# taz.de -- 50 Jahre Interrail: Westeuropa mit dem Zug
       
       > Mit dem Interrail-Ticket durch Westeuropa: Frankreich, Spanien, Portugal,
       > England. So wie früher als Student, nur jetzt als Senior. Ein
       > Selbstversuch.
       
 (IMG) Bild: Am Bahnhof im französischen Bordeaux
       
       Vor 50 Jahren, [1][im März 1972, wurde das Interrail-Ticket aus der Taufe
       gehoben], welches vor allem Jugendlichen kostengünstige, unbegrenzte
       Bahnreisen durch ganz Europa ermöglichte. Ich war einer von ihnen. Im
       Sommer 1975 brach ich mit meinem Schulfreund Herby zu einer [2][epischen
       Reise] auf, bei der wir nicht nur bis nach Marokko fuhren, sondern auch
       noch Schottland einen Besuch abstatteten. In unserem Gepäck befand sich
       neben Zelt und Schlafsack auch ein voluminöses „Kursbuch“, in dem fast alle
       Zugverbindungen Europas verzeichnet waren – Internet und Handys gab es
       nicht.
       
       Vor Kurzem habe ich diese Reise mit einigen Abwandlungen wiederholt. Als
       mittlerweile 65-Jähriger kann ich Interrail für Senioren nutzen: 7
       Reisetage in einem Monat für schlappe 300 Euro. Als Professor für
       nachhaltigen Tourismus erforsche ich gerade flugzeug- und autofreie Reisen
       in Europa. Die meisten Menschen und auch die meisten Mitarbeiter*innen
       von Reisebüros und Reiseveranstaltern können sich kaum vorstellen, dass das
       geht. Was lag da also näher, als das Ganze selbst auszuprobieren?
       
       Am ersten Tag fahre ich an einem Stück von Schleswig-Holstein bis nach
       Paris. Was für eine großartige Stadt! Jedes Mal, wenn ich nach Paris komme,
       genieße ich die unglaubliche urbane Dichte, das Multikulturelle. Die
       winzige Bäckerei, die Gemüseauslagen, das Käsespezialitätengeschäft am Fuß
       vom Montmartre sind immer noch da. Am nächsten Morgen in der völlig
       überfüllten Metro zum Bahnhof Montparnasse, zur Weiterfahrt nach Spanien.
       
       Am Nachmittag komme ich nach [3][gut fünf Stunden Fahrt] im strömenden
       Regen im nordspanischen San Sebastián, auf Baskisch Donostia, an. Die 500
       km nach Bordeaux hat der französische Hochgeschwindigkeitszug TGV in nur
       zwei Stunden zurückgelegt; danach geht es etwas gemächlicher voran. In
       Donostia bin ich zum ersten Mal. Die Stadt ist wunderschön, eine echte
       Überraschung! Sie liegt zwischen subtropisch anmutenden grünen Hügeln an
       einer muschelförmigen Bucht und gleichzeitig an einem breiten Fluss, der
       dort ins Meer fließt. Neben der schönen Altstadt prägen prächtige
       Jugendstilhäuser das Bild.
       
       ## Grenzüberschreitender Bahnverkehr ist rudimentär
       
       Am dritten Tag geht es weiter Richtung Westen. Nach den superschnellen
       Zügen der beiden ersten Tage geht es nun vergleichsweise im Schneckentempo
       durch Nordspanien – zehn Stunden bis nach Santiago de Compostela, Ziel des
       [4][berühmten Pilgerwegs.] Santiago ist in seinem historischen Zentrum
       trotz des jetzt wiederbelebten Tourismus eine wunderbare, immer noch
       mittelalterlich anmutende Stadt. Kirchen sind im Stadtbild allgegenwärtig.
       Ihr Inneres glänzt von barockem Gold, was in der Kathedrale schon fast
       monströse Ausmaße annimmt.
       
       Danach ist erst mal Schluss mit Bahnreisen. Der grenzüberschreitende
       Bahnverkehr zwischen Spanien und Portugal ist rudimentär. Es gibt nur ein
       oder zwei Verbindungen pro Tag, alle langwierig oder zu ungünstigen Zeiten.
       Ich steige daher auf den Bus um. [5][Flixbus ist auch hier aktiv,] daneben
       nationale Busgesellschaften wie ALSA (Spanien) oder Rede Expressos
       (Portugal), mit denen man auch in kleinere Orte wie Peniche kommt, wo ich
       eine potenzielle Partnerhochschule besuchen will.
       
