# taz.de -- Ausbeutung in der Fleischindustrie: „Diesen Job würde kein Deutscher machen“
       
       > Ein neues Gesetz soll die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie
       > verbessern. Hält es, was es verspricht? Eine Recherche im sächsischen
       > Torgau.
       
 (IMG) Bild: Akkordarbeit in einem Schlachthof
       
       Broiler machen froh, Keulen und Flügel ebenso“ steht auf einem großen
       Plakat an der Bundesstraße 87 kurz vor der Kleinstadt Torgau, nordöstlich
       von Leipzig. Das massive Schild ist eine Werbetafel der Gräfendorfer
       Geflügel- und Tiefkühlfeinkost Produktions GmbH. Nur wenige Kilometer
       entfernt, in der Gemeinde Mockrehna, lässt sie massenweise Hühner rupfen,
       schlachten und abpacken.
       
       Deutschland ist der fünftgrößte Geflügelproduzent in Europa. [1][2019
       wurden hierzulande 703,8 Millionen Hühner, Puten und Enten geschlachtet].
       Allein bei Gräfendorfer, einem Teil der Firmengruppe Sprehe mit Sitz in
       Niedersachsen, verarbeitete man 2018 100.699 Tonnen Masthähnchen und machte
       2019 mehr als 150 Millionen Euro Umsatz.
       
       Diese Form der Produktion geht jedoch nicht nur auf Kosten der Tiere,
       sondern auch auf die der Beschäftigten. [2][Rund 600 Beschäftigte] zählt
       der Betrieb. [3][Ein Großteil von ihnen] kommt aus Bulgarien, Rumänien oder
       der Slowakei, viele von ihnen sind Rom:nja. Fragt man die Menschen aus der
       Region, warum bei Gräfendorfer so viele ausländische Beschäftigte arbeiten,
       sagen alle: Dies ist ein Job, den kein Deutscher machen würde.
       
       Doch seit Januar 2021 gibt es ein [4][neues Arbeitsschutzkontrollgesetz],
       das mit den Ausbeutungsverhältnissen in der deutschen Fleischindustrie
       „aufräumen“ soll, wie Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Zuge des
       Coronaskandals bei Tönnies 2020 sagte. Mit dem neuen Gesetz wurden zuerst
       die Werkverträge in den Schlachtbetrieben verboten, seit April gehören auch
       Leiharbeitsverträge der Vergangenheit an. Aber hat das neue Gesetz die
       Situation für die Beschäftigten der Gräfendorfer Geflügel- und
       Tiefkühlfeinkost Produktions GmbH verbessert?
       
       Wer mehr darüber erfahren möchte, muss den etwas verrufenen Stadtteil
       Torgau Nordwest besuchen. Seit Jahren gibt es hier Streit, vor allem um
       zwei Plattenbauten. In den heruntergekommenen Gebäuden, in denen nicht mal
       mehr die Klingelanlagen funktionieren, leben viele osteuropäische
       Fleischarbeiter:innen auf engstem Raum.
       
       2018 sagte der damals amtierende Bürgermeister Matthias Grimm-Over, dass es
       vor allem die „Arbeitsnomaden“ seien, die für die „Zustände“ in Nordwest
       sorgen – und meinte damit die angebliche Müll- und Lärmbelästigung sowie
       Kriminalität. 2020 bezeichnete der CDU-Stadtrat Edwin Bendrin die Menschen
       dort gar als „Abschaum“. Aber es gibt auch die, die sagen, wie schlecht die
       Fleischarbeiter:innen bei Gräfendorfer behandelt werden und wie wenig
       sich von Vermieterseite um die Wohnungen gekümmert wird. Selten sind es
       jedoch die Beschäftigten selbst, die erzählen.
       
