# taz.de -- Familiennachzug in Niedersachsen: „Ich fühle mich wie hier geboren“
       
       > Riesige Schlachthöfe holen Rumänen in den Westen Niedersachsens. Radu
       > Remus ist einer, der blieb – trotz der harten Arbeitsbedingungen.
       
 (IMG) Bild: Radu und Maria Remus ihrem Restaurant Maria in Quakenbrück
       
       QUAKENBRÜCK taz | Pro Schicht kommen 2.500 Schweine rein, 5.000 Schinken
       raus. Beim Akkord bestimmt man selber die Geschwindigkeit, in der
       Zerlegestraße ist es das Band. „Ich hatte nicht erwartet, dass die Arbeit
       so schwer ist“, sagt Radu Remus. Aber beklagen will er sich nicht. 2.000
       Euro bekam er im Monat, als er 2011 aus Târgu Mureș in Siebenbürgen nach
       Quakenbrück im Westen Niedersachsens ging. In Rumänien verdiente man nicht
       mal ein Viertel. Remus war [1][Zeitarbeiter in der Fleischfabrik], teilte
       sich eine Sammelunterkunft mit einem Dutzend anderer Rumänen. „Es hat sich
       gelohnt, absolut“, sagt Remus heute.
       
       Für ihn zählt, was am Ende übrig blieb: Geld für ein kleines Häuschen, in
       den Bergen in Rumänien, „für den Urlaub, für die Rente“. Und das Restaurant
       hier in Niedersachsen. „Das war sein Traum“, sagt Maria, seine Tochter.
       
       Maria ist auch der Name seiner Frau, vielleicht war es logisch, das
       Restaurant da auch gleich so zu nennen. An einem Nachmittag im September
       sitzt Remus mit Maria und Maria und seinem Sohn am Tisch im Gastraum, in
       einem ehemaligen Teppichgeschäft, direkt an der Bundesstraße 68, auf halbem
       Weg zwischen Oldenburg und Osnabrück. Taubengrau und lindgrün ist hier
       alles, loungehaft, frisch gestrichen. Geöffnet hat es nur am Wochenende. An
       den anderen Tagen fährt Remus in einem Kleinbus andere Rumänen zu ihrer
       Schicht in der Fleischfabrik. Seine Frau arbeitet in einer Fleischfabrik,
       genau wie deren Schwester und Tausende andere Rumänen in der Region.
       
       Rund 50 Prozent der Einwohner Quakenbrücks haben heute
       Migrationshintergrund, doppelt so viel wie im Bundesschnitt. Auf 14.000
       Einwohner kommen rund 5.500 Ausländer, Rumänen sind die größte Gruppe. Es
       sind so viele, dass Remus die rumänische Botschaft davon überzeugen konnte,
       zur Präsidentschaftswahl 2019 und zur Parlamentswahl 2020 im Quakenbrücker
       Rathaus eine Wahlurne aufzustellen. 3.000 Rumänen gaben ihre Stimme ab,
       Remus verkaufte Ćevapčići und Bohnen mit Fleisch.
       
       ## Im dritten Jahr
       
       Als er 2011 in der Fleischfabrik anfängt, leistet er sich die Fahrt nach
       Rumänien nur im Sommer, wenn die Tochter Ferien hat. Als er im dritten Jahr
       für den Urlaub nach Rumänien kommt, stehen zu Hause gepackte Taschen im
       Flur, so erzählt es das Paar.
       
       „Haben wir Besuch?“, fragt er.
       
       „Wir kommen mit“, sagt seine Frau. „Oder ich lasse mich scheiden.“
       
       „Ich habe da keine Wohnung“, sagt Remus. „Kein Problem“, sagt Maria, seine
       Frau.
       
       Sie verkaufen ihre Wohnung in Târgu Mureș. Am 13. August 2013 kommt die
       Familie in Quakenbrück an. Keiner von ihnen spricht Deutsch. Sie ziehen in
       die Sammelunterkunft, die der Fleischkonzern für seine Arbeiter angemietet
       hat. Die anderen Schlachthofarbeiter rücken zusammen, so hat die Familie
       zwei Zimmer. „Das war die schwerste Zeit“, erinnert sich Maria, die
       Tochter. „Da waren ziemlich komische Typen.“
       
       ## Viele Nationalitäten
       
       Rund 90 verschiedene Nationalitäten leben heute in Quakenbrück, die
       Bürgermeisterin ist türkischstämmig. Die Migrationsgeschichte der Stadt ist
       exemplarisch für die ganze Region. Nach dem Krieg kommen
       [2][Heimatvertriebene aus Schlesien], Ostpreußen, Pommern, dem Sudetenland.
       Aus 7.000 Einwohnern werden 8.000.
       
       In Quakenbrück standen einst Europas größte Fahrradfabrik, eine Fabrik für
       Förderanlagen, eine für Pipelinerohre, eine für Puddingpulver, eine für
       Autositze. Die Industrie wollte „[3][Gastarbeiter]“, ab den 1960er Jahren
       kommen Griechen, Jugoslawen, Türken und Portugiesen. Die Einwohnerzahl
       steigt auf 10.000.
       
       In den 1990er Jahren ziehen Spätaussiedler in großer Zahl nach
       Westniedersachsen. Es eröffnen Baptistengemeinden, ein russischer
       Supermarkt, die Dorfdisko teilt die Wochenenden auf: freitags „nur Russen“,
       samstags „nur Deutsche“. 13.000 Einwohner.
       
