# taz.de -- Kriegsdienstverweigerer in der Ukraine: Versteckt im eigenen Land
       
       > In der Ukraine können Männer jederzeit zum Militär eingezogen werden.
       > Michail Nasarenko – jung, queer, gut ausgebildet – will nicht an die
       > Front.
       
 (IMG) Bild: Vielerorts in der Ukraine wird mit patriotischen Graffiti und Plakaten für den Kampfgeist und das Militär geworben
       
       Nach vier Tagen verlässt Michail Nasarenko zum ersten Mal wieder seine
       Wohnung. Eilig läuft der junge Mann an diesem sommerlichen Mittag die
       Seitenstraße einer westukrainischen Großstadt entlang. Zwei Minuten braucht
       er bis zum Treffpunkt: ein studentisches Café auf dem Unicampus. Michail
       Nasarenko ist angespannt. In Zeiten wie diesen könnte ein solcher Ausflug
       sein ganzes Leben umwerfen.
       
       Im Café wählt er einen Tisch in der hintersten Ecke. Der bietet ihm einen
       guten Überblick über den Raum. Kreative, Queers und Studierende sitzen
       hier. Sie tragen bunte Kleidung. Es wird geplaudert, an manchen Tischen
       gelacht. An anderen wirken die Gäste ernst und nachdenklich. Der Krieg ist
       auch an diesem Ort allgegenwärtig.
       
       Michail Nasarenko hat das Uni-Café nicht ohne Grund ausgewählt. Er ist
       selbst jung, queer und gut ausgebildet. Er fällt hier nicht weiter auf.
       Wenn er sich überhaupt in der Öffentlichkeit bewegt, ist Unauffälligkeit
       für ihn inzwischen ein wichtiges Kriterium.
       
       [1][Seit Russland die Ukraine überfallen hat], werden im Land
       kampftaugliche Männer von der Straße weg rekrutiert. Auch er könnte
       jederzeit eine Einberufung zugesteckt bekommen. Er will nicht in den Krieg.
       Er kämpft an einer anderen Front, der zivilgesellschaftlichen.
       
       Michail Nasarenko heißt in Wirklichkeit anders. Wer nicht kämpfen will,
       gilt in der Ukraine dieser Tage als Persona non grata.
       Kriegsdienstverweigerung ist eine Straftat. Zu Nasarenkos Schutz wurden
       deshalb auch sein Aufenthaltsort und die Organisationen, in denen er sich
       engagiert, anonymisiert.
       
       Mit seiner Weigerung, in den Krieg zu ziehen, ist Michail Nasarenko nicht
       allein. Zwar sind die ukrainischen Männer, die nicht kämpfen wollen, in der
       Unterzahl, doch sie gewinnen zunehmend an Präsenz. Nicht zuletzt wegen
       [2][einer Online-Petition], in der sich ein Rechtsanwalt gegen die aktuelle
       Praxis der Mobilisierung aussprach: Innerhalb weniger Tage wurde sie 27.000
       Mal unterzeichnet. Kritik an der Art der Mobilisierung kommt inzwischen
       auch aus der Armee und sogar vom Verteidigungsminister selbst.
       
       Was sind die Gründe der Männer, die nicht kämpfen wollen? Und was bedeutet
       diese Entscheidung für ihr derzeitiges Leben in der Ukraine? Die taz ist in
       mehrere Regionen des Landes gereist und hat mit Kriegsdienstverweigerern
       aus verschiedenen Milieus gesprochen. Aus Angst vor Konsequenzen wollten
       die meisten nur Hintergrundinformationen beisteuern. Lediglich Michail
       Nasarenko stimmte einem anonymisierten Bericht über seine Lage zu.
       
       Vor dem russischen Angriff wurden in der Ukraine Männer zwischen 18 und 27
       Jahren für 9 bis 18 Monate zum Militärdienst eingezogen – es sei denn, sie
       wiesen einen religiösen, familiären oder gesundheitlichen
       Ausmusterungsgrund vor oder leisteten einen sozialen Ersatzdienst. Nun
       verpflichtet das neue Mobilisierungsgesetz sämtliche Männer zwischen 18 und
       60 Jahren dazu, sich in den Rekrutierungsbüros zu melden, den sogenannten
       Wojenkomats.
       