       Porto, meine nächste Station, ist wunderbar am Fluss Douro gelegen und
       voller Tourist*innen, so als hätte es Corona nie gegeben. Am Himmel sieht
       man zahlreiche Flugzeuge, die Wochenendtrips in attraktive europäische
       Städte ermöglichen. Für mich selbst ist dies der fünfte Reisetag, aber eben
       auch schon die vierte Stadt auf dem Weg nach Peniche.
       
       In Peniche, nördlich von Lissabon gelegen, komme ich am 25. April an, ein
       nationaler Feiertag, an dem Portugal den Jahrestag der Nelkenrevolution von
       1974 begeht, die der jahrzehntelangen Diktatur ein Ende setzte. Kurz darauf
       hielt auch in Spanien nach dem Tode Francos die Demokratie Einzug, was in
       beiden Ländern zu wirtschaftlicher Entwicklung und Wohlstand führte. In
       Portugal ist die Küstenregion jetzt dicht besiedelt, während das
       Landesinnere von Abwanderung betroffen ist. Viele Ausländer*innen und
       Spanier*innen aus Madrid und dem spanischen Binnenland haben hier
       Zweitwohnungen, die in der Nebensaison häufig leer stehen. Peniche selbst
       ist verschlafen, aber es gibt bekannte Surfstrände in der Umgebung, die für
       ihre perfekten und gelegentlich auch sehr hohen Wellen bei Surfern aus ganz
       Europa beliebt sind.
       
       ## Onlinekonferenz mitten auf der Strecke
       
       Von Peniche muss ich in zwei Tagen nach Barcelona kommen, weil ich dort
       einen Termin habe, der sich nicht anders legen ließ. Auf der Strecke muss
       ich auch noch eine Onlinekonferenz unterbringen. Das ist logistisch eine
       gewisse Herausforderung, die sich jedoch mit einem kurzen Zwischenstopp in
       Lissabon und einer Übernachtung im spanischen Badajoz lösen lässt. Mit dem
       Bus geht es durch die ausgedehnten Korkeichenwälder des Alentejo über die
       Grenze in die spanische Extremadura. Badajoz ist unspektakulär, eine
       ursprünglich von Arabern gegründete Stadt, die im Spanischen Bürgerkrieg
       Schauplatz von Massenerschießungen der republikanischen Verteidiger durch
       faschistische Truppen war. Was bis vor Kurzem noch eine schreckliche, aber
       ferne geschichtliche Begebenheit gewesen wäre, erhält durch den Krieg in
       der Ukraine neue Aktualität.
       
       Von Badajoz geht es wieder mit dem Zug weiter, dem ich gegenüber dem Bus
       doch eindeutig den Vorzug gebe: Es geht meistens schneller; man vermeidet
       Autobahnen und Gewerbegebiete, hat mehr Platz und kann besser arbeiten.
       Dieser Zug rattert durch blühende Wiesen, vorbei an Storchennestern auf
       Strommasten und später sogar an den schneebedeckten Bergen der Sierra de
       Gredos westlich von Madrid. Bedingt durch die Mechanisierung der
       Landwirtschaft sind auch die Extremadura und Kastilien von ländlicher
       Abwanderung betroffen, oft in Form von Binnenmigration in die wenigen
       Städte der Region, während die Dörfer veröden.
       
       Barcelona ist so wie immer: schon Ende April voller Tourist*innen aus
       ganz Europa, die hier mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Kurzurlaub
       verbringen, und das geht eben nur mit dem Flugzeug, wenn man nicht gerade
       in der Nähe wohnt. Die Menschenmassen in der Altstadt sind ein Graus für
       all diejenigen, die im Urlaub authentische Kultur oder persönliche
       Begegnungen mit Einheimischen suchen. Es sieht so aus, als wäre Barcelona
       trotz Corona schon wieder von Overtourism betroffen.
       
       Dagegen ist Bordeaux, wo ich zwei Tage später einen Zwischenaufenthalt
       einlege, eine Entdeckung! Die wohlhabend wirkende Altstadt liegt in einem
       weiten Bogen am Ufer der Garonne. Das Hotel ist im Stil der 1920er Jahre
       eingerichtet. Aus Nostalgiegründen schaue ich mir die 1.-Mai-Demo an, die
       einen tatsächlich an früher erinnert: Alle möglichen linken Gruppierungen
       stellen weitgehende soziale Forderungen („Un autre monde est possible!“ –
       Eine andere Welt ist möglich!).
       
