# taz.de -- Parlamentswahl in Frankreich: Wie, Wahl?
       
       > Im französischen Präsidialsystem haben die Abgeordneten meist wenig zu
       > sagen. Dennoch sind die Sitze in der Nationalversammlung begehrt.
       
 (IMG) Bild: Lachsalven, Zwischenrufe, Hühnergackern – so geht es zu in der französischen Nationalversammlung
       
       PARIS taz | Wahlen? Welche Wahlen? Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten
       in Frankreich wissen nicht, dass am Sonntag die Abgeordneten der
       Nationalversammlung gewählt werden, oder aber sie haben nicht die Absicht,
       ihre Stimme abzugeben. [1][Die Regierung] versucht es auf die lustige Art,
       die Bürgerinnen und Bürger fast in letzter Minute noch zu informieren und
       für den Urnengang zu motivieren.
       
       Auf einem in den Tageszeitungen meist auf der letzten Seite vier Tage vor
       dem Wahlsonntag publizierten ganzseitigen Comic wird in Sprechblasen auf
       die zentrale Frage geantwortet: „Wozu wählt man 577 Abgeordnete?“
       
       Es folgt ein Staatskundeunterricht im Eilverfahren: 577 Sitze in der
       Nationalversammlung sind zu vergeben, weil es in Frankreich 577
       Wahlkreise gibt, und in jedem ist – nach einem strikten Mehrheitswahlrecht
       – ein Sitz zu gewinnen. Es gibt keinen Trostpreis, keine Restmandate oder
       andere Formen der Verteilung von Sitzen nach Stimmenanteilen der Parteien,
       sondern einen Sitz für einen Gewinner oder eine Gewinnerin.
       
       Pro Wahlkreis geht leer aus, wer nicht im ersten oder zweiten Wahlgang
       siegt. Und in der Folge ist es nicht die Partei, welche die Wahlen gewinnt,
       die den Premierminister oder die Premierministerin stellt, sondern es ist
       der Präsident oder die Präsidentin, der ihn oder sie nach eigenen Kriterien
       nominiert. Abgeordnete oder sonst gewählte Volksvertreter*innen müssen
       weder die Regierungschef*innen noch die Minister*innen sein. Immer
       häufiger werden sie ohne parlamentarische Erfahrung als politische
       Amateur*innen aufgrund universitärer Laufbahn oder beruflicher
       Erfahrungen ernannt.
       
       In Stichworten werden im Comic des Innenministeriums die Aufgaben und
       Zuständigkeiten der Abgeordneten aufgelistet: Sie sitzen und debattieren in
       der Nationalversammlung, sie stimmen über Gesetzestexte ab, können selber
       Gesetzesvorschläge oder Änderungen an Vorlagen einbringen, sie stimmen
       namentlich über den Staatshaushalt ab und beaufsichtigen [2][die Tätigkeit
       der Regierung], die vor den beiden Parlamentskammern, der
       Nationalversammlung und dem Senat, verantwortlich ist und regelmäßig bei
       einer Sprechstunde auf die Fragen der Abgeordneten antworten muss. Wie die
       Institutionen zusammenarbeiten, wie sie sich gegenseitig beaufsichtigen,
       illustriert wiederum ein besonders kompliziert aussehendes Schema mit
       unzähligen bunten Pfeilen auf Wikipedia.
       
       Die Macht des Parlaments in Frankreich ist seit 1958 beschränkt. Die
       Verfassung der Fünften Republik stärkt sehr einseitig die staatliche
       Exekutive und vor allem die Macht des vom Volk gewählten Staatsoberhaupts.
       Der oder die Staatspräsident*in muss es dank dieser Verfassung mit der
       Gewaltentrennung nicht so genau nehmen. Er oder sie steht zugleich an der
       Spitze der Exekutive und der Streitkräfte, beaufsichtigt die Justiz,
       ernennt aber auch den oder die Regierungschef*in und die
       Minister*innen, kann diese auch absetzen oder das Parlament auflösen, um so
       bei Bedarf mit Neuwahlen die Karten neu zu mischen.
       
       Die Abgeordneten dagegen sind und waren vor allem in den letzten Jahren der
       ersten Amtszeit von Emmanuel Macron nur dazu da, die im Ministerrat unter
       Vorsitz des Präsidenten bereits vordiskutierten und vorentschiedenen
       Gesetzesvorlagen durchzuwinken. Der Senat, in dem derzeit noch bürgerliche
       Konservative eine Mehrheit haben, kann die Prozedur der Gesetzgebung
       allenfalls bremsen.
       
       Um ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, haben die Abgeordneten
       jedoch andere Mittel gefunden. Wenn ein*e Minister*in vor der
       Ratsversammlung die eigene Politik gegen die Kritik verteidigt, ist sie
       oder er wegen ständiger Zwischenrufe oft kaum zu verstehen. Und umgekehrt
       schämen sich die Vertreter*innen der Regierungsmehrheit nicht, in
       derselben, manchmal unflätigen Manier lautstark während Reden der
       Opposition zurückzupoltern.
       
       Die vom öffentlich-rechtlichen Fernsehsender LCP (La Chaîne Parlementaire)
       übertragenen Debatten in der [3][Nationalversammlung] bekommen so manchmal
       einen echten Unterhaltungswert bei einem sonst eher trockenen Programm. Es
       gibt immer wieder Witzbolde unter den Politiker*innen, wenn sich ihrer
       Meinung nach ein Thema für rhetorische Anspielungen anbietet, wie kürzlich
       etwa bei einer Debatte über die Luftverschmutzung und Klimaerwärmung durch
       die Fürze der Kühe.
       