       Aushänge in Bahnhöfen, Hostels und Hotelfoyers erinnern daran. Und nicht
       nur sie: In belebten Großstadtvierteln werben bekannte Militäreinheiten um
       freiwillige Meldungen, zum Beispiel der früher für seine rechtsradikalen
       Mitglieder berüchtigte „Rechte Sektor“, mittlerweile eine reguläre
       Armee-Einheit. „Verteidige die Nation gegen die Moskauer Okkupanten. Komm
       in die Reihen der Freiwilligen!“, steht auf den Plakaten des Sektors, dazu
       drei Handynummern.
       
       Nach der Registrierung durchlaufen die Männer einen Gesundheitscheck. Wenn
       sie als tauglich eingestuft werden, können sie von diesem Moment an
       jederzeit eingezogen werden. Meist erst zu Trainings, dann direkt zum
       Einsatz im Krieg.
       
       Da sich nicht alle Männer freiwillig melden, verteilen auch Vertreter von
       Polizei und Armee an jedem beliebigen Ort Briefe, auch Powistka genannt.
       Sie enthalten entweder die Aufforderung zur Registrierung, zur
       medizinischen Untersuchung oder direkt zum Militäreinsatz an der Front – je
       nachdem, welche Schritte der Betreffende vorher schon absolviert hat. Wer
       dann nicht innerhalb der gesetzten Frist von wenigen Tagen im Wojenkomat
       erscheint, muss eine Strafe von 1.500 bis 3.400 Hrywnja zahlen, umgerechnet
       rund 50 bis 110 Euro. Wer den Militärdienst aktiv verweigert, dem drohen
       laut dem ukrainischen Kriegsrecht drei bis fünf Jahre Gefängnis.
       
       Deshalb versuchen Männer wie Michail Nasarenko, jedes Zusammentreffen mit
       Behördenvertretern zu vermeiden. Die meisten von ihnen bleiben im Land,
       denn Wehrfähige dürfen die Ukraine aktuell nicht verlassen. Ausnahmen
       gelten nur für bestimmte Gruppen, etwa für Männer mit besonders schweren
       Erkrankungen oder Behinderungen. Auch Ukrainer, die sich nachweislich um
       mindestens drei Kinder oder andere Bedürftige kümmern, können ausreisen.
       Abgeordnete des Parlaments dürfen die Ukraine ebenso verlassen wie
       Doktoranden und Wissenschaftler, die an ausländischen Universitäten tätig
       sind. Alle anderen nicht.
       
       Wie viele wehrfähige Ukrainer versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, ist
       schwer zu schätzen. Man kann nur Hinweise sammeln. Einem Teil der
       Bevölkerung sind etwa die Ausreiseregelungen zu streng. In einer
       [3][Umfrage des Human Security Lab] der Universität von
       Massachusetts-Amherst sprachen sich 28 Prozent der befragten Ukrainerinnen
       und Ukrainer für eine Ausreise-Option wehrfähiger Männer aus.
       
       Eine illegale Ausreise käme für Michail Nasarenko nicht infrage. „Dann
       bleibe ich lieber hier“, sagt er. Andere interessieren sich schon dafür:
       Bei Telegram gibt es mehrere öffentliche Kanäle mit bis zu 60.000
       Followern, die versprechen, bei der Flucht zu helfen. Sie bestehen meist
       aus wenigen Einträgen, die zu kleineren, privaten Gruppen verlinken. Im
       Telegram-Kanal „Belyj Bilet“ („Weißes Ticket“ − wie das
       Ausmusterungsdokument umgangssprachlich genannt wird), werden
       Ausreisedokumente für 50.000 Hrywnja (1.300 Euro) und mehr angeboten. Es
       kursieren bei Telegram zudem etliche Geschichten, wie man die Kontrolleure
       dazu bewegt, über die Grenze gelassen zu werden. Ein Mann hat demnach mit
       Suizid gedroht, um passieren zu dürfen.
       