       Die Sandböden hier geben für die Landwirtschaft nicht viel her, seit
       Jahrzehnten lebt die Region deshalb von der [4][Intensivmast]. Nirgends
       gibt es eine derartige Dichte von Großställen wie hier. Sie belasten die
       Umwelt enorm – und zogen die Riesen der Fleischbranche an: [5][Tönnies],
       Danish Crown, Kemper – allein im Umkreis von 10 Kilometern um Quakenbrück
       gibt es heute drei Zerlege-Großbetriebe mit über 4.000 Beschäftigten.
       
       ## Wie beim Spargel
       
       Die meisten Arbeiter dort sind Rumänen, genau wie beim Spargel, der auf den
       güllegefluteten Feldern der Region in ähnlichen Massen hergestellt wird wie
       in den Ställen und Schlachthöfen das Fleisch von Puten, Hühnern und
       Schweinen.
       
       Ab den nuller Jahren kamen deshalb Männer wie Radu Remus nach
       Niedersachsen. Agenturen vermittelten sie an Zeitarbeitsfirmen, einen
       Mindestlohn gab es noch nicht. Sie holten ihre Familien nach, heute leben
       über 14.000 Menschen in der Gemeinde und es gibt rumänische Supermärkte.
       
       Die Fleischfabriken sind berüchtigt dafür, vor allem [6][migrantische
       Beschäftigte auszubeuten], Beratungsstellen können ein Lied von den Tricks
       singen, mit denen sie etwa versuchen, den Mindestlohn umzugehen.
       
       Hat Remus das nicht gestört? Die schwere Arbeit, die kein Deutscher machen
       will? Er denkt nach. Ja, die Arbeit sei schwer, sagt er dann. Vor allem im
       Kühlbereich oder wenn man mehr als zehn Stunden arbeiten müsse. „Viele sind
       zufrieden, viele auch nicht.“
       
       „Das ist doch überall so“, sagt Maria, seine Frau. Er nickt. Und doch zieht
       Remus es schon bald vor, anderes zu tun. Er lernt Deutsch, spart für das
       Restaurant. 2017 kann die Familie es übernehmen. „Es sollte kein
       rumänisches Restaurant sein“, sagt Remus. „Wir kochen alles, nicht nur
       rumänisch.“ Aber die meisten, die hier ihre Feste feiern, sind Rumänen.
       
       ## Keine Chance für die AfD
       
       Die Familie lebt in einer Wohnung über dem Restaurant. Der Hausbesitzer hat
       noch weitere Immobilien, Remus arbeitet für ihn als Hausmeister. Vor der
       Eröffnung gab es selten Urlaub, und wenn, dann in Deutschland. „Europa-Park
       zum Beispiel, wie haben uns hier viel angesehen“, sagt Maria, seine Frau.
       Nach der Eröffnung gibt es zwei Jahre gar keinen Urlaub. Alles Geld fließt
       in das Restaurant, jeden Tag gibt es etwas zu tun.
       
       Ein besseres Leben, eine bessere Zukunft, wirtschaftliche Sicherheit. „Alle
       kommen deswegen her“, sagt Remus. „Ich hab geträumt von Deutschland. Wenn
       Ausland, dann hierhin.“
       
       Wieso? In Rumänien hatte er bei der Supermarktkette Real gearbeitet. Im
       Lager musste „alles richtig sein, alles genau“. Jürgen hieß der Manager,
       und der habe ihm das gezeigt. „Er hatte ein gutes System, er war gut
       organisiert, ich hab viel dazugelernt.“ Als Remus dann hier war, gefiel es
       ihm, die Gegend, die Leute. „Hilfsbereit, nett, egal, wo man hinkam“, sagt
       Maria, seine Frau.
       
       „Wir haben uns hier ein neues Rumänien gebaut“, sagt Remus. Er fühle sich
       „wie hier geboren“. Es gibt einen rumänischen Pastor, im nahe gelegenen
       Vechta. Einmal pro Woche gehen sie dorthin. Im Sommer veranstalten sie ein
       „Festival Traditional Romanesc“ mit Trachtenparade. Remus lässt Musiker und
       Tänzer aus Siebenbürgen kommen und verkauft Ćevapčići. Vermissen sie
       irgendwas? Maria schüttelt den Kopf. „Die Eltern. Die Familie“, sagt Remus.
       
       Der Bedarf an Arbeitskräften in den Fleischfabriken ist so groß, dass immer
       neue Rumänen in die Gegend herziehen. Freie Wohnungen gibt es kaum, die
       Fleischkonzerne suchen händeringend Unterkünfte für die neu eintreffenden
       Arbeitskräfte. Die Samtgemeinde finanziert ein „Büro für
       Behördenangelegenheiten“, das den Ankommenden mit dem Papierkram hilft.
       
       Die enorme Zuwanderung ist im Wesentlichen akzeptiert. „Die AfD hat bei uns
       keine Chance, darauf sind wir stolz“, das hört man von CDU-lern hier. 7,8
       Prozent bekam die AfD bei der Bundestagswahl 2021 in der Samtgemeinde –
       etwas mehr als in Niedersachsen insgesamt, etwas weniger als im
       westdeutschen Schnitt.
       
       Anfang September haben die Kinder einen deutschen Pass beantragt. Remus und
       seine Frau wollen bald dasselbe tun. 20 Jahre haben die zwei noch bis zu
       zur Rente. Ihr Sohn hat geheiratet, er betreibt einen Frisörsalon in der
       Nähe. „Die Kinder bleiben hier, die wollen hier leben“, sagt Remus. „Mal
       sehen, vielleicht bleiben wir dann auch hier.“
       
       9 Oct 2022
       
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