       „Sie haben zu viel Angst davor, ihren Job zu verlieren“, sagt Renata
       Horvathova, eine freundliche Frau mit kunstvoll manikürten Fingernägeln.
       Horvathova arbeitet als Beraterin für Romano Sumnal. Einem Verein, der 2019
       eine Zweigstelle in Torgau Nordwest eröffnet hat, um die Rom:nja zu
       unterstützen. Oft hinge die Existenz der gesamten Familie von dem Job in
       der Geflügelfabrik ab, sagt Horvathova. „Ohne Einkommen haben sie keine
       Perspektive.“
       
       Nur ein einziger ihrer Klient:innen will mit der taz sprechen. Der Rom
       Damian Kolozova ist 27 Jahre alt und heißt eigentlich anders, will aus
       Angst vor Konsequenzen aber anonym bleiben. Beim Gespräch im Büro des
       Vereins lässt der junge Mann mit dem gepflegten Dreitagebart die Schultern
       hängen. Im Dezember 2020 war er aus der slowakischen Kleinstadt Nitra nach
       Torgau gekommen, „um Arbeit zu finden“, wie die Beraterin aus dem
       Slowakischen übersetzt.
       
       Nitra ist eine Stadt, aus der viele Rom:nja auswandern. Sie werden dort
       häufig rassistisch diskriminiert, leben in ärmlichen Verhältnissen, am
       Rande der Stadt, [5][die Arbeitslosenquote liegt bei fast 100 Prozent].
       Subunternehmen nutzen das aus und werben sie für den deutschen
       Billiglohnsektor an – so machten sie es auch mit Kolozova.
       
       Er fing im Dezember 2020 bei Gräfendorfer an. Mit seiner Partnerin und den
       zwei kleinen Kindern teilte er sich zunächst die enge Wohnung seiner
       bereits seit einigen Jahren in Torgau Nordwest lebenden Mutter, bis die
       Familie im Mai desselben Jahres eine eigene Wohnung in der Innenstadt
       bekam. Für Kolozova war der Neuanfang zunächst ein Segen. „Ich war sehr
       glücklich, dass ich Arbeit gefunden hatte“, sagt er – und dass er deshalb
       ja überhaupt erst nach Deutschland gekommen sei.
       
       Nach nur einem knappen halben Jahr war er wieder arbeitslos. Im Juni 2021
       wurde ihm außerordentlich und fristlos gekündigt. In dem
       Kündigungsschreiben, das der taz vorliegt, heißt es: „Die Kündigung erfolgt
       aufgrund Ihres pflichtwidrigen Verhaltens und dem daraus resultierenden
       zerstörten Vertrauensverhältnis.“
       
       Was war passiert?
       
       In dem Schreiben ist auch nachzulesen, dass Kolozova drei Fehltage hatte.
       Zwei aufeinanderfolgende im Mai und einen im Juni. Gräfendorfer wirft ihm
       vor, unentschuldigt gefehlt zu haben. Kolozova hingegen sagt, er sei krank
       gewesen und habe dies seinem Arbeitgeber auch per Telefon mitgeteilt.
       Tatsächlich zeigt seine Anrufaufzeichnung für den Tag vor dem ersten Fehlen
       einen Anruf bei seinem Vorarbeiter an. Kolozova erzählt, sein ärztliches
       Attest sei im Nachhinein nicht mehr akzeptiert worden. Ob es das Attest
       gibt, konnte die taz nicht überprüfen.
       
       Zwei Schreiben von Gräfendorfer belegen jedoch, dass er für beide Fehltage
       eine Abmahnung erhielt. Als er nach zwei Tagen mit Fieber wieder zur Arbeit
       gekommen sei, berichtet Kolozova, bat er darum, erneut zum Arzt gehen zu
       dürfen. Sein Chef soll gesagt haben: „Wenn du jetzt wieder nach Hause
       gehst, brauchst du nicht wiederkommen.“
       
       Wenn der junge Mann das erzählt, schaut er immer wieder betroffen auf seine
       Füße. Dass er arbeiten will, um seine Familie zu ernähren, glaubt man ihm.
       Viel verdient hat er indes nicht: Der Stundenlohn liegt bei 8,75 Euro plus
       einer Schichtprämie von 10 Cent pro Stunde. Im Mai kam er so auf insgesamt
       957,36 Euro netto. Zieht man die Mietkosten ab, blieben für die vierköpfige
       Familie 642,36 Euro zum Leben.
       
       „An manchen Tagen habe ich bis zu 13 Stunden gearbeitet, ohne die
       Überstunden ausgeglichen zu bekommen“, sagt Kolozova. Fragt man ihn, woraus
       seine Arbeit bestand, verzieht er angeekelt das Gesicht.
       