       Die ukrainischen Tageszeitungen berichten auch von Schleusernetzwerken, in
       Maisfeldern an der Grenze zu Moldau würden immer wieder Männer
       festgenommen, heißt es. Nach Angaben der Polizei zahlen Ukrainer
       umgerechnet 1.600 bis 7.000 Euro pro Person für so eine illegale Flucht.
       
       ## Chaos und Schikane
       
       Die Bewegungsfreiheit ukrainischer Männer im wehrfähigen Alter wurde zu
       Beginn des Krieges teils auch innerhalb des Landes eingeschränkt. Die
       ersten Kriegswochen, so erzählen wehrfähige Männer und ihre Angehörigen,
       seien von Unklarheit, Missverständnissen und Chaos geprägt gewesen. So sei
       manchen Männern der Zugang zu Evakuierungszügen verwehrt worden, auch wenn
       sich die nur innerhalb der Landesgrenzen bewegten. Sogar bei der Flucht aus
       den von Russen besetzten Gebieten sollen Männer von privaten Pkw-Fahrern
       abgewiesen worden sein.
       
       Solche Erfahrungen schwächen das Vertrauen in den Staat. Zum größten
       Kritikpunkt wurde in den vergangenen Monaten aber die intransparente
       Mobilisierungspraxis. Vor allem im Westen der Ukraine, aber auch in
       östlicheren Regionen berichten Männer gegenüber der taz von ähnlichen
       Erfahrungen: Die Vorladungen zur Musterung beziehungsweise zur Einberufung
       werden scheinbar planlos und spontan an Passanten verteilt. Zwei bis drei
       Polizisten stehen dann in Zivil vor Ämtern, Supermärkten, Kirchen, Post-
       oder Bankgebäuden, vor Schwimmbädern und Kneipen − und drücken jedem, der
       annähernd zur gesuchten Personengruppe passt, eine Vorladung in die Hand.
       
       In einem konkreten Fall sei ein Mann um die 50 mit starker Sehschwäche
       unfreiwillig eingezogen worden, erzählen enge Freunde von ihm. Nach wenigen
       Wochen kam er von der Front zurück, da er sich vor Ort nicht bewährt habe.
       
       Anfang Juli tauchte die Polizei mit den sogenannten Powistkas auch auf
       einem Hippie-Festival in Transkarpatien auf. In Kiew wurden Vorladungen in
       einem Nachtklub verteilt, der trotz Sperrstunde öffnete. Dass die
       Behördenvertreter ausgerechnet dort tätig wurden, könnte einen Grund haben:
       Vorladungen werden auch schon mal anstelle von Strafzetteln oder
       Ordnungsgeldern verteilt, beispielsweise an Personen, die zu schnell Auto
       fahren – oder eben die nächtliche Sperrstunde nicht einhalten.
       
       Dabei melden sich schon seit Kriegsbeginn viele Männer freiwillig bei den
       Rekrutierungsbüros, darunter viele mit Kampferfahrung aus dem Pflichtdienst
       oder dem Krieg im Donbass. Oft werden diese Freiwilligen wieder
       heimgeschickt: Man habe ihnen gesagt, dass man ihre Spezialisierung gerade
       nicht brauchen könne, berichteten einige von ihnen der taz.
       
       Michail Nasarenko versteckt sich auch vor dieser Willkür. Er bleibt fast
       immer in der kleinen Wohnung, die er sich mit einer Freundin und Kollegin
       teilt. Aus Sicherheitsgründen haben sie die Wohnung unter ihrem Namen
       angemietet, erzählt er beim Treffen im Café auf dem Uni-Campus.
       
       Als Programmierer kann er im Homeoffice arbeiten, egal wo. Am Tag nach der
       russischen Invasion ist er aus Angst vor den russischen Angriffen und einer
       möglichen Okkupation vom Landesinneren in den Westen gezogen. Er hat
       Heimweh. Die neue Stadt erscheine ihm sehr konservativ, sagt er. Auch die
       Ungewissheit, wie lange er hier noch ausharren muss, macht ihm zu schaffen.
       
