# taz.de -- Ukrainisches AKW unter Beschuss: Krieg und „friedliche“ Kernenergie
       
       > Trotz Beschuss zeigt sich um das Atomkraftwerk Saporischschja keine
       > erhöhte Radioaktivität. Aber das Tabu ist gebrochen: AKWs sind
       > militärische Ziele.
       
 (IMG) Bild: Ein Super-GAU wäre hier schlimmer einst in Tschernobyl: In Saporischschja strahlt mehr Material
       
       BERLIN taz | Das Szenario ist apokalyptisch: Die russischen
       Besatzungstruppen hätten das Atomkraftwerk Saporischschja „mit Sprengstoff
       verkabelt“, um es im Zweifel in die Luft sprengen zu können, erklärte
       Anfang der Woche das ukrainische Ministerium für Kultur und
       Informationspolitik. Der russische Armee-Befehlshaber am größten
       Atomkraftwerk in Europa wurde mit den Worten zitiert, „dies wird entweder
       russisches Land oder verbrannte Erde sein“.
       
       Ein militärischer Angriff auf eine Atomanlage sei „selbstmörderisch“, sagte
       UN-Generalsekretär António Guterres nach dem Beschuss des AKW-Geländes in
       der südlichen Ukraine am vergangenen Wochenende.
       
       Die UN-Atombehörde IAEA zeigte sich wegen der Situation wieder einmal „tief
       betroffen“ und forderte: „Jegliche militärische Aktion muss enden, die die
       nukleare Sicherheit gefährdet.“ Und der ukrainische Präsident Wolodimir
       Selenski hatte schon im März gewarnt: „Wenn das Kraftwerk in die Luft
       fliegt, wird das zehnmal stärker als Tschernobyl sein.“
       
       Wie groß ist also die Gefahr, dass der Überfall Russlands auf die Ukraine
       zu einer atomaren Katastrophe führt? Und welche Meldungen sind Fake News,
       wenn sich jetzt die Kämpfe um die Gegend rund um das AKW verlagern?
       Neutrale Beobachter wie die IAEA sind dort bislang nicht zugelassen.
       
       ## Krieg mit dem größten Atomkraftwerk in Europa
       
       Die „friedliche Nutzung der Atomkraft“, die Nuklearfans propagieren (Der
       Slogan der IAEA lautet: „Atome für den Frieden“), wird nun zum großen
       Risiko. Zum ersten Mal in der Geschichte wird in einem Land mit einem
       großen Nuklearpark heftig und rücksichtslos Krieg geführt.
       
       Dabei werden völkerrechtliche Regeln missachtet und Nuklearanlagen zu einem
       Teil der militärischen Strategie. Das bestätigte indirekt am Dienstag der
       Chef des ukrainischen Atomkraftbehörde Energoatom, Petro Kotin: Er forderte
       laut Agenturberichten, die Ukraine müsse Saporischschja unbedingt
       rechtzeitig vor dem Winter zurückerobern. Denn der russische Beschuss in
       der vergangenen Woche habe drei Leitungen beschädigt, die Saporischschja
       mit dem ukrainischen Stromnetz verbinden würden. Russland wolle dagegen die
       Anlage an sein eigenes Netz anschließen – dabei geht es auch um die
       Versorgung der Krim mit Strom.
       
       Das Risiko einer Katastrophe am größten Atomkraftwerk Europas steigt mit
       jedem Kriegstag: Saporischschja mit sechs großen Reaktoren mit jeweils 950
       Megawatt, die voller heißer Brennstäbe sind, ist zu einem militärischen
       Objekt geworden. Damit hat Russland ein jahrzehntealtes Tabu der
       internationalen Atomgemeinde gebrochen.
       
       Andererseits dämpfen Experten aber auch die Ängste, es drohe ein zweites
       Fukushima oder Tschernobyl: Bisher gibt es keine Messungen von radioaktiven
       Verstrahlungen. Die Reaktoren und die Behälter für radioaktiven Müll sind
       intakt, die Kühlung der Systeme ist durch mehrfache Absicherung bislang
       gewährleistet. Selbst ein Treffer auf die Reaktoren oder die
       Brennelementelager würde wohl nur unter sehr ungünstigen Bedingungen zu
       großer Verstrahlung führen. Ein Unfall im Brennelementelager wäre vor allem
       ein „lokales, höchstens ein regionales Problem“, heißt es vom deutschen
       Bundesamt für Strahlenschutz (BfS).
       
