# taz.de -- Revue an Komischer Oper Berlin: Die schwere Kunst des Leichtesten
       
       > Barrie Kosky war zehn Jahre Intendant der Komischen Oper Berlin. Mit
       > einer Revue feierte der Australier jetzt seinen Abschied.
       
 (IMG) Bild: In „Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue“ verliert man bald den Überblick
       
       Zehn Jahre lang hat Barrie Kosky, der schwule Jude aus Australien, die
       Komische Oper in Berlin geleitet. Absolut niemand in der Stadt wollte ihn
       loswerden, aber er fand, dass es nun genug sei, und bat den Senat schon vor
       einiger Zeit, seinen Vertrag nicht mehr zu verlängern. Am Freitag letzter
       Woche zog er Bilanz. Auf der Bühne, vor ausverkauftem Haus mit einer
       Produktion, die in weniger als drei Stunden zusammenfasst, worauf es ihm
       ankommt, dem Musiker, Regisseur und Intellektuellen.
       
       Es ist ein Rückblick geworden, auch auf seine Zeit als Intendant des
       Hauses, aber nicht nur. Koskys Horizonte waren immer weit gespannt, oft
       über den Rahmen eines Werkes hinaus. Deswegen haben einige seiner
       Inszenierungen Maßstäbe gesetzt: die [1][„Meistersinger“ in Bayreuth] etwa
       oder „Moses und Aron“ in Berlin. Er zählt heute zu den wichtigen,
       international gefeierten Regisseuren. Wichtiger war ihm jetzt aber etwas
       ganz anderes.
       
       Er hat mit Adam Benzwi, dem Dirigenten, Pianisten und Professor an der
       Berliner Universität der Künste, ein Kapitel der Kulturgeschichte
       erforscht, das hierzulande niemand kennt, nämlich das jüdische
       Unterhaltungstheater, das in den 50er und 60er Jahren des letzten
       Jahrhunderts in den Hotels und Restaurants in den Catskill Mountains im
       Norden von New York entstanden war. Das war eine Urlaubsregion mit billigen
       Hütten neben teuren Spitzenhotels für mehr oder weniger wohlhabende Juden,
       die sich in den Sommermonaten auf dem Land eine Art Schtetl eingerichtet
       hatten.
       
       Zwanzig Jahre danach wurde dort der Film „Dirty Dancing“ gedreht, und so
       ähnlich muss es auch damals zugegangen sein, Sex, Herz, Schmerz und
       Intrigen wild durcheinander. Kosky und Benzwi haben daraus eine Revue
       gebaut, eine Theaterform also, die heute eher historische als aktuelle
       Erinnerungen weckt. 21 Einzelnummern folgen hintereinander, jede steht für
       sich, ist komisch, traurig, glanzvoll bis zum Rausch oder auch intim bis
       zum Verstummen, manchmal alles zusammen.
       
       ## Man verliert bald den Überblick
       
       Fünf Mitglieder des festen Ensembles singen und spielen, dazu Gäste wie
       Helmut Baumann, Katharine Mehrling, Dagmar Manzel, Max Hopp und andere. Man
       verliert bald den Überblick, wer nun gerade in welche Rolle geraten ist.
       Einen Handlungsfaden gibt es ohnehin nicht, der für Wiedererkennung sorgen
       könnte, und die Kostüme von Klaus Bruns sind allesamt so extrem wie die
       Choreografien von Otto Pichler.
       
       Alle mussten zudem eine neue Sprache lernen. In den Catskill Mountains
       wurde Jiddisch geredet und gesungen, mit ein bisschen Ostküstenenglish
       dazwischen. Das Orchester spielt dazu raffiniert arrangierten Swing, Rumba
       und Calypso. Auch der Rock ’n’ Roll zog schon auf wie ein Gewitter in der
       Sommerfrische: Elvis tritt gleich fünffach auf, begleitet von einer
       stilrein hämmernden E-Gitarre im Graben.
       
       Es ist großartig, nicht immer perfekt, aber eben deswegen sehr lebendig.
       Über allem liegt eine Menschlichkeit, die anrührend ist, weil gerade sie
       nicht bloß vorgespielt wird. Sie bleibt glaubwürdig auch dann noch, wenn
       ein Schlager nur in zuckersüß dahinschmelzenden Geigen zum Höhepunkt kommen
       kann. Plötzlich ist das gar nicht schlimm oder kitschig. Im Gegenteil, es
       klingt merkwürdig wahr und schön.
       
