# taz.de -- Die Zukunft der Linkspartei: Eine Partei auf Sinnsuche
       
       > Die Linkspartei verliert Wahlen und macht unverdrossen weiter wie immer.
       > Sie muss entscheiden, was sie will, sonst wird sie bedeutungslos.
       
 (IMG) Bild: Die Partei droht zu einer linken Sekte zu werden, findet unser Autor
       
       Der Soziologe Robert Michels schrieb vor mehr als hundert Jahren: „Die
       Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler.“
       Adressiert war seine Analyse an die Sozialdemokratie vor 1914. Der
       revolutionäre Schwung der SPD sei, so der linkssozialistische Soziologe, in
       der Organisation verloren gegangen. Jede Partei habe die Tendenz, eine
       verselbstständigte Parteibürokratie auszubilden, die letztlich nur das
       eigene Überleben im Sinn hat.
       
       Dieses „eherne Gesetz der Oligarchie“ legt sich wie Mehltau über die
       Parteien. Bei bürgerlichen Parteien, die als Machtmaschinen Interessen
       bündeln, fällt das weniger auf als bei linken, die Idealen wie Fortschritt
       und Befreiung verpflichtet sind. Die Linkspartei wirkt derzeit in manchem
       wie eine Illustration dieser Analyse. Der Sinn der Partei erodiert, doch
       der Apparat von Fraktion und Partei genügt unbeeindruckt sich selbst.
       
       Eine 39-köpfige Parlamentsfraktion, in der sechs frühere Partei- oder
       Fraktionsvorsitzende sind, wirkt wie ein Ausrufezeichen der These, dass
       Parteieliten dazu neigen, Strukturen zu nutzen, in denen Geld fließt.
       Nachdem die Linkspartei [1][bei der Bundestagswahl ein deprimierendes
       Ergebnis] erzielte, passierte – nichts. Niemand übernahm Verantwortung,
       niemand trat zurück. Die Beharrungskräfte des Apparates erstickten die
       naheliegende Idee, dass man schleunigst etwas verändern muss, wenn es nicht
       weiter abwärts gehen soll.
       
       Für Michels war die bürokratische Erstarrung der Sozialdemokratie ein
       unvermeidlicher Kollateralschaden ihres Aufstiegs. Sie wuchs – und wurde
       ängstlicher. Bei der Linkspartei ist die innere Verholzung ein Effekt ihrer
       Schrumpfung. Sie wirkt von Niederlage zu Niederlage verstockter und
       unbeweglicher. Anders als in der autoritär-sozialdemokratischen
       Top-down-Partei, die Michels beschrieb, bildet der Apparat hier auch nicht
       das Machtzentrum, das die Organisation lenkt.
       
       ## Deprimierende Bundestagswahl
       
       Ein in der Linkspartei 2022 ist der Apparat nur ein Puzzleteil unter
       vielen, die Partei ein loser Verbund von Strömungen, Fraktionen und
       miteinander oft in inniger Abneigung verkeilter Gruppen und Grüppchen. Was
       AntikapitalistInnen und TechnokratInnen, Regierungsfans und -gegnerInnen,
       Bewegungslinke und gewerkschaftlich Orientierte, junge woke AktivistInnen
       und Traditionslinke zusammenhält, ist fraglich.
       
       Diese Fliehkräfte werden seit fast zehn Jahren durch machttaktische
       Bündnisse eingehegt – um den Preis, als Partei kaum noch erkennbar zu sein.
       Steht [2][die Linkspartei in der Russlandfrage] für die kalte
       Appeasementpolitik von Sevim Dağdelen oder für [3][Bodo Ramelow], der
       Waffenlieferungen an die Ukraine befürwortet? In der Klimapolitik für
       radikale Maßnahmen oder angezogene Handbremse? Diese Liste lässt sich sehr
       lange fortsetzen. Die Partei stürzt sich mit Lust in identitätspolitisch
       aufgeladene Fehden.
       
       Ihr fehlt die Fähigkeit, Positionen kommunikativ zu verbinden – vor allem
       aber der Mut, Grenzen zu ziehen. Dağdelen zieht auch nach Putins Überfall
       auf Kiew gegen die „Aufrüstung des Westens“ zu Felde und unterstellt der
       Ampel, „per Wochenbefehl den ‚Sieg‘ gegen Russland“ zu fordern. Dağdelen
       und andere haben sich in ein antiimperialistisches, gegen die Realität
       sorgsam abgeschottetes Paralleluniversum verabschiedet, in dem, egal was
       passiert, immer Nato, USA, Regierung Schuld sind.
       