       Der Gestank sei nicht auszuhalten gewesen, erinnert er sich und schildert
       die Arbeitsabläufe: Zunächst würde ein Gebläse die herumflatternden Hühner
       bei lebendigem Leib durch einen Trichter drücken. Dabei würden die Hühner
       vor lauter Angst ammoniakhaltigen, stinkenden Kot aussondern. Am Ende des
       Trichters stünden Arbeiter:innen, die die Hühner an den Füßen festbänden
       und aufhingen. Von dort aus würden sie dann weitertransportiert,
       automatisiert getötet, gerupft und im Anschluss per Hand portioniert und
       verpackt.
       
       Ein weiterer Mann, der ebenfalls anonym bleiben möchte, bestätigt der taz
       den Produktionsablauf. Er sagt, er habe das einmal gesehen – und danach
       sein Frühstück erbrochen. Die taz selbst konnte den Betrieb nicht
       besichtigen, eine entsprechende Anfrage wurde nie beantwortet.
       
       Die harte Arbeit ist das eine, das andere sind die unzumutbaren
       Arbeitsbedingungen, die laut mehrerer Personen bei Gräfendorfer
       vorherrschen sollen. Damian Kolozova ist nicht der Einzige, der davon
       berichtet. Auf der Online-Plattform Kununu, auf der Angestellte ihre
       Arbeitgeber:innen bewerten, ist von „Brüllen und Toben“ im Betrieb die
       Rede, von ständigen Schichtwechseln und Überstunden, und davon, dass eine
       ungewöhnlich hohe Fluktuation herrsche.
       
       Die Beraterin von Romano Sumnal kennt die Vorwürfe. Die Arbeiter:innen
       beschwerten sich schon länger über Ausbeutung bei Gräfendorfer, sagt sie.
       Außerdem würden Klient:innen immer wieder von Überstunden und
       Abmahnungen berichten.
       
       Renata Horvathova berichtet zudem, dass einigen ihrer Klient:innen schon
       vor Ablauf der sechsmonatigen Probezeit fristlos gekündigt wurde.
       
       Warum?
       
       „Wenn sie nicht mehr gebraucht werden, oder aufgrund von Krankheit nicht
       mehr verwertbar sind, werden sie ausgetauscht“, sagt sie.
       
       Die taz hat die Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost Produktions
       GmbH schon vor Monaten mit den Vorwürfen konfrontiert. Doch erst nach
       Anrufen, fünf E-Mails und dem Hinweis auf eine baldige Veröffentlichung hat
       sie reagiert.
       
       In der Rückmeldung vom 30. Juli schreibt das Unternehmen auf die Frage, ob
       es bei ihm üblich sei, jemanden nach mehr als dreitägiger Krankmeldung und
       nachträglich eingereichtem Attest abzumahnen und fristlos zu kündigen: „Da
       wir als Lebensmittelunternehmen auf die Zuverlässigkeit unserer
       Arbeitnehmer angewiesen sind, ist es eine notwendige Konsequenz unseres
       Unternehmens, entsprechende Verstöße zu ahnden.“ Jedoch würde eine
       Kündigung stets unter Einhaltung der rechtlichen Vorgaben ausgesprochen. Im
       Übrigen habe jede:r Angestellte jederzeit das Recht, einen Arzt
       aufzusuchen.
       
       Auch bei den Arbeitszeiten halte man sich stets an die Gesetzgebung,
       schreibt das Unternehmen weiter: „Die tägliche Regel-Arbeitszeit beträgt 8
       h im Mehrschichtsystem. Eine Ausdehnung von Arbeitszeiten z. B. im
       Saisongeschäft, bei Havarien oder Notfällen erfolgt ausschließlich im
       Rahmen der Gesetzlichkeiten.“ Sofern Überstunden anfielen, würden sie
       notiert und ausbezahlt.
       
       Die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie werden nicht erst seit dem
       Tönnies-Skandal kritisiert. Wie [6][eine kleine Anfrage] der Linkspartei
       von 2019 zeigt, hat sich der Anteil der ausländischen Beschäftigen seit
       2008 in der Fleischindustrie [7][verdreifacht]. Eine zunehmende
       Rationalisierung der Betriebe führt laut der Bundeszentrale für politische
       Bildung zu einer Verschiebung von unternehmerischer Verantwortlichkeit.
       „Für die Beschäftigten hat das erhebliche Folgen“, heißt es in einem
       [8][Dossier].
       
