# taz.de -- Energiewirtschaft in Europa: Atomoffensive bleibt aus
       
       > Trotz Energiekrise hat die Nuklearindustrie keine neuen Aufträge.
       > Stattdessen kollabieren ältere Meiler, während Baukosten für neue AKWs
       > steigen.
       
 (IMG) Bild: Russisches Militär in Europas größtem Atomkraftwerk in der Nähe der Stadt Saporischschja
       
       In keinem anderen Land wird ähnlich hitzig über die Energiepolitik
       gestritten wie in Deutschland. Aber die Energiekrise hinterlässt auch in
       anderen Ländern Europas tiefe Spuren. Neubauprojekte für Atomkraftwerke hat
       sie bisher nicht angeschoben, zumal diese frühestens im nächsten Jahrzehnt
       Strom liefern würden und weder den von Putin initiierten Gasnotstand noch
       die hohen Strom-, Gas- und Ölpreise aktuell beeinflussen könnten. So
       konzentriert sich die Diskussion vor allem auf Laufzeitverlängerungen.
       
       Die Atomindustrie taugt aber auch deshalb kaum als Retter in der Krise,
       weil sie sich gerade jetzt „in erschreckender Verfassung“ präsentiert, so
       Mycle Schneider, Herausgeber des [1][World Nuclear Industry Status Report],
       gegenüber der taz. Die Lage der Nuklearbranche sei prekär und sehr viel
       problematischer als allgemein wahrgenommen. Und das nicht nur wegen der
       Kostenexplosionen und extremen Verzögerungen bei den im Bau befindlichen
       Kraftwerken. Viel dramatischer, so Schneider, sei der Kollaps der
       französischen Atomflotte und der Albtraum in der Ukraine. Dort wird mitten
       im Kriegsgebiet das Atomkraftwerk Saporischschja als Schutzschild
       missbraucht.
       
       Das größte Atomkraftwerk Europas mit sechs Reaktoren ist am 4. März von
       russischen Truppen besetzt und danach zum Militärstützpunkt ausgebaut
       worden. Die Russen schießen vom Kraftwerksgelände aus auf ukrainische
       Stellungen. Sie haben offenbar Raketenwerfer, Artillerie, Panzer und
       Munition in und um das Kraftwerk konzentriert, wie die New York Times unter
       Berufung auf geflohene ukrainische Ingenieure berichtet. Die Internationale
       Atomenergieagentur (IAEA) spricht von der „sehr realen Gefahr einer
       nuklearen Katastrophe“. Auch Mycle Schneider gesteht: „Wir bibbern seit
       fünf Monaten“. In der Reaktorwarte müssen die ukrainischen Atomwerker die
       Meiler unter Aufsicht russischer Ingenieure von Rosatom als Atomsklaven
       weiter bedienen. Die NYT berichtet von harten Verhören und gefolterten
       Ingenieuren.
       
       Die zweite Katastrophe findet in Frankreich statt, wo – nach Kapazität
       bemessen – mehr als die Hälfte der Atomkraftwerke seit Monaten nicht zur
       Verfügung steht. Zu wenig Kühlwasser aus überhitzten Flüssen,
       Korrosionsschäden, Haarrisse, Schweißnahtprobleme, Personalnöte und
       anstehende Wartungs- und Reparaturarbeiten bei altersschwachen Anlagen
       haben Frankreich in einen akuten Notstand versetzt. Der Strompreis ist weit
       höher als in Deutschland und war kurzzeitig an den Börsen auf irrwitzige
       drei Euro je Kilowattstunde geklettert. Ohne massive Stromimporte und den
       Betrieb der Gaskraftwerke gingen in der Grande Nation die Lichter aus.
       Zugleich musste der französische Staat den maroden Atomkonzern EDF
       übernehmen, dessen Schuldenberg bis zum Jahresende auf 65 Milliarden Euro
       geschätzt wird. Dass sich die Fertigstellung des einzigen AKW-Neubaus in
       Flamanville immer weiter verzögert, komplettiert das Desaster. Der
       Rechnungshof hat die Kosten dort zuletzt auf horrende 19,2 Milliarden Euro
       beziffert.
       
