebrieren als
       langsame Massen-Events?
       
       Wer sich nicht traut, solche Maßnahmen bundesweit auszurufen, könnte sie
       zumindest als Regionalexperimente in einigen Bundesländern oder Städten
       zulassen, begleitet und ausgewertet von repräsentativ ausgelosten
       Bürgerräten. Überhaupt könnte viel mehr ausprobiert werden. Welche Stadt
       oder Gemeinde wird zur ersten vollständig „putinfreien Zone“? Dafür könnte
       es einen Wettbewerbspreis geben, überreicht von der Bundesumweltministerin.
       
       Ein Skandal ist die Tatsache, dass immer noch rund 60 Prozent des deutschen
       Getreides in Tiertrögen und Tanks landet – in einer Zeit, in der in
       Ostafrika und Nahost Millionen von Hungertoten zu befürchten sind. Die
       zuständigen Ministerien wollen diesen Anteil zwar verringern, aber im
       Schneckentempo. Warum nicht sofort? Statt mit Getreide und Gensoja aus
       abgeholztem Amazonasgebiet dürften Nutztiere nur noch mit hofeigenem
       Futter gefüttert werden. Mehr Fleisch und Milch gibt es dann einfach nicht.
       
       Heute verursachen hochverarbeitete Lebensmittel mit zu viel Zucker, Fett
       und Salz Übergewicht und Allergien; beides breitet sich weltweit rasant
       aus. Das bedeutet Leid für die Betroffenen und hohe Kosten für die
       Sozialversicherungen. Zugleich reicht Hartz IV nicht aus, um sich
       gesundheitsförderlich zu ernähren. Für das Klima ist unser Ernährungssystem
       ebenfalls fatal: Wenn alles von der Kunstdüngerproduktion bis zur
       Lebensmittelverschwendung einberechnet wird, sind mindestens ein Drittel
       aller Treibhausgase darauf zurückzuführen.
       
       ## Probiert es wenigstens mit Experimenten aus!
       
       Es ginge auch anders. Die „[3][Eat-Lancet-Kommission]“ um den Klimaforscher
       Johan Rockström hat bereits 2018 einen „Speiseplan für Mensch und Erde“
       veröffentlicht. Damit könnte die bis 2050 wachsende Weltbevölkerung auf
       Bio-Niveau gesund ernährt werden, ohne dass das den Planeten weiter
       ruiniert. Menschen könnten durchschnittlich 13 Jahre länger leben, die
       Massentierhaltung würde extrem zurückgehen, die planetaren Ökosysteme
       könnten sich regenerieren. Das Geheimnis hierfür ist geradezu schlicht:
       wesentlich mehr pflanzenbasierte Kost, mehr Hülsenfrüchte, mehr Nüsse,
       dafür wesentlich weniger Fleisch und Milchprodukte. Warum wird das nicht in
       deutschen Kantinen, Krankenhäusern und Kitas jetzt schon eingeführt?
       
       Auch hier sollte gelten: Probiert es wenigstens mit Experimenten aus! Ein
       Forschungsteam der Uni Würzburg hat herausgefunden, dass
       Studienteilnehmende in Restaurants häufiger Gemüse- statt Fleischburger
       auswählten, wenn Erstere als Standard auf der Speisekarte aufgeführt
       wurden. Farblich gestaltete Klimalabels – Rot für viel Treibhausgas, Grün
       für wenig – führten dazu, dass sie eher Gerichte mit niedrigen
       CO2-Emissionen bevorzugten. Eine Masterarbeit im Rahmen des „Grünen
       Journalismus“ der Uni Darmstadt zeigte, dass die Bundeskantinen zu viel
       Fleisch und kaum Öko anbieten. Hier könnten Bundestag und Behörden mit
       gutem Beispiel vorangehen und Klimafood servieren.
       
       Und schließlich zeigten der querliegende Tanker im Suezkanal und die
       coronabedingte Blockade des Hafens von Shanghai, wie leicht globale
       Lieferketten reißen. Da wäre es sinnvoll, wenn sich Waschmaschinen, Mixer
       und Föhne leicht reparieren ließen. Heute konstruieren Hersteller
       Alltagsgegenstände so, dass sie schnell kaputtgehen. Oft sind Schrauben
       oder Bauteile verschweißt – Reparatur ausgeschlossen. Bei Handys und
       Computern zwingt immer aufwendigere Software die Kundschaft zum häufigen
       Neukauf. All das ist eine riesige Ressourcenverschwendung, die viele
       Menschen ärgert. Auch hier kann die Regierung handeln: mit Gesetzen, die
       Reparierbarkeit und schlanke Software für Konsumgüter vorschreiben.
       
       10 Jun 2022
       
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