       Besonders schlimm davon betroffen sind Rom:nja. Laut eines
       [9][Monitoringberichts] des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma befinden
       sie sich am untersten Ende der Ausbeutungsskala in Europa. Dennoch kommen
       viele von ihnen nach Deutschland, weil die Perspektive auf einen Job unter
       schlechten Bedingungen besser ist als gar keine.
       
       Gjulner Sejdi möchte den sich daraus ergebenden Abhängigkeiten etwas
       entgegensetzen. Der Vereinsvorsitzende von Romano Sumnal ist selbst Rom.
       Die taz trifft ihn in der Hauptgeschäftsstelle in einem Plattenbau in
       Leipzig-Grünau. „Wir wollen zeigen, wer wir sind“, steht auf einem Plakat
       an der Wand, im eigens eingerichteten Tonstudio treffen sich junge Rom:nja
       zum Musikproduzieren. Es gehe um die „Selbstvertretung der Roma und Sinti
       in allen für unsere Minderheit relevanten Bereichen“, sagt Sejdi – und um
       den Kampf gegen Antiromaismus.
       
       Der Jurist Sejdi, im dunkelblauen Wollpulli über kariertem Hemd, ist
       während des Jugoslawienkriegs nach Deutschland gekommen. Für sein
       Engagement erhielt er 2017 die Auszeichnung „Botschafter für Demokratie und
       Toleranz“.
       
       „Alle wollen billiges Fleisch, aber niemand fragt sich, warum es so billig
       ist“, sagt Sejdi. Er glaubt, dass die Abhängigkeiten auch dadurch
       entstehen, dass die Diskriminierung von Rom:nja noch immer weit verbreitet
       ist. Die Rom:nja würden für Jobs, die Deutsche nicht machen wollen,
       geholt, erhielten aber kaum Rechte. Dazu gehört auch, dass aufgrund von
       rassistischer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt die wenigsten ihren
       Wohnort frei wählen können.
       
       Mit 12 Millionen Angehörigen gilt die Bevölkerungsgruppe der Rom:nja und
       Sinti:zze als größte ethnische Minderheit in Europa – und zugleich als
       eine der am meisten diskriminierten Gruppen. Oftmals werden sie als fremd
       markiert, dabei sind sie seit dem Mittelalter hier ansässig. In der NS-Zeit
       wurden geschätzt zwischen 220.000 und 500.000 Rom:nja und Sinti:zze aus
       rassistischen Gründen ermordet – Porajmos nennen sie selbst diesen Genozid.
       Bis heute ist er kaum aufgearbeitet, der Antiromaismus hingegen noch immer
       weit verbreitet. Laut der Leipziger [10][„Mitte-Studie“] glaubt jede:r
       Fünfte in Deutschland, „Sinti und Roma neigen zur Kriminalität“.
       
       Zurück in Torgau Nordwest, wo viele Rom:nja, die bei Gräfendorfer arbeiten,
       wohnen. Das Viertel ist funktional: ein Spielplatz, eine Grundschule, Kita,
       Hausarzt, Discounter. Zwischen den Wohnblöcken sind Wäscheleinen gespannt,
       die Farbe der Spielgeräte abgeplatzt. Einige Teenager lungern auf
       Holzbänken, krachende Popmusik dröhnt aus ihren Smartphones. Seit über zwei
       Jahren hat sich niemand für die ausgeschriebene Sozialarbeiterstelle
       gefunden.
       
       In den Zeitungen wird von Kriminalität geschrieben, Ruhestörungen,
       Vandalismus und illegalen Mülllagern. Insbesondere die beiden
       Plattenbauten, in denen rund 1.000 Osteuropäer:innen leben, stehen im
       Fokus.
       
       Es ist ein kühler Vormittag im Juni. Die taz ist mit Romina Barth
       verabredet, die mit 38 Jahren die jüngste Oberbürgermeisterin Sachsens ist.
       Die CDU-Frau ist medienaffin, zum Treffen in Nordwest erscheint sie in
       einem langen, weißen Sommerkleid und schimmernden Perlenohrringen. Fragt
       man sie, welche Probleme es hier gibt, macht sie ein sorgenvolles Gesicht.
       „Es sind vor allem Probleme kultureller Natur“, sagt Barth. Spielende
       Kinder, die Ruhesuchende stören, fehlende Mülltrennung, Diebstähle.
       