       ## Belgien: Bereit zum Abschalten, eigentlich
       
       Wie geht es im Nachbarland weiter? Die Ausfälle können „mehrere Jahre
       dauern“, räumt EDF ein, die Versorgungssicherheit steht vor allem im Winter
       auf dem Spiel, wenn die Franzosen ihre Stromheizungen anschalten.
       Frankreichs Grüne befürchten wegen der kritischen Lage Abstriche bei der
       Sicherheit und die Verkürzung der zu Wartung und Reparatur notwendigen
       Stillstandszeiten. Einen vergleichbaren Ausnahmezustand gibt es in keinem
       anderen Land.
       
       Mindestens turbulent ist die Lage auch in Belgien. Die gebrechliche
       Reaktorflotte des Landes mit sieben Atommeilern hat ein Durchschnittsalter
       von 42 Jahren erreicht und wäre reif zur Stilllegung. 2003 hatte sich das
       Land verständigt, die Laufzeit auf 40 Jahre zu begrenzen. 2015 folgte ein
       Kurswechsel mit Laufzeitverlängerungen auf 50 Jahre für drei Reaktoren.
       Nach langem juristischem Hickhack und Protesten der Nachbarländer wurde
       2025 als endgültiges Ausstiegsdatum anvisiert. Dafür sollten neue
       Gaskraftwerke gebaut werden. Das galt bis zum Krieg in der Ukraine und der
       Geburt der neuen Energiekrise.
       
       Jetzt wurde der Ausstiegsfahrplan verlängert. Belgiens Regierung einigte
       sich mit der Betreiberfirma Engie/Electrabel, die beiden jüngeren Reaktoren
       Tihange-3 und Doel-4 bis 2035 in Betrieb zu halten. Die beiden besonders
       mürben, mit Tausenden Haarrissen belasteten Meiler werden aber trotz des
       politischen Drucks zum Weiterbetrieb im September 2022 bzw. im Februar 2023
       „aus technischen Gründen und Sicherheitsbedenken“ von Engie abgeschaltet.
       Von einer Rücknahme des Ausstiegs könne keine Rede sein, kommentiert Jan
       Becker von der Anti-Atom-Initiative „Ausgestrahlt“.
       
       Neubaupläne sind auch in Belgien nicht in Sicht. Auch in Spanien, Schweden
       und der Schweiz stehen weitere Stilllegungen der geschrumpften Atomflotte
       an, die nicht ersetzt werden. Polen, das seit den 1980er Jahren immer
       wieder kühne Atompläne veröffentlichte, will dagegen 2033 sein erstes
       Atomkraftwerk in Betrieb setzen, weitere Baupläne für angeblich fünf Meiler
       bis 2043 sind reine Zukunftsmusik. Ebenso fragwürdig sind jetzt die Pläne
       Ungarns, ein weiteres russisches Atomkraftwerk mit russischer Finanzierung
       zu bauen.
       
       ## Geräuschlose Abschaltungen in Großbritannien
       
       Großbritannien gehört zu den wenigen Ländern Europas, die jenseits von
       Ankündigungen tatsächlich ein AKW-Neubauprojekt auf den Weg gebracht haben.
       Die Zahl der laufenden Meiler ist inzwischen allerdings auf neun
       geschrumpft. Sie deckten im Jahr 2021 nur noch 14,8 Prozent des
       Stromverbrauchs, fast eine Halbierung gegenüber dem Peak von 27 Prozent im
       Jahr 1997. Tendenz: weiter fallend.
       
       Das Land hat weit mehr als die Hälfte seines im alten Jahrhundert
       aufgebauten Atomparks stillgelegt und bisher nicht ersetzt. Zählt man die
       kleinen Anlagen der ersten Generation dazu, hat das Königreich – so die
       Buchführung der IAEA – 36 Reaktoren stillgelegt. Bis 2030 folgen weitere
       Abschaltungen, zumal Haarrisse in den Graphitkernen und kostspielige
       Reparaturarbeiten den Weiterbetrieb der älteren Anlagen gefährden. Allein
       in diesem Jahr hat Großbritannien vollkommen geräuschlos drei Atommeiler
       stillgelegt, zuletzt, am 1. August, Hinkley Point B‑1. Auch 2021 wurden
       drei Reaktoren abgeschaltet – ein Ausstieg auf Raten. Die
       Stilllegungskosten haben sich unterdessen fast verdoppelt.
       