       Erklären kann man sich das nur hinterher, wenn man begreift, dass Koskys
       Regie enorm begabte, professionell arbeitende Persönlichkeiten dazu
       gebracht hat, uns mit rücksichtsloser Leidenschaft zu unterhalten. Das und
       nichts anderes hat für sie gezählt. Sie rührten uns zu Tränen, ließen uns
       träumen und herzlich lachen.
       
       ## Das Orchester ist eine Sensation
       
       Große Kunst ist das allemal, vielleicht sogar die größte überhaupt, weil
       das Leichteste immer das Schwierigste ist. Allein schon das Orchester ist
       eine Sensation. Diese Musikerinnen und Musiker müssen täglich zwischen
       Barock, Klassik und Moderne wechseln, weil das nun mal zum Spielplan der
       Komischen Oper gehört. Die sonst überall mächtigen Generalmusikdirektoren
       hatten hier immer einen schweren Stand. Koskys solide musikalische
       Grundausbildung ließ ihn lieber nach Spezialisten für die jeweiligen
       Anforderungen suchen. Manchmal setzte er sich einfach selbst ans Klavier.
       
       Im Graben mussten sie alles aushalten. Jetzt liefern sie auch noch den
       alten Sound des Broadway, als hätten sie ihr Leben lang nie etwas anderes
       gespielt. Für ein normales Opernhaus ist das undenkbar. Aber die Komische
       Oper ist heute eben kein normales Opernhaus mehr. In einem langen
       [2][Interview mit der Online-Zeitschrift VAN hat Kosky] erläutert, welche
       Ansprüche er an sich selbst und sein Personal stellt.
       
       Harte Arbeit an jeder Einzelheit steht dahinter. Alles ist neu, niemand
       kennt die Komponisten und Autoren. Dennoch ist alles vertraut aus den
       Aufführungen der letzten Jahre, die anfangs oft missverstanden wurden.
       
       Der ewige Otto Pichler mit seinen Tänzern etwa, der Schwulenfummel und die
       nackten Ärsche: Sie waren nie Provokationen, sondern Erinnerungen an eine
       Kunst, die Kosky aus persönlicher Überzeugung bewahren will. Weil sie
       jüdisch ist und weil sie deshalb notwendig für das Ganze sei, so lässt sich
       die Idee seiner Revue beschreiben. Sie ist kein Abschied, sondern ein
       Programm, dessen Kern im Wortsinn konservativ ist.
       
       ## Die Kultur der Mehrheitsgesellschaften erweitert
       
       Es passt deshalb schlecht in den gegenwärtigen Diskurs um postkoloniale
       Identitäten, ist aber radikaler als die daraus abgeleiteten Rangfolgen
       möglicher Diskriminierung in der Gegenwart. Kosky möchte das Theater
       zurückholen, das immer wieder und überall die Kultur der jeweiligen
       Mehrheitsgesellschaften mit großem Erfolg erweitert hat um spirituelle
       Traditionen, Sitten und Erfahrungen, die nur Juden haben können. Dieses
       Theater macht Spaß, mehr sollte seine Revue gar nicht beweisen. Das ist ihr
       gelungen. Sie steht bis zum 10. Juli auf dem Spielplan und danach nie
       wieder.
       
       Historisch ist sie also in jedem Fall und es war ein sehr politischer
       Abend. Ein wenig Zeitenwende lag in der Luft. [3][Claudia Roth, amtierende
       Kulturstaatsministerin], hatte die Premiere mit einer Dankesrede eröffnet.
       Wenn sogar Mitglieder einer deutschen Regierung so viel spontanen Applaus
       erhalten wie sie, kann es ja nur besser werden.
       
       Kosky selbst bleibt sowieso in Berlin. Am Tag vor der Premiere hat er im
       Lokalradio eine Liebeserklärung an die Stadt abgegeben. Seine nächste
       Premiere an der Komischen Oper steht schon fest: „La Cage aux Folles“ von
       Jean Poiret. So wird es weitergehen, schwul und jüdisch. Zwei eigene
       Produktionen in jedem Jahr hat er der neuen Intendanz der Komischen Oper
       versprochen. Danke, Barrie.
       
       13 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Niklaus Hablützel
       
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