       Doch „meterhohe Sperrmüllberge“, wie es die Lokalzeitungen schreiben, sieht
       man hier nicht. Stattdessen Balkone, von denen hier und da ein Teppich zum
       Lüften herunterhängt, an der Straßenecke ein Einkaufswagen, vereinzelte
       Müllschnipsel auf einer Wiese. Es ist kein Ordnungsparadies, aber auch kein
       Bild der Verwüstung. Eher der Anblick einer Gegend, in der viele Menschen
       auf engem Raum leben.
       
       Dennoch hat der Stadtteil als „Brennpunktviertel“ 2018 einen
       Bürgerpolizisten zugeordnet bekommen, 2019 kam ein zweiter hinzu. Zwei
       gemütliche Männer, die zwischen den Bewohner:innen und Behörden
       vermitteln sollen und seitdem tagein, tagaus durch das Viertel streifen.
       „Wir sind nicht dazu da, um mit dem Knüppel draufzuhauen“, sagt einer,
       „sondern um zu helfen.“ Ihrer Meinung nach sind es vor allem die Eigentümer
       selbst, die die Häuser verwahrlosen lassen. Es gebe keinen Hausmeister,
       erzählen sie, keine Wartung der Wohnungen.
       
       Bis vor Kurzem gehörten die Blöcke einer Firma in Dresden, die sich auf
       taz-Anfragen nicht zu den Vorwürfen äußerte. Die Bürgermeisterin sagt, dass
       die Stadt mehrfach Bußgelder gegen die Firma verhängt habe, weil sie sich
       nicht um den Zustand ihrer Häuser kümmere. Doch seit dem 1. Juli gibt es
       mit der Firma Murek Immobilienmanagement eine neue Eigentümerin. Auf
       Anfrage erklärt sie der taz, dass man das Haus instand setzen wolle, aber
       auch „kontrollieren, wer dort wohnt“ und im Falle von Mietbetrug
       „rechtliche Instrumentarien schaffen“.
       
       Aber die Fleischarbeiter:innen brauchen mehr als ordnungspolitische
       Maßnahmen. „Ständig beschweren sich Menschen über Fahrraddiebstähle“, sagt
       einer der Polizisten. „Aber über die unmenschlichen Bedingungen, unter
       denen die Osteuropäer hier leben, beschwert sich niemand.“
       
       Renata Horvathova von Romano Sumnal erklärt, dass die Beschäftigten bei
       Gräfendorfer Aufhebungsverträge unterzeichnen müssten, wenn sie gekündigt
       werden. Darin werde vereinbart, dass sie ihre Ansprüche auf
       Sozialleistungen abtreten und dann für drei Monate kein Arbeitslosengeld
       bekommen. Oftmals wüssten sie mangels Übersetzung gar nicht, was sie da
       unterschreiben.
       
       Diese Praxis ist nicht selten. Bis zum vergangenen Jahr waren die meisten
       ausländischen Beschäftigten über Subunternehmen bei den Fleischproduzenten
       angestellt. Das ermöglichte den Firmen, Verantwortung abzugeben,
       gesetzliche Grauzonen auszunutzen und keine unbefristeten Verträge
       ausstellen zu müssen.
       
       Laut dem [11][Deutschen Gewerkschaftsbund] liegt der Anteil der eigenen
       Beschäftigten in fast allen großen deutschen Schlachtbetrieben unter 50
       Prozent, bei manchen sogar nur bei 10 Prozent.
       
       Hinzu kommt, dass laut einer Erhebung von 2018 über 70 Prozent der
       ausländischen Beschäftigten ihren Job innerhalb eines Jahres verloren
       haben.
       
       Die Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost Produktions GmbH verneint,
       ehemalige Angestellte jemals zur Unterzeichnung eines Aufhebungsvertrages
       genötigt zu haben: „Wenn uns ein Kollege kurzfristig verlassen möchte,
       legen wir keine Steine in den Weg und dafür ist ein Aufhebungsvertrag ein
       probates Mittel.“ Darüber hinaus arbeite man bei Bedarf mit Dolmetschern
       und Übersetzungen, sodass der Verständigung nichts im Wege stünde.
       
       Hat das neue Arbeitsschutzkontrollgesetz überhaupt etwas gebracht?
       