       Pläne der Johnson-Regierung, bis 2050 gleich acht neue Atomkraftwerke in
       Betrieb zu nehmen, dürfen angesichts massiver Probleme beim Neubau-Projekt
       Hinkley Point C angezweifelt werden. Dort werde „das teuerste Atomkraftwerk
       der Welt gebaut“, spottet der Guardian. Ohne milliardenschwere Subventionen
       wäre der Neubau unmöglich. Die britische Regierung garantiert für 35 Jahre
       märchenhafte Abnahmepreise von rund 110 Euro je Megawattstunde plus
       Inflationszuschlag. Das ist mehr als das Doppelte des Preises für
       Offshore-Windstrom.
       
       Der Bau der Reaktor-Doppelanlage ist von üblichen Verzögerungen und
       prohibitiven Kostenexplosionen begleitet. Letzter Stand: Inbetriebnahme
       2027 bei 30,5 Milliarden Euro Kosten. RWE-Manager Nikolaus Valerius
       kommentiert: „Ich sehe keinen Privatinvestor, der derzeit in Europa in den
       Bau neuer Kernkraftwerke investieren würde.“
       
       ## Seit dem Krieg das Aus
       
       Die Misere bei Hinkley Point C deckt sich mit Erfahrungen derselben
       Baureihe in Frankreich und Finnland. Der finnische Betreiber TVO hat in
       Olkiluoto das fünfte Atomkraftwerk des Landes gebaut. Nach 17 Jahren
       Bauzeit war es am 12. März 2022 mit zwölf Jahren Verspätung ans Netz
       gegangen. Am 26. April musste es wegen eines Lecks im Kühlsystem wieder
       abgeschaltet werden. Seitdem ruht der See. Der Bau des finnischen
       Atomkraftwerks Hanhikivi 1 durch den russischen Atomkonzern Rosatom wurde
       nach Putins Überfall auf die Ukraine abgebrochen, zuvor hatte sich die
       Baugenehmigung fast zehn Jahre verzögert. Jetzt kam das endgültige Aus.
       
       Der Krieg hat die Zusammenarbeit mit russischen Atomfirmen und die
       Abhängigkeit von Uran und Brennelementen aus Russland, Kasachstan und
       Usbekistan jäh ans Licht gezerrt. Bulgarien, die Slowakei, Ungarn,
       Tschechien und Finnland gehören zu den betroffenen Ländern. In Tschechien
       laufen gleich sechs Meiler russischen Typs. Jetzt hat die Betreiberfirma
       CEZ entschieden, ab 2024 keine russischen Brennelemente mehr für das AKW
       Temelin zu beziehen. Die westlichen Hersteller Westinghouse und Framatome
       sollen einspringen. Am Standort Dukovany, wo vier russische Meiler laufen,
       werden weiterhin russische Brennelemente importiert, weil alternative
       Lieferanten fehlen.
       
       Mycle Schneider spricht von einer kaum beachteten „starken Abhängigkeit“
       vom russischen Einflussgebiet bei Urananreicherung und
       Brennelementfertigung. Russland besitzt 45 Prozent der weltweiten
       Anreicherungskapazität. Auch beim Neubau hat Russland zusammen mit China
       die Poleposition. Von weltweit 31 Bauprojekten seit 2017 sind 27 russischer
       oder chinesischer Bauart, rechnet die Internationale Energieagentur (IEA)
       vor.
       
       Im Zuge der neuen Energie- und Klimakrise, analysiert die IEA weiter,
       bestehe jetzt die Möglichkeit eines „nuclear revivals“. Wichtigste
       Voraussetzungen seien indes kürzere Bauzeiten und „ein starker Rückgang der
       Baukosten“, die von derzeit 9.000 Dollar je Kilowatt Leistung mindestens
       auf 5.000 Dollar zurückgehen müssten. Während Windkraft und Solar Jahr für
       Jahr immer billiger werden, seien die Kosten der Atombranche rasant
       gestiegen. Bis 2050 erwartet die IEA zwar eine deutliche Bauoffensive, doch
       selbst dann würden die Neuinvestitionen in Atomkraft auf zwei Prozent der
       globalen Energieinvestitionen sinken.
       