       Dazu kommt: Weder die Ukraine noch Russland haben ein strategisches
       Interesse an einem Super-GAU in Saporischschja. Nun fordert auch Russland,
       der UN-Sicherheitsrat solle sich mit der Lage befassen. Die Regierung in
       Moskau habe darum gebeten, dass der Chef der Internationalen
       Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, den UN-Sicherheitsrat am
       Donnerstag über „Angriffe der ukrainischen Streitkräfte auf das
       Kernkraftwerk Saporischschja und deren mögliche katastrophale Folgen“
       unterrichtet, heißt es aus Diplomatenkreisen. IAEA-Techniker sollen den
       Zustand des größten Atomkraftwerks Europas überprüfen. Die Ukraine hatte
       bereits am Montag die Inspektion der von russischen Soldaten besetzten
       Anlage gefordert.
       
       ## Stromnetz in Saporischschja beschädigt
       
       Vor Ort ist die Lage kompliziert: Am 3. und 4. März haben russische Truppen
       das Werksgelände am riesigen Stausee des Dnipro besetzt. Schon damals
       hielten Experten den Atem an, als ein Geschoss ein Schulungszentrum auf dem
       Gelände des Kraftwerks in Band setzte.
       
       Seitdem läuft der Betrieb unter russischer Regie, ausgeführt von
       ukrainischen Technikern. Von den sechs Reaktoren wurden damals drei
       heruntergefahren, ein vierter ging nach dem Angriff am Wochenende in die
       Notabschaltung. Denn ein Geschoss war nach Angaben des ukrainischen
       Betreibers Energoatom „direkt neben den Behältern für Atommüll“ gelandet.
       
       Der strahlende Müll wird in 174 großen Betonbehältern auf dem Gelände
       gelagert und enthält die gebrauchten Brennstäbe aus den Reaktoren, nachdem
       diese 5 Jahre im Wasserbecken einen Teil ihrer Radioaktivität verloren
       haben. Anders als etwa in Deutschland, das nach einem unterirdischen
       Endlager sucht, sieht die ukrainische Politik bislang nur vor, den Müll 50
       Jahre an den Kraftwerken zu lagern. Was danach passiert, ist ungewiss.
       
       Diese Behälter „HI-STORM FW“ der US-Firma Holtec haben Wände aus Stahl und
       75 Zentimeter Beton. Sie werden in vielen Ländern wie in den USA als
       Langfristlager für den Atommüll eingesetzt und schützen laut Hersteller
       Brennstäbe „vor natürlichen und menschengemachten Projektilen,
       einschließlich dem Einschlag eines F-16-Kampfjets“.
       
       Noch stärker gesichert seien auch die Schutzhüllen der sechs Reaktoren,
       sagt Uwe Stoll, Geschäftsführer und Experte für Nuklearsicherheit bei der
       Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS): „Die Reaktorhülle
       ist gegen Flugzeugabstürze ausgelegt.“
       
       Auch eine Zerstörung der externen Stromversorgung oder der Kühlung des
       Reaktors – was in Fukushima zur Kernschmelz-Katastrophe führte – sei selbst
       bei einem direkten Treffer sehr unwahrscheinlich: „Es gibt mehrere
       Notstrom-Aggregate, die die Kühlung übernehmen können. Und gleich nebenan
       ist der Dnipro-Stausee mit viel Kühlwasser“, so Stoll. Der Einschlag am
       Atommülllager sei wohl eine 152-Millimeter-Granate gewesen, bisher gebe es
       aber keine sicheren Angaben darüber, woher sie kam und ob sie gezielt
       dorthin geschossen wurde.
       
       ## Wie sicher sind AKWs?
       
       Wie genau Atomkraftwerke und ihre Infrastruktur gegen welche Angriffe
       gesichert sind, unterliegt der Geheimhaltung. Nach den Terroranschlägen vom
       11. September 2001 wurden auch die deutschen AKWs darauf getestet, ob sie
       den Einschlag einer großen Verkehrsmaschine voller Kerosin aushalten
       würden. Ja, sagte damals die Reaktor-Sicherheitskommission der
       Bundesregierung. Und auch gegen Angriffe mit Waffen seien die Anlagen
       getestet worden, sagt Stoll, aber Einzelheiten dazu seien nicht öffentlich.
       „Aber klar ist schon: Im Zweifel gibt es immer eine Waffe, die das
       Containment durchschlagen kann.“
       