       Er ist überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg unbedingt gewinnen muss, um
       weiter bestehen und ihren Weg zu einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen
       Gesellschaft gehen zu können. Eigentlich war er immer gegen Waffengewalt.
       Seit der russischen Invasion ist er dafür.
       
       Progressiven Liberalen wie ihm sei bewusst geworden, dass das europäische
       Konzept mit seinen Werten am Ende sei, sagt er. „Dieser Krieg hat alles
       zerbrochen, was mir immer wichtig war: grüne Energie, Freiheiten und
       Menschenrechte, keine Waffen – kein Krieg.“
       
       Michail Nasarenko, Ende zwanzig, schwul, setzt sich seit vielen Jahren
       aktiv für die Zukunft seines Landes ein. Auf seine Weise: In NGOs,
       Kleinparteien, auf Protesten und Demonstrationen kämpfte er für
       Menschenrechte, die Gleichstellung von LGBTQ, für eine nachhaltige
       Wirtschaft. Über viele seiner Aktivitäten wurde in den Medien berichtet.
       Seine Posts und Videos wurden vielfach geteilt.
       
       Jetzt gilt er vor dem Gesetz als Verbrecher. In seiner Exilwohnung hat
       Michail Nasarenko die Vorhänge zugezogen und verhält sich möglichst still,
       erzählt er. „Ich mache auch nachts kein Licht an, damit niemand bemerkt,
       dass ich da bin.“ Nur selten geht er in den Supermarkt. „Essen kann ich
       online bestellen und liefern lassen.“
       
       Seine Mitbewohnerin, die zu dem Treffen im Uni-Café dazugestoßen ist,
       unterstützt ihn, so gut es geht. „Ich würde mich auch nicht zum Kämpfen
       verpflichten lassen wollen“, sagt sie. „Ich will frei entscheiden können,
       wie ich am Sieg der Ukraine mitarbeite.“
       
       Michail Nasarenko ist überzeugt: „Wenn du nicht gut ausgebildet bist,
       schadest du an der Front mehr, als dass du hilfst.“ Er hat keine
       militärische Erfahrung, nach der Schule hat ihn die medizinische Kommission
       aus gesundheitlichen Gründen vom Wehrdienst befreit. Nach den
       Einberufungsregeln im Kriegszustand aber würde man ihn, so befürchtet er,
       wohl als wehrtauglich einstufen.
       
       Michail Nasarenko hat breite Schultern. Dass er vor allem am Computer
       arbeitet, verraten sein gerundeter Rücken und die weiche Haut an seinen
       Händen. „Ich bin kein Outdoor-Typ. Mir würde es nicht einmal in den Sinn
       kommen, ohne Dusche zu sein und draußen zu übernachten.“ Kurz lacht er über
       sich selbst, bevor er wieder ernst wird. „Ich würde Depressionen bekommen
       und die Kameraden belasten.“ Er sagt: „Ich würde an der Front nicht
       hilfreich sein, aber das interessiert sie nicht. Sie ignorieren völlig, wie
       du konkret der Ukraine nutzen kannst und welchen Beitrag du schon für die
       Gesellschaft leistest.“
       
       Von seinem Versteck aus macht Michail Nasarenko sehr viel für die Ukraine:
       Seit Februar organisiert er mithilfe seiner vielen Kontakte die Versorgung
       von Flüchtenden. Er kümmert sich um die sichere Unterbringung queerer
       Menschen und um digitale Weiterbildungsmöglichkeiten für diejenigen, die
       neben ihrem Zuhause auch noch ihren Job verloren haben. Er sammelt auch
       Spenden für Armee-Einheiten, denen es an der richtigen Ausrüstung oder
       sonstigen Mitteln fehlt.
       
       In der Ukraine ist es schon lange kein Widerspruch mehr, links und für das
       Militär zu sein. Die russische Bedrohung hat spätestens seit 2014 dafür
       gesorgt, dass die Armee auch in der linken, liberalen, sogar in der queeren
       Community viel Zuspruch erfährt. Als Verteidigung gegen die homo- und
       transphobe Ideologie der sogenannten russischen Welt.
       