       Fragt man die Mitarbeiter:innen von Romano Sumnal, sagen sie, dass es
       jetzt zwar feste Verträge zwischen Gräfendorfer und den Angestellten gebe,
       fristlose Kündigungen passierten aber weiterhin, und auch die unbezahlten
       Überstunden und 14-Stunden-Schichten seien geblieben.
       
       Auch die Bundeszentrale für politische Bildung kritisiert, dass der
       informelle Charakter der Arbeitsverhältnisse das neue Gesetz oft
       unterlaufe: „Auf dem Papier müssen Arbeitszeiten eingehalten werden,
       tatsächlich wird undokumentiert bis zu 16 Stunden am Tag und bis zu sieben
       Tage in der Woche gearbeitet“, schreibt sie in ihrem Bericht.
       
       Hinzu kämen zahlreiche Nischen, um Menschen in Leiharbeit statt in
       Festanstellung zu beschäftigen, sagt eine Sprecherin der Beratungsstelle
       für ausländische Beschäftigte. So gelten die neuen Regelungen
       beispielsweise nicht für Reinigungs- und Aufräumarbeiten oder die
       Herstellung von vegetarischem Fleischersatz.
       
       Auch in Torgau Nordwest sind die Probleme noch lange nicht gelöst.
       Bürgermeisterin Barth sagt zwar, sie wolle „miteinander statt übereinander
       reden“, hat nach eigener Aussage aber erst einmal mit einem osteuropäischen
       Bewohner gesprochen. Wenn man sie fragt, warum, sagt sie:
       „Sprachbarrieren.“
       
       Für Damian Kolozova soll es trotz Kündigung weitergehen. Renata Horvathova
       möchte ihm ein Berufscoaching des Europäischen Bildungswerks mit
       anschließender Weiterbildung vermitteln, vielleicht als Hotelfachmann. Bis
       dahin heißt es, weiter Formulare ausfüllen, Gelder beantragen, überleben.
       
       Die Recherche wurde vom Deutschen Institut für Menschenrechte, RomaniPhen
       und der Stiftung EVZ gefördert.
       
       6 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/02/PD20_036_413.html
 (DIR) [2] https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-dresden-anstieg-bei-corona-neuinfektionen-in-sachsen-ueber-6000-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200901-99-390400
 (DIR) [3] https://www.saechsische.de/plus/fleisch-mit-gutem-gewissen-5219199.html
 (DIR) [4] https://dserver.bundestag.de/brd/2020/0426-20.pdf
 (DIR) [5] https://www.researchgate.net/publication/333753122_Problems_of_the_Roma_families_LOCATION_ORECHOV_DVOR_IN_NITRA
 (DIR) [6] https://kleineanfragen.de/bundestag/19/11284-arbeitsbedingungen-in-der-fleischindustrie
 (DIR) [7] https://de.statista.com/infografik/22039/beschaeftigte-im-wirtschaftszweig-schlachten-und-fleischverarbeitung-in-deutschland/
 (DIR) [8] https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/325067/fleischindustrie
 (DIR) [9] https://zentralrat.sintiundroma.de/wp-content/uploads/2019/11/rcm-y3-c2-germany-local.pdf
 (DIR) [10] https://www.fes.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=65543&token=be951e80f3f538cca04a67567b9da4b995a93c64
 (DIR) [11] https://www.dgb.de/themen/++co++fa053272-d1a7-11ea-bd7f-001a4a160123
       
       ## AUTOREN
       
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 (DIR) Tarifvertrag in der Fleischindustrie: Fleischindustrie reagiert wurstig
       
       Bei Betrieben der Zur-Mühlen-Gruppe wurden die Tarifverträge aufgekündigt.
       Damit könnten sich bald bundesweit schlechte Arbeitsverträge durchsetzen.
       
 (DIR) Razzien in der Fleischindustrie: Chaos der deutschen Fleischkonzerne
       
       Der Bundestag muss schnell den Gesetzentwurf von Arbeitsminister Hubertus
       Heil gegen Ausbeutung in der Branche verabschieden.
       
 (DIR) Tönnies-Beschäftigte in Quarantäne: Das große Warten
       
       Seit drei Wochen sind viele, die bei Tönnies arbeiten, in Quarantäne. Ihr
       Unmut richtet sich gegen die Behörden und gegen ihre Arbeitgeber.