# taz.de -- Nachtzüge in Europa: Sie rollen wieder
       
       > Eine verlorengegangene Form des Reisens wird wieder möglich: Fahrten im
       > Schlafwagen. Das geht auch zwischen Wien und der französischen
       > Hauptstadt.
       
 (IMG) Bild: Der Zug nach Paris steht bereit
       
       IM ZUG taz | Die Reise beginnt mit einer Viertelstunde Verspätung. Auf dem
       Bahnsteig fünf am Wiener Hauptbahnhof stehen die Passagiere schon etwas
       ungeduldig und manche leicht fröstelnd. Auch Paare mit kleinen Kindern und
       der eine oder andere Hund wollen einsteigen. Endlich fährt er ein, der
       [1][Nightjet] nach Paris. Er besteht aus zwei Waggons mit Schlafabteilen,
       drei Liegewagen und zwei Waggons mit Sitzabteilen zweiter Klasse. Einer
       davon fährt nur bis München.
       
       Statt eines Speisewagens gibt es nur eine [2][Speisekarte]: Gulaschsuppe,
       Gemüsecurry, Spaghetti Bolognese, Frankfurter mit Senf, Kaiserschmarrn mit
       Zwetschkenröster … Die Auswahl schwankt zwischen international und
       bodenständig und der Schaffner bringt es.
       
       Nach vierzehn Jahren gibt es seit einer Woche wieder eine nächtliche
       Direktverbindung zwischen den beiden Weltstädten. „Dreimal wöchentlich in
       die Stadt der Liebe.“ So bewerben die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB)
       ihre neue Nachtverbindung Wien–Paris. Dreimal wöchentlich muss es nicht
       sein, aber zum ersten Mal nach über 40 Jahren Parisabstinenz sehr gerne.
       Die Erinnerungen an Besuche in den Zeiten von Interrail und einen Monat an
       der renommierten Pariser Eliteschmiede ENA sind verblasst.
       
       Johannes war noch nie in Paris. Seine Frau Simone hat ihm ein romantisches
       Wochenende in der Stadt der Liebe zum Geburtstag geschenkt. „Ich habe vier
       Jahre in Brüssel gelebt und es nie nach Paris geschafft“, gesteht er: „Das
       muss ich jetzt endlich nachholen und den Fehler korrigieren.“ Simone, die
       für eine Gewerkschaft arbeitet, ist schon im September über Social Media
       darauf aufmerksam geworden, dass es diese Verbindung geben wird: „Zwei Tage
       später habe ich gebucht.“ Geflogen wären die beiden auf keinen Fall. „Dann
       hätte es ein anderes Geburtstagsgeschenk gegeben“, sagt Simone, die vor
       Jahren schon einmal mit der Schule dort gewesen ist.
       
       Yannick ist gebürtige Französin und reist mehrmals im Jahr zwischen Wien
       und Paris hin und her. Seit 30 Jahren ist sie in Wien verheiratet. „Wir
       sind regelmäßig mit dem Nachtzug gefahren, solange es den noch gab.“
       
       Vor 14 Jahren wurde der Orientexpress, der Paris über Wien mit Istanbul
       verband, eingestellt. Das war zuletzt allerdings kein glamouröser Zug,
       sondern vor allem ein Transportmittel für diejenigen, die damals
       Gastarbeiter genannt wurden. Seither musste auch Yannick fliegen, um ihre
       heute 86-jährige Mutter zu besuchen. „Ich freue mich wahnsinnig über das
       Nachtzugangebot“, sagt sie. Es dauere zwar lange, aber „es ist auch
       nichts dabei“. Planabfahrt in Wien ist 19.40 Uhr, Ankunft nach
       Zwischenhalten unter anderem in München und Karlsruhe um 9.42 Uhr an der
       Seine.
       
       ## Auch nicht teurer als eine Flugreise – aber viel ökologischer
       
       Die Wiedereinführung dieser Nachtverbindung ist ein Ereignis, das
       angesichts der Klimadebatte nicht unterschätzt werden kann. Zur
       Jungfernfahrt am 13. Dezember fanden sich der französische Verkehrsminister
       Jean-Baptiste Djebbari und der Chef der französischen Staatsbahnen SNCF in
       Wien ein. „Mit der Bahn zu reisen, bedeutet ein Verkehrsmittel zu wählen,
       das 50-mal weniger CO2 als eine Autofahrt und 80-mal weniger als eine
       Flugreise verursacht“, sagte Alain Krakovitch, Generaldirektor von Voyages
       SNCF.
       
