# taz.de -- Psychologe über digitale Gewalt: „Jugendlichen fehlt das Bewusstsein“
       
       > Sexualisierte Gewalt mittels digitaler Medien wird häufig bagatellisiert,
       > sagt Karl Michaelis. Am Mittwoch spricht er auf einem Bremer Fachtag.
       
 (IMG) Bild: Digitale Medien: Sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen findet auch hier statt
       
       taz: Sie arbeiten mit sexuell auffälligen Menschen, heißt es auf Ihrer
       Homepage. Was meinen Sie damit? 
       
       Karl Michaelis: Das sind Menschen, die sich im sexuellen Bereich abseits
       der Norm verhalten haben, also von den Wertvorstellungen einer Mehrheit der
       Gesellschaft abweichen.
       
       Nun geht es bei der Bremer Tagung am 27. September, bei der Sie als
       Referent geladen sind, um sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und
       Jugendlichen mittels digitaler Medien. Wo fängt da das abweichende
       Verhalten an? 
       
       Zum Beispiel an der Stelle, an der das Recht am eigenen Bild verletzt wird.
       Wenn sich zwei Personen trennen und die eine danach Nacktfotos in sozialen
       Medien hochlädt. Oder wenn jemand ungefragt Kontakt aufnimmt, anzügliche
       Texte verschickt oder, was Männer sehr, sehr oft machen, Fotos vom eigenen
       Genital. Wenn das zwischen Minderjährigen und Erwachsenen stattfindet, ist
       das eine Straftat. Viele wissen auch nicht, dass sie die Abbildung eigener
       sexuellen Handlungen nicht weitergeben dürfen, wenn sie unter 18 sind, weil
       das den Straftatbestand der Verbreitung „kinderpornografischer“
       Darstellungen erfüllt.
       
       Dieses Verschicken von Nacktfotos: Gilt das nicht als normal unter
       Jugendlichen? 
       
       Ihnen fehlt tatsächlich oft ein kritisches Bewusstsein, viele finden solche
       Bilder lustig und es relativiert sich, weil so viele mitmachen. Aber es
       bleibt sexuell gewalttätig oder zumindest auffällig, weil nicht alle solche
       Bilder verschicken. Und viele, aber das sind nicht nur Jugendliche,
       bagatellisieren die Gewalt, weil sie ja „nur“ in Medien stattfindet.
       
       Aber gibt es nicht auch einen großen Unterschied zwischen einer
       Vergewaltigung, die ich selbst begehe, und dem Verschicken von
       Nacktbildern? 
       
       Ich möchte kein Leid gegen das andere abwägen und finde, das hängt vom
       Empfinden der Betroffenen ab. Eine physische Verletzung findet zwar nicht
       statt, aber eine psychische. Wenn ich weiß, dass die Hälfte der Schule
       meine Brüste als Masturbationsvorlage benutzt, und das zu einem Zeitpunkt,
       an dem ich mich gerade an meinen erwachsenen Körper gewöhne, kann das
       persönliche Sicherheitsempfinden genau so schwer beeinträchtigt sein wie
       nach einer körperlichen Gewalttat. Zumal diese Bilder für immer irgendwo im
       Netz verfügbar sein werden, das geht nie mehr weg.
       
       Aber jemand, der Bilder hochlädt, handelt anders als jemand, der einem
       anderen Menschen körperlichen Schaden zufügt – deshalb wird letzteres auch
       schwerer bestraft. 
       
       Ja, das erfordert mehr Planung. Wenn Sie wollen, auch mehr Böswilligkeit.
       Aber der Bildschirm wird von den Gewaltausübenden oft auch als Schutzschild
       benutzt.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       In unserer Arbeit geht es viel darum, dass jemand seine Taten aus eigener
       Motivation aufarbeitet, also nicht nur, weil ihm andere sein falsches
       Verhalten gespiegelt haben, sondern er selbst das erkannt hat. Und das ist
       häufig schwerer bei digitaler Gewalt, weil die Distanz größer ist. Es gibt
       keine haptischen Zusammenhänge, kein unmittelbares Erleben der Tat, weil
       alles durch kognitive Verarbeitungsprozesse übersetzt wird.
       
       Wie arbeiten Sie damit? 
       
       Wenn jemand zum Beispiel Abbildungen sexueller Gewalt an Kindern konsumiert
       hat und das verharmlost, stellen wir diese Szenen zum Beispiel mit
       Holzfiguren nach und positionieren einen Bildschirm zwischen der Person und
       den Figuren. Und irgendwann nehmen wir den weg, dann wird das direkt
       sichtbar, die Trennung ist aufgehoben.
       
       Was ist noch wichtig in der Verarbeitung der Tat? 
       
       Es geht bei sexueller Gewalt, auch bei physischer, immer darum, sich ein
       Delikt genau anzuschauen: Was hat dazu geführt, dass jemand innere und
       äußere Widerstände und dann den Widerstand der betroffenen Person
       überwunden hat? Die Menschen sagen oft: „Das ist so passiert, ich weiß auch
       nicht, was da geschehen ist.“ Die eigene Rolle wird nicht als aktiv
       wahrgenommen, auch um dem eigenen Schaden nicht begegnen zu müssen. Die
       meisten Menschen nimmt es sehr mit, wenn sie so eine starke Regel verletzt
       haben. Es dauert oft, bis sie die Verantwortung für ihre Tat übernehmen
       können. Das ist aber entscheidend, um nicht rückfällig zu werden. Sie
       müssen lernen, wie sie in kritischen Situationen den Ausstieg schaffen,
       welche Optionen sie haben ohne grenzverletzend zu handeln.
       
       Sie nutzen bewusst den Begriff „Täter“ nicht, oder? 
       
       Ja, weil es im Sinne der Rückfallprophylaxe nicht hilfreich ist.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       Es gibt nur sehr wenige wirklich böse Menschen. Die meisten schämen sich in
       Grund und Boden. Wenn sie hören, dass sie selbst falsch sind – ein „Täter“
       – und nicht ihre Tat, entsteht oft ein Gefühl von „ich kann ja eh nichts
       tun, ich bin halt so“. Wenn jemand andere Handlungsoptionen lernen soll,
       muss er seine Ressourcen kennen. Auch deshalb machen wir klar, dass dieser
       Mensch aus viel mehr besteht als aus wenigen kritischen Ereignissen.
       
       Wir reden die ganze Zeit über Jugendliche – und ich denke dabei an Jungs.
       Stimmt das so? 
       
       Bei uns kommen überwiegend Jungen und Männer an, aber das hat vermutlich
       auch damit zu tun, dass bei Mädchen und Frauen anders hingeguckt wird.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       Nach einer Dunkelfeld-Studie des Hamburger Universitätsklinikums wird ein
       Viertel der sexuellen Übergriffe von weiblich gelesenen Personen begangen –
       aber unser Bild ist ein anderes. Bei Kindesmissbrauch ist es so, dass die
       Polizei bei einer Hausdurchsuchung nur die digitalen Endgeräte der
       männlichen Person mitnimmt. Auch wir kommen oft nicht auf den Gedanken,
       dass auch ein Mädchen übergriffig sein kann. Vergangenes Jahr hatten wir
       eine Beratungsanfrage, da hatte es in einer Wohngruppe sexuelle Handlungen
       zwischen einem 12-jährigen und einer 15-jährigen gegeben. Im ersten Moment
       meinte mein Kollege, „okay, was machen wir mit dem 12-Jährigen?“, bis er
       sich das Alter vor Augen gehalten hat.
       
       27 Sep 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eiken Bruhn
       
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