       „Ich kann doch viel nützlicher sein, wenn ich weiter Spenden und
       Fördergelder für Projekte akquiriere. Ich will am Ende nicht verantwortlich
       sein für schlechte militärische Entscheidungen“, sagt Michail Nasarenko.
       
       Viele von jenen, die nicht an der Front kämpfen wollen, rechtfertigen sich
       gegenüber der taz wie er damit, dass sie im Kampf nicht nützlich wären oder
       nicht durchhalten würden. Die Angst vorm Sterben, die man wohl als
       wichtigsten Grund erwarten würde, nennt niemand. Dafür die Panik vor
       Explosionen. Und die Angst vor dem Töten: Er wisse nicht, ob er im
       Ernstfall einen Menschen erschießen könne, auch wenn es ein Russe sei, der
       sein Land gerade brutal zerstöre, sagt ein Mann aus dem Südosten des
       Landes. „Wenn ich eingezogen werde, verweigere ich mich nicht“, sagt dieser
       Mann. Selbst melden wird er sich aber nicht.
       
       Michail Nasarenko fände es besser, wenn die Ukraine mit einer Berufsarmee
       kämpfen würde. Seiner Meinung nach gibt es genügend Freiwillige, die zum
       Militär wollen: „Wir haben ja schon seit acht Jahren Krieg. Viele wissen,
       was das bedeutet, und viele wollen auch jetzt an die Front.“
       
       ## Es regt sich Widerstand
       
       Ob dieser Eindruck stimmt, ist unklar. Nach Angaben der Behörden gibt es
       keine offiziellen Statistiken darüber, wie viele Personen sich freiwillig
       zum Militär gemeldet haben. Das sagt jedenfalls ein Stabsleiter der
       militärischen Landtruppen gegenüber dem ukrainischen Nachrichtenportal
       [4][liga.net]. Er gibt zu bedenken, dass die Zahl der Freiwilligen sinke,
       viele seien ja schon an der Front. Noch reichten die Meldungen aber aus: In
       allen Regionen seien die Wartelisten voll, so der Armeesprecher.
       
       Der Leiter eines Kiewer Mobilisierungsbüros dagegen äußerte sich im August
       in einem Interview mit dem Nachrichtenportal [5][hromadske.org] deutlich
       negativer. Das Interesse der Freiwilligen sei im Unterschied zu den ersten
       Wochen stark zurückgegangen: „Auf 100 Personen kommen jetzt vielleicht noch
       3.“
       
       Je länger der Krieg dauert, je mehr Männer eingezogen werden und je mehr
       Opfer es gibt, desto größer dürfte auch der soziale Druck auf Menschen wie
       Michail Nasarenko werden. Schon jetzt sind sie Ziel für Frust und
       Aggression, vor allem in den sozialen Netzwerken. In den ersten
       Kriegsmonaten wurden bei Tiktok und Facebook Posts geteilt, in denen
       gefordert wurde, dass alle Wehrfähigen, die das Land verlassen haben, ihre
       Staatsbürgerschaft verlieren sollten.
       
       Influencer mit großer Gefolgschaft drohten ihnen im Internet
       Strafverfolgung an, wenn sie sich trauten zurückzukommen, erinnert sich ein
       aus gesundheitlichen Gründen Ausgereister. Auch im persönlichen Umfeld kann
       das schwierig werden: Er erzählt, dass seine Schwägerin ihm Verrat vorwarf
       an dem Tag, als sein Bruder und ihr Mann an die Front in die Region Donezk
       geschickt wurde.
       
       Gleichzeitig wird die öffentliche Debatte um die Mobilisierung immer
       lauter. Da das Kriegsrecht Kundgebungen oder Demonstrationen verbietet,
       bleibt als Protestmittel gegenüber der Politik nicht viel. Auch deshalb
       startete der ukrainische Rechtsanwalt Oleksandr Humirow aus Odessa im Mai
       seine Online-Petition gegen die Wehrpflicht und das Ausreiseverbot für
       wehrfähige Männer. In der Begründung schrieb er: „Eine Person, die
       gezwungen wird, ‚Verteidiger‘ zu werden, wird die Ukraine nicht effektiv
       schützen.“ Die Art der Mobilisierung vergleicht er mit „totalitären
       Methoden“.
       