       Ein Spezialist der von Lachsalven begleiteten Unterbrechungen war in den
       letzten drei Amtszeiten der Abgeordnete (und kürzliche
       Präsidentschaftskandidat) Jean Lassalle aus den Pyrenäen. Dessen Auftritte
       zirkulieren wie Sketche eines Humoristen auf Youtube. Einmal überraschte
       er im Halbrund des Ratsaals seine halb eingenickten Kolleg*innen, indem er
       aufstand und ohne Vorwarnung dröhnend ein Schäferlied im Dialekt seiner
       Region anstimmte.
       
       Manchmal sind die höhnisch gemeinten Zwischenrufe überhaupt nicht
       humorvoll, gelegentlich geht das Zischen und Buhen im Chor eindeutig zu
       weit, dann muss der oder die Vorsitzende der Nationalversammlung energisch
       auf das Pult klopfen. Meist völlig vergeblich bittet die Person um Ruhe
       oder um ein Minimum an Anstand, wenn beispielsweise sonst seriös wirkende
       Herren in Anzug und Krawatte bei der Ansprache eines gegnerischen
       Ratsmitglieds wie Schafe blöken oder – mit Vorliebe, wenn eine Frau spricht
       – gackern wie Hühner.
       
       Die Zeiten, als eine Ministerin Bemerkungen oder Pfiffe wegen eines
       scheinbar kurzen Rocks erntete, sind wenigstens vorbei. Denn die
       #MeToo-Kampagnen haben auch die Parlamentspolitik erreicht. In Frankreich
       ist die zum Teil noch bis heute eine Männerdomäne, in der sexistische Witze
       oder Anspielungen seit jeher wie ein Kavaliersdelikt toleriert wurden. Die
       Aufsichtsstelle für Geschlechtergleichstellung hat nun 2020 in einem
       Bericht den Sexismus im Ratssaal kritisiert und die Betroffenen
       aufgefordert, Beschwerden beim Aufsichtsrat einzureichen.
       
       Gesprächsstoff bieten auch die „Privilegien“ der Volksvertreter*innen. In
       der aktuellen Nationalversammlung bezeichneten sich gerade einmal 2 als
       ehemalige Arbeiter und 24 von 577 als Angestellte. Das Netto-Monatsgehalt
       beträgt derzeit 5.680 Euro. Hinzu kommt eine pauschale Entschädigung der
       Spesen in Höhe von 5.373 Euro, über die grundsätzlich frei verfügt werden
       kann, sofern die Ausgaben im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit
       stehen.
       
       Vor einem Monat wurde ein Spesen-Skandal um die 39-jährige
       En-marche-Abgeordnete Coralie Dubost publik. Der Vorwurf: Sie habe mit
       ihrer Spesenpauschale mehr als 8.000 Euro für Unterwäsche ausgegeben,
       was ihr als private Ausgabe ausgelegt wurde. Dubost reichte daraufhin
       ihren Rücktritt ein und kehrte der Politik den Rücken zu.
       
       Immer wieder gab es zudem handfeste Finanzaffären wegen der Anstellung der
       parlamentarischen Assistent*innen, für deren Gehälter jede*r Abgeordnete
       monatlich über 10.581 Euro bekommt. Der ehemalige Premierminister François
       Fillon wurde in exemplarischer Weise zu einer Haftstrafe auf Bewährung
       verurteilt, weil er als Abgeordneter viele Jahre seine eigene Gattin
       Penelope als angebliche Assistentin bezahlt hat, die dann nicht in der Lage
       war, vor Gericht Belege für eine reelle Arbeit zu liefern.
       
       Die zukünftigen Mitglieder der Nationalversammlung, die wegen allfälliger
       Interessenkonflikte auch ihr Vermögen, ihre Beteiligungen und Investitionen
       offenlegen müssen, sind spätestens seit diesem „Penelope-Gate“ gewarnt: ihr
       Portefeuille wird unter die Lupe genommen.
       
       ## Ausgelassene Eintracht zwischen Links und Rechts
       
       Jede Sitzung beginnt und endet meistens in der „Buvette“ im Palais Bourbon.
       Dieses prächtige Bistro im Art-nouveau-Stil mit Gartenterrasse ist von den
       Medien und Besucher*innen abgeschirmt im neoklassischen Bau versteckt.
       In diesem Café nämlich herrscht eine ausgelassene Eintracht, wo linke und
       rechte Politiker*innen bei einem Glas Wein fraternisieren, als ob sie
       sich nicht Minuten zuvor noch im Ratssaal beschimpft hätten.
       
       Niemand außer den 577 Abgeordneten hat hier Zutritt, selbst ihre
       Assistent*innen werden höflich, aber bestimmt vom Chef de service als
       persona non grata abgewiesen. Denn hier wird französische Geschichte
       gemacht: 1950 gab in der Buvette der Ex-Priester und Widerstandskämpfer
       Félix Kir als Abgeordneter aus Dijon seinen Namen dem heute berühmten
       Cocktail aus Cassislikör und Weißwein. Wer wagt da noch zu behaupten,
       Frankreichs Abgeordnete seien bedeutungslos?
       
       11 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rudolf Balmer
       
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