       16 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.worldnuclearreport.org/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Manfred Kriener
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Energieversorgung
 (DIR) Atomausstieg
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Anti-Atom-Bewegung
 (DIR) Ampel-Koalition
 (DIR) Energiekrise 
 (DIR) Energie
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Schwerpunkt Frankreich
 (DIR) Grüne Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Irritation um ARD-Faktencheck: Netto importiert Deutschland Strom
       
       Luisa Neubauer erklärt in einer Talkshow für „Fake News“, dass Deutschland
       mehr Elektrizität aus- als einführe. Das stimmt so nicht ganz.
       
 (DIR) Schweden will Atomenergie ausbauen: AKW-Chaos in Schweden
       
       Die Umweltministerin hat stolz „mindestens“ zehn neue Atomkraftwerke
       angekündigt. Allerdings wusste die Regierungskoalition nichts davon.
       
 (DIR) Polen beschleunigt Atomenergiepläne: Mini-Atomkraftwerk bis 2029
       
       Die polnische Regierung hat bereits angekündigt, in Atomkraft einzusteigen.
       Mit kleinen modularen Reaktoren soll es nun noch schneller gehen.
       
 (DIR) Atomkraft in Finnland: Problem-Reaktor geht ans Netz
       
       Olkiluoto-3 geht nach fast zwei Jahrzehnten Bauzeit in Betrieb. Finnland
       plant mit 60 weiteren Jahren Atomstrom.
       
 (DIR) Studie zu Atomstrom: Atom-Ära geht allmählich zu Ende
       
       Der Anteil der Nuklearenergie weltweit sinkt weiter. Während Deutsche wegen
       maroder AKWs in Frankreich bangen, setzt China stärker auf Erneuerbare.
       
 (DIR) Uran aus Russland: Auf dem Weg nach Lingen
       
       Angereichertes Uran aus Russland erreicht die Brennelementefabrik in
       Lingen. Mitten im Ukrainekrieg halten AktivistInnen das für ein „Unding“.
       
 (DIR) Debatte über Atomkraft: Unter Strom
       
       Wie weiter mit den drei noch aktiven AKWs? Während Minister Habeck auf
       einen Kompromiss setzt, sieht die FDP darin einen Wahlkampfhit.
       
 (DIR) Nach Habecks AKW-Vorschlag: Ampelkoalition droht Krach
       
       Der grüne Wirtschaftsminister ringt sich zu einem möglichen Weiterbetrieb
       von zwei Atomkraftwerken durch. Der FDP reicht das nicht.
       
 (DIR) Habeck will Strom- von Gaspreis lösen: Gaskraftwerke prägen den Strompreis
       
       An den Strommärkten definiert das teuerste Kraftwerk den Börsenpreis. Das
       hat sich niemand ausgedacht, sondern ergibt sich zwangsläufig.
       
 (DIR) Über elf Jahre nach Fukushima: Japan will neue Meiler bauen
       
       Als Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine setzt die Regierung
       auf Atomkraft. Doch dieser Strategieschwenk ist nicht leicht.
       
 (DIR) Grüne über verzögerten Atomausstieg: Zwei Generationen, kein Vertun
       
       Beide sind bei den Grünen. Der eine kämpfte lange gegen Atomkraft. Für den
       anderen war das Thema abgehakt. Ist es aber nicht. Und nun? Ein Interview.
       
 (DIR) Trockenheit in Frankreich: Brände ohne Ende?
       
       Frankreich erlebt einen Sommer der Klimakatastrophe. Premierministerin
       Borne will vorbeugen. Leicht wird das nicht.
       
 (DIR) Grünen-Landeschefin zu Atomstrom: „Kein Ausstieg vom Ausstieg“
       
       Grünen-Landeschefin Susanne Mertens schließt einen Landesparteitag zur
       Atomfrage aus. Nur eine entschlossene Energiewende werde das Klima
       schützen.
       
 (DIR) Ukrainisches AKW unter Beschuss: Krieg und „friedliche“ Kernenergie
       
       Trotz Beschuss zeigt sich um das Atomkraftwerk Saporischschja keine erhöhte
       Radioaktivität. Aber das Tabu ist gebrochen: AKWs sind militärische Ziele.