       Manches hätte Michail Nasarenko wohl sehr ähnlich formuliert. „Nicht jeder
       sollte mit einem Gewehr im Graben sitzen. Viele sind in anderen Bereichen
       effektiver. Insbesondere in der Wirtschaft, deren Steuern den Haushalt des
       kriegführenden Landes füllen“, heißt es. Für den Rechtsanwalt sind das
       Ausreiseverbot und die undurchsichtigen Mobilisierungspraktiken vor allem
       ein Nährboden für Korruption: „Zu welchem Zweck geht man so vor? Um
       Bestechungsgelder zu erhalten – die Logik legt nichts anderes nahe.“
       
       Oleksandr Humirows Petition wurde diskutiert, auch von vielen kritisiert,
       weil sie die Kampfmoral schwächen könnte. Wenige Wochen nach Petitionsstart
       löschte Humirow sein Facebook-Konto. Auf Telegram schreibt er weiter
       kritisch über juristische Vorgänge, reagiert aber nicht auf
       Direktnachrichten der taz.
       
       Seine Petition hatte schon nach drei Tagen mehr als die nötigen 25.000
       Unterschriften, die den ukrainischen Präsidenten zu einer Reaktion
       verpflichten. Selenski reagierte mit Unverständnis. In der offiziellen
       Antwort beruft er sich auf das geltende Kriegsrecht, zählt Paragrafen auf,
       die die Dienstpflicht und das Ausreiseverbot juristisch stützen.
       
       Die Ukraine verweigere durch das verhängte Kriegsrecht ihren Bürgern ein
       Menschenrecht, kritisiert der Verein Connection, der sich von Offenbach aus
       international für die Rechte von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren
       einsetzt. Über die Partnerorganisation „Ukrainische Pazifistische Bewegung“
       wisse der Verein von [6][Tausenden eröffneten Gerichtsverfahren] wegen
       Kriegsdienstverweigerung, sagt Mitglied Rudi Friedrich. Es drohten
       jahrelange Haftstrafen. „Das ist fürchterlich. Das Menschenrecht auf
       Kriegsdienstverweigerung gilt doch nicht nur in guten Zeiten.“ Der Verein
       schätzt die Zahl der ukrainischen Wehrdienstunwilligen auf mehrere 10.000.
       Wer nicht irgendwie ins Ausland komme, müsse sich verstecken. „Krieg bringt
       immer eine starke Polarisierung und Militarisierung der Gesellschaft mit
       sich“, sagt Friedrich. Die Armee werde verherrlicht. „Das führt zu einer
       starken Ausgrenzung derer, die da nicht mitmachen wollen. Sie sind einem
       großen Risiko ausgesetzt.“
       
       Das gilt nun wohl auch für Russland. Nach Putins Mobilmachung in dieser
       Woche dürfen Russen − bislang offiziell Reservisten − im wehrpflichtigen
       Alter ihren Wohnort nicht mehr verlassen. Die Bilder von den russischen
       Grenzübergängen und Flughäfen zeigen aber, dass sehr viele versuchen, der
       Rekrutierung zu entgehen.
       
       Der Krieg geht weiter, die Wehrpflichtregelung, die in der Ukraine zu
       Friedenszeiten galt, wird so bald nicht zurückkommen. Die ukrainische
       Regierung steuert zwar nach, allerdings nur minimal: Seit Juli diskutiert
       das Parlament einen Gesetzentwurf, der einige Regeln zur Wehrpflicht
       verändern würde. So soll es nun extra für IT-Spezialisten − ein den Autoren
       des Entwurfs zufolge besonders wichtiger Wirtschaftszweig für die Ukraine −
       lockerere Ausreisemöglichkeiten geben. Angehörige von im Krieg Gefallenen
       könnten ebenfalls von der Verpflichtung zum Kampf entbunden werden.
       