       ## Von Paris durch den Eurotunnel nach Englang
       
       Am nächsten Tag geht es wieder nach Paris, wo ich passenderweise im Hotel
       „Entre deux gares“ zwischen Ostbahnhof und Nordbahnhof übernachte. Von
       einem kleinen Balkon im 5. Stock schaue ich über die Stadt und die
       ausgedehnten Bahngleise und finde sogar noch Zeit, das Einwandererviertel
       La Chapelle zu besuchen, wo man sich in einer Straße in Indien wähnt und in
       der nächsten in Zentralafrika. Dort befindet sich auch ein veganes Café,
       das ich noch von einem früheren Besuch kenne – vielleicht schon der erste
       [6][Vorbote der Gentrifizierung], die sich auch dieses Viertels bemächtigt?
       
       Am nächsten Tag reise ich [7][mit dem Eurostar durch den Tunnel unter dem
       Ärmelkanal] weiter nach England. In Bristol feiere ich mit Freunden meinen
       65. Geburtstag. Die Stadt gilt als Hochburg der englischen
       linksalternativen Szene, was sich in vielen kooperativ betriebenen Clubs
       und Cafés und den allgegenwärtigen Wandmalereien zeigt. Bristol ist die
       Heimat von Banksy, einem inzwischen weltberühmten Street-Art-Künstler, der
       neben seinen Kunstwerken auch mit anarchistischen Aktionen auf sich
       aufmerksam gemacht hat. Und die Stadt hat in den 90er Jahren TripHop, den
       „Bristol Sound“, hervorgebracht, mit Bands mit Massive Attack, Tricky und
       Portishead.
       
       In England endet meine Interrail-Reise. Heute sind die Züge viel bequemer
       und schneller als vor 50 Jahren, aber sie rasen jetzt durch Betonrinnen;
       die Gewerbegebiete entlang der Strecken haben sich multipliziert –
       Manifestationen von 30 Jahren Turbo-Globalisierung – ebenso wie die
       industrialisierten Agrarwüsten, die sich häufig bis zum Horizont
       erstrecken. Anders als früher ist auch die Reservierungspflicht für viele
       Züge, vor allem in Frankreich und Spanien, die Flexibilität und Spontanität
       beeinträchtigt und zu zusätzlichen Kosten führt. Zudem gibt es begrenzte
       Sitzkontingente für Interrail-Reisende, die z.B. beim Eurostar zwischen dem
       Kontinent und London schon mal dazu führen kann, dass man an einigen Tagen
       nicht reisen kann, obwohl noch Plätze im Zug frei sind.
       
       ## Für eine größere Rundreise braucht man Zeit
       
       Von wenigen Ausnahmen abgesehen haben meine Bahnfahrten reibungslos
       geklappt. Ich habe allerdings jeden Tag oder jeden zweiten Tag im Zug oder
       Bus gesessen, was auf die Dauer anstrengend ist. Man sollte sich für eine
       größere Rundreise also deutlich mehr Zeit nehmen oder aber kürzere
       Distanzen zurücklegen. Oder sich ein bestimmtes Urlaubsziel aussuchen und
       dort länger bleiben. Dann fallen An- und Abreise zeitlich nicht so ins
       Gewicht. Zusätzlich sollte, wie von Umweltverbänden schon länger gefordert,
       ein gutes europäisches Nachtzugnetz etabliert werden, welche es zum
       Beispiel möglich machen würde, in 24 Stunden von Deutschland bis nach
       Südspanien zu reisen.
       
       Was man aber auch sagen muss: In Frankreich und Spanien, mehr noch als in
       Deutschland, hat die Modernisierung und Beschleunigung des Bahnnetzes nur
       auf den Hauptachsen stattgefunden. Das lokale Schienennetz in den
       ländlichen Regionen ist ausgedünnt und unterentwickelt. Die Züge, die dort
       unterwegs sind, und die Bahnhöfe sind häufig heruntergekommen. Ich habe auf
       meiner Reise fast nur größere Städte besucht. In Kleinstädte zu kommen ist
       bereits umständlich und auf dem Land ist man ohne Auto meist verloren.
       Dennoch wäre im Sinne des Klimaschutzes bereits viel gewonnen, wenn die
       besonders emissionsintensive An- und Abreise auf Bahn und Bus verlagert und
       das Auto nur noch vor Ort über kleinere Distanzen eingesetzt würde.
       
       18 Jul 2022
       
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