       Die müsste dann aber bewusst auf das nukleare Ziel ausgerichtet sein. Dafür
       gibt es bisher keine Anhaltspunkte. Es ist nicht einmal klar, woher der
       Beschuss am Wochenende kam: die russische Seite macht die Ukraine
       verantwortlich, die Ukrainer die Russen. Die russischen Besatzer haben
       Truppen auf dem Gelände stationiert und lagern nach ukrainischen Berichten
       in oder an den AKW-Hallen Gerät und Munition – vielleicht, um einen Angriff
       zur Rückeroberung abzuschrecken. Das AKW versorgt die Ukraine, aber auch
       den russisch besetzten Teil des Landes mit Strom und die Anlage ist
       offenbar nur mit ukrainischen Technikern zu bedienen. Welchen Vorteil
       sollten also die russische oder die ukrainische Führung an einem
       zielgerichteten Atom-Desaster haben? „Ich verstehe das einfach nicht“, sagt
       Uwe Stoll.
       
       Auch Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital blickt mit Sorge nach
       Saporischschja. Es gebe zwar „keinen Grund für akute Panik“ und auch ein
       „Zufallstreffer wird wohl keinen GAU auslösen“. Aber „militärische
       Eskalation hat ihre Stufen nicht immer unter Kontrolle. Und wir sehen eine
       neue Dimension der Kriegsführung“, die die große strategische Bedeutung von
       Nuklearanlagen in die Militärplanung einbeziehe. „Das verstößt gegen die
       Genfer Konventionen, die Staudämme und Atomkraftwerke besonders schützt und
       hat eine perfide Methodik“, so Smital.
       
       Bei Besuchen von Greenpeace in der Tschernobyl-Zone nach der russischen
       Besetzung habe sich gezeigt, dass das Gelände und teilweise selbst die
       Labore vermint worden seien. Die weltweite Debatte über die Atomkraft müsse
       in Zukunft auch berücksichtigen, dass Nuklearanlagen zu Waffen werden
       könnten, so Smital.
       
       ## Kein Hinweis auf höhere Strahlung
       
       Konkret gibt es in Saporischschja „bislang keine Hinweise auf höhere
       Strahlenwerte“, sagt Florian Gering, Leiter der Abteilung Radiologischer
       Notfallschutz beim Bundesamt für Strahlenschutz (BfS). Zwar sind auf dem
       Kraftwerksgelände manche Instrumente ausgefallen, aber die Datenlage sei
       ausreichend: Das Amt nutzt offizielle ukrainische Daten, aber auch
       Messstellen von Umweltorganisationen und Privatleuten an etwa 15 Orten rund
       um Saporischschja. „Wenn etwa auf dem Gelände ein Behälter für Atommüll
       zerstört würde, wäre das nur ein lokales oder regionales Ereignis“, so
       Gering, da die Radioaktivität dort „etwa um mindestens den Faktor 100
       geringer ist als im Reaktorkern“.
       
       Die Reaktoren müssen aber selbst nach einer Abschaltung noch monatelang
       gekühlt werden, weil sonst der Kern schmelzen kann. Riskant sei die
       Situation auch durch den Druck auf die Bedienungsmannschaften, warnen die
       Experten: Ukrainische Techniker, die unter russischem Befehl das AKW
       fahren, sich gleichzeitig um ihre eigene Sicherheit und ihre Familien
       sorgen, seien anfällig für Fehler. Und wenn Entscheidungen in einem Notfall
       nicht von den Experten sondern der militärischen Führung getroffen würden,
       könne das Komplikationen bedeuten.
       
       Einen Vergleich mit dem Super-GAU von Tschernobyl 1986 finden die Experten
       schwierig. „Ich rechne nicht mit einem zweiten Tschernobyl“, sagt Stoll.
       Und das BfS betont, bisher gebe es keine erhöhte Strahlung, und bei einem
       möglichen Unfall komme es für die Folgen auf den Wind an: Der bläst aber in
       85 Prozent der Fälle nach Osten, nicht nach Westen, hat eine aufwändige
       Simulation des BfS ergeben. Im ungünstigsten Fall – Freisetzung und Wind
       nach Westen – sei damit zu rechnen, dass in Deutschland kein Salat vom Feld
       gegessen werden darf. „Aber das Land, das neben der Ukraine am
       wahrscheinlichsten von radioaktiver Freisetzung betroffen wäre, das wäre
       Russland“, meint Gering.
       
       10 Aug 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernhard Pötter
       
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