       Diese Überlegung steht auch für Yannick im Vordergrund. „Aber es ist auch
       weniger Stress als zu fliegen, vor allem mit meiner Mutter“, sagt sie. Die
       wird sie auf der Rückreise mitbringen. Yannick wohnt in Velden am
       Wörthersee und wird dann von Salzburg den Anschlusszug nach Villach nehmen.
       Am liebsten würde sie mit ihrem Mann ganz Europa mit dem Nachtzug bereisen,
       bedauert aber, dass man nur selten Auto oder Motorrad mitnehmen kann.
       
       Die Französin Florence lebt seit acht Jahren mit ihrem Mann in Wien. Er
       arbeitet als Dirigent, sie genießt ihre Pension. Florence wird die
       Feiertage bei Familienangehörigen in Frankreich verbringen. Florence hat
       gerechnet und findet, dass der Zug kaum teurer kommt als ein Billigflug,
       wenn man das Taxi vom Flughafen in die Stadt dazuzählt. 223 Euro, so viel
       kostet derzeit das günstigste Angebot von [3][Austrian Airlines] für einen
       Wochenendflug nach Paris.
       
       Florence hat ein Single-Abteil im Schlafwagen gebucht, mit Dusche und WC,
       also richtigen Luxus. Sie werde zwar auch in Zukunft immer wieder fliegen,
       meint sie, „aber aus Umweltgründen ist der Zug natürlich viel besser“. Auch
       Florence hat gleich zugeschlagen, nachdem sie von der neuen Verbindung
       erfuhr. Schon ihre Eltern und Großeltern seien gerne mit dem Zug gereist,
       erzählt sie: „Meine Großmutter ist in den 1920er Jahren ganz allein mit der
       Transsibirischen Eisenbahn quer durch Asien gefahren.“
       
       Ganz so luxuriös wie einst in der Transsib geht es im Nightjet nicht zu.
       Die Schlafwagenabteile haben drei Liegen und ein Waschbecken mit Spiegel
       und Seife. Auf dem hochklappbaren Tisch wartet ein Papiersäckchen mit
       Stoffpantoffeln, wie man sie in Thermenhotels bekommt, einem Handtuch,
       einer Augenmaske und Ohrenstöpseln. Auch eine Flasche Wasser und zwei
       kleine Packungen Knabberzeug warten auf jeden Fahrgast. Alles bio und
       Fairtrade, versteht sich.
       
       Auch sonst scheint alles politisch korrekt: Gepackt wurde die Tasche von
       Klientinnen und Klienten der Lebenshilfe Wien, einem Verein für Menschen
       mit intellektueller Beeinträchtigung. Ökologisch ist sogar die Toilette –
       „mit geschlossenem Abwassersystem“.
       
       Auf Schritt und Tritt scheint sich bemerkbar zu machen, dass Österreich
       eine grüne Verkehrsministerin hat. Doch die Ökowende hat bei der
       österreichischen Bahn schon lange vor Beginn grüner Regierungsverantwortung
       eingesetzt. Zur Begrüßung bringt die freundliche Schaffnerin eine
       Piccoloflasche Sekt. Die Nachbarin will den nicht alleine trinken und
       kommt auf einen Plausch vorbei.
       
       In der Holzklasse kann man bei rechtzeitiger Buchung einen Platz im
       Sitzabteil für günstige 29,90 Euro bekommen. Liegewagen gibt es ab 59,90
       Euro und einen Platz im Schlafwagen ab 89,90 Euro. Dazu kommen 45
       beziehungsweise 85 Euro für Bett oder Liege. Je später man bucht, desto
       teurer wird es – wie beim Fliegen. Wer sich ein Bett im Schlafwagen
       leistet, wird mit einem üppigen Frühstück verwöhnt – bio und von regionalen
       Lieferanten. Im Liegewagen ist die Versorgung bescheidener.
       