       ## Sevim Dağdelen unverändert russlandtreu
       
       Sie ist immer noch Obfrau der Fraktion im Auswärtigen Ausschuss. Ein
       steuerndes Zentrum, das Strategien entwirft und imstande ist, sie
       durchzusetzen, ist nicht in Sicht. Das wird wohl so bleiben, egal ob die
       GenossInnen in Erfurt [4][Martin Schirdewan] oder [5][Sören Pellmann],
       Janine Wissler oder Heidi Reichinnek wählen. Die Lage wirkt paradox. Die
       Partei verliert an Kraft, an WählerInnen und Mitgliedern. Und sie wird
       gleichzeitig immer manövrierunfähiger.
       
       Diese Mixtur aus Unbeweglichkeit und Beliebigkeit ist recht einmalig in der
       deutschen Parteiengeschichte. Ist die Fesselung in dieser selbst
       konstruierten Falle ausweglos – oder gibt es noch Spielräume? [6][Gregor
       Gysi] hat kürzlich skizziert, dass die Partei in erster Linie für
       „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ da sein soll, erst in zweiter Linie
       für Studierende, Arbeitslose oder Geflüchtete.
       
       Das war eine Parteinahme in dem mit viel Affektaufwand betriebenen
       innerparteilichen Kampf zwischen TraditionalistInnen und Linksliberalen.
       Das Interessante liegt jenseits der innerparteiliche Markierungen, für die
       Echoräume in der Wirklichkeit fehlen. In den Gewerkschaften spielt die
       Partei, anders als vor zehn Jahren, nur eine randständige Rolle.
       
       Zur klimaneutralen Transformation der Industrie, dem größten Umbau der
       Arbeitsgesellschaft seit Jahrzehnten, hat sie weder theoretisch noch
       praktisch viel beizutragen. 12 Euro Mindestlohn, auf den sie das Copyright
       hatte, setzt die Ampel um. Die Linkspartei ist 2022 kaum mehr in der Lage,
       die Interessen von ArbeiternehmerInnen zu vertreten.
       
       Die Partei droht zu einer linken Sekte zu werden, einer Art größeren DKP
       (jedenfalls wenn der Wagenknecht-Dağdelen-Flügel sich nicht selbst
       abspaltet). Wo die Partei noch Realpolitik macht, in Berlin, Bremen,
       Schwerin und Erfurt, kann man vielleicht noch eine Weile überwintern.
       Landtagswahlen sind zunehmend abgekoppelt vom Bundestrend. Das verschafft
       eine Schonfrist.
       
       „[7][Links von der Ampel bleibt viel Platz]“, sagt Parteichefin Janine
       Wissler und verweist auf steigende Mieten, wachsende Ungleichheit und
       Aufrüstung. Die Partei kann vielleicht Container kommender sozialer
       Protestbewegungen sein. Aber das ist eine etwas mechanische Idee von
       Politik in Zeiten, die von tumulthafter Ereignisdichte und einer
       launischen, stimmungsempfindlichen Wählerschaft geprägt sind.
       
       Bauen kann man darauf jedenfalls nicht. Mit dem, was die Partei hätte
       werden können, eine linksreformerische Kraft, nicht so vermachtet wie die
       SPD, nicht so bildungsbürgerlich wie die Grünen, hat das nichts mehr zu
       tun.
       
       24 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Linke-verliert-bei-der-Bundestagswahl/!5800436
 (DIR) [2] /Linkspartei-in-der-Existenzkrise/!5845373
 (DIR) [3] https://www.t-online.de/region/erfurt/id_100020572/ramelow-kein-formel-kompromiss-der-linke-zum-ukrainekrieg-.html
 (DIR) [4] /Vor-dem-Parteitag-der-Linken/!5861620
 (DIR) [5] /Linkspartei-in-der-Krise/!5805756
 (DIR) [6] https://www.rnd.de/politik/die-linke-in-der-krise-gregor-gysi-will-die-linkspartei-retten-QRJNIXDJDXGZGPS2ENS5KGOJOY.html
 (DIR) [7] https://twitter.com/dieLinke/status/1537456161087270913
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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