       Über die Sommermonate war auch vielfach von einer geplanten Ausweitung der
       Wehrpflicht auf Frauen ab dem 1. Oktober berichtet worden. Damals hieß es,
       dass sich zumindest Frauen aus bestimmten Berufsgruppen ab dem Herbst bei
       der Armee registrieren sollten, damit das Militär im Bedarfsfall auf sie
       zurückgreifen kann. Anfang September meldete das Verteidigungsministerium
       aber, dass die Ausweitung aktuell nicht umgesetzt würde.
       
       Kritik an den Mobilisierungspraktiken kommt indes auch aus der Armee
       selbst. Der Blogger und Feldwebel Waleri Markus kritisierte im Juli [7][bei
       Facebook], dass die auf der Straße „eingefangenen“ Soldaten an der Front
       „mehr Probleme machen, als sie Nutzen bringen“. Nur „10 bis 15 Prozent“ von
       ihnen, so schreibt er, könne er gut einsetzen. Die überwiegende Mehrheit
       sei „eine unmotivierte Masse“, die nur Schwierigkeiten mache und ihn
       unnötig Zeit und Kraft koste. Eine rechtliche Regelung, wie er die
       Störenfriede zurückschicken könne, gebe es nicht, beklagt er. Der Beitrag
       des Feldwebels bekam 27.000 Likes und wurde 1.700 Mal geteilt. Es ist nur
       einer von vielen Beiträgen, in denen er interne Probleme der Armee
       thematisiert.
       
       Und sogar Verteidigungsminister Oleksij Resnikow selbst verurteilte die
       Rekrutierung auf der Straße. Durch das willkürliche Verteilen von
       Vorladungen bekomme der Armeedienst das Image eines „Strafdienstes“, räumte
       er gegenüber [8][BBC Ukraine] ein. Dabei sollten Soldaten aus Überzeugung
       und Stolz ihr Land verteidigen. „Manchmal wird die Vorladung für das
       Überschreiten der Geschwindigkeitsbegrenzung vergeben“, sagt Resnikow. „Ich
       halte das für völligen Unsinn, denn dem Land zu dienen und das Land zu
       verteidigen – das sollte definitiv keine Bestrafung sein.“ Resnikow
       bezeichnet dieses Vorgehen als „Exzesse“. Sie zu unterbinden, hat er
       offenbar noch nicht geschafft.
       
       Michail Nasarenko ist überzeugt, dass er seinem Land nichts schuldig ist.
       „Ich finde, ich habe schon so viel für die Ukraine gemacht: über zehn Jahre
       Aktivismus, Arbeit für ukrainische Unternehmen, saubere Steuern. Das muss
       doch reichen.“
       
       Er hat noch ein Argument, das ihm wichtig ist. Er richtet sich von seinem
       Sofa im Café auf. Ruhig, aber bestimmt, sagt er: „Seit Jahren höre ich als
       queere Person, dass ich nicht gleich bin. Aber jetzt, wo es ans Kämpfen
       geht, bin ich plötzlich doch gleich genug wie alle anderen Männer?“ Kurz
       überlegt er. „Dieser Staat will jetzt von mir, dass ich bereit bin, für
       dieses Land zu sterben. Bevor ich für euch kämpfe, will ich erst die
       gleichen Rechte und meinen Partner heiraten können!“
       
       Auch für die Ehe für alle gab es jüngst eine erfolgreiche Petition, die
       beim Präsidenten auf deutlich mehr Verständnis stieß als die
       mobilisierungskritische Petition zuvor. Doch der Queer-Aktivist glaubt
       nicht an einen schnellen Durchbruch. Er wird sich weiter engagieren, weiter
       online arbeiten.
       
       Ändert sich an seiner Situation mittelfristig nichts, überlegt Michail
       Nasarenko, ob er nicht doch nach einer passenden Promotionsstelle im
       Ausland suchen soll. Es wäre für ihn eine Möglichkeit, dem Kriegsdienst zu
       entkommen. Möglichst legal. Und: „Möglichst nah an der Ukraine, um weiter
       meine Liebsten sehen und unterstützen zu können.“
       
       Bis dahin muss er sich weiter verstecken. Licht aus, Vorhänge zu.
       
       25 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /-Nachrichten-zum-Ukraine-Krieg-/!5883528
 (DIR) [2] https://petition.president.gov.ua/petition/139292
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