       Dreimal wöchentlich geht es mit dem Nightjet von Wien nach Paris Gare de
       l’Est, jeweils am Montag, Donnerstag und Samstag. Jeweils einen Tag später
       fährt der Zug nach Wien zurück.
       
       ## Österreich investiert jährlich 3 Milliarden in die Schiene
       
       Im Coronajahr 2020 haben die Österreichischen Bundesbahnen 287 Millionen
       Fahrgäste befördert, „klimaschonend und umweltfreundlich“, wie stolz betont
       wird, denn der Strom für Züge und Bahnhöfe stamme zu 100 Prozent aus
       erneuerbaren Energien. Die rund 97 Prozent Pünktlichkeit, derer sich die
       ÖBB rühmen, klingen für geplagte deutsche Bahnreisende wie eine ferne
       Utopie. Aber Österreich hat in den vergangenen Jahren auch mächtig in
       Infrastruktur und Ausbau des Verbindungsnetzes investiert – 3 Milliarden
       Euro jährlich allein in die Bahninfrastruktur.
       
       Während andere Eisenbahngesellschaften wie die Deutsche Bahn
       Schlafwagenverbindungen eingestellt haben, bauen die Österreicher die
       Nachtverbindungen aus. Man kommt im Nightjet nicht nur bequem in die
       französische Hauptstadt, sondern kann von Wien auch nach Bregenz, in die
       Schweizer Metropole Zürich, nach Berlin, Brüssel und Hamburg reisen. Im
       Süden warten Venedig, Florenz, Rom, Mailand und die Hafenstadt Livorno. Im
       [4][EuroNight], der von anderen Bahnunternehmen betrieben wird, kommt man
       über Nacht in Städte in Polen, Ungarn, Deutschland, der Schweiz und
       Italien. In den nächsten Jahren, so verspricht ein Sprecher der ÖBB, werden
       auch Nachtzüge von Berlin nach Brüssel und zwischen Berlin und Paris
       eingerichtet.
       
       Eine bequeme Reise also – wäre da nicht die Pandemie. Kurz nach Salzburg
       bleibt der Zug längere Zeit stehen. Beamte der deutschen Grenzpolizei
       steigen zu und kontrollieren die Pässe. Dann kehrt Ruhe ein. Es ist 11 Uhr
       nachts und bis Frankreich stören weder Durchsagen noch Schaffner oder
       Polizisten. Sanft ruckelt den Reisenden die monotone Bewegung der Eisenbahn
       in den Schlaf. Der Zug ist nur etwa zur Hälfte besetzt. Da die anderen
       beiden Betten im Schlafwagenabteil frei bleiben, stellen sich bald
       erholsame Träume ein.
       
       Eine Stunde vor der Ankunft auf der Gare de l’Est klopft die Schaffnerin
       und bringt das Frühstück. Auf Wunsch laktosefrei, glutenfrei oder vegan.
       Der Kaffee kommt in einer echten Keramiktasse, das Besteck ist aus Stahl.
       
       Paris ist immer noch Paris. Ein bisschen schmuddelig, aber wie Wien noch
       von seiner alten imperialen Größe zehrend.
       
       ## Rückfahrt im Liegewagen
       
       Rückfahrt im Liegewagen. Hier bleiben nur zwei von sechs Liegen frei.
       Georges und Nathalie, beide etwa Mitte 30, er macht irgendetwas mit
       Computern, sie unterrichtet Mathematik und Physik, wollen ein Wochenende in
       Wien verbringen.
       
       Nach Mitternacht in Straßburg steigt noch ein Bayer aus Plattling zu. Er
       bekommt um 5 Uhr morgens sein Frühstück: Tee oder Kaffee und zwei Semmeln
       mit Butter und Marmelade, die man mit dem Plastikmesser verarbeiten muss.
       Auch sonst ist das Timing weniger optimal. Die deutschen Grenzer klopfen
       nach 1 Uhr an die Tür und wollen die Pässe sehen, manchmal auch die
       Impfnachweise.
       
       10.12 Uhr am Morgen. Der Zug fährt nach 14 Stunden und 14 Minuten Fahrt
       pünktlich in Wien ein.
       
       22 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [3] https://www.austrian.com/de/de/homepage
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