# taz.de -- Widerstand im Körper: Über miteinander verbundene Kämpfe
       
       > Unsere Autorin findet: Wer sich gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt
       > einsetzt, ist nah an den Menschen, die im Iran nach Freiheit rufen.
       
 (IMG) Bild: Athen, 24. September: ein Haarzopf, aus Solidarität mit den Frauen im Iran abgeschnitten
       
       Wenn man denn hinsieht, sieht man Bilder, die man nicht vergisst: Die
       Mädchen, die ihr Tuch abgelegt haben, die auf die Tafel in ihrem
       Klassenraum blicken, deren langes Haar ihren Rücken bedeckt und deren
       Mittelfinger sich gegen die alten Männer des Regimes erhebt. Die Frauen,
       die [1][in Solidarität] ihre Haare abschneiden, mit Zorn auf der Stirn und
       weit geöffneten Mündern. Die Fotos und Videos von [2][Jîna Mahsa Amini],
       von Nika Shakarami, von Sarina Esmaeilzadeh und von den vielen, deren Namen
       hier nicht angekommen sind.
       
       Ich würde sagen, dass ich eine freie Frau bin, meistens. Eine, die aus
       Sehnsucht nach Leichtigkeit nach Süden fährt und auf dem Rückweg den Koffer
       voller Steine hat. Die am Tag nach der Wahl in Italien die ligurischen
       Hügel betrachtet und sich fragt, ob eine Landschaft auch dann noch schön
       ist, wenn sie im Faschismus liegt. Ich bin eine von denen, die vor den
       Nachrichten weglaufen, die kurz auf Pause drücken und sich dabei sorgen,
       dass aus zwei Wochen Wegsehen aus Erschöpfung Monate der Ignoranz aus
       Bequemlichkeit werden.
       
       Ich bin eine freie Frau, die sich jeden Sommer über sich selbst ärgert,
       wenn sie das kurze Kleid anzieht und dann doch wieder aus, obwohl sie es
       liebt. Ich bin eine, die mit Anfang 30 übt, ihre Beine nicht ständig zu
       überschlagen, sondern sie parallel nebeneinander zu stellen und den Blick
       auf die eigenen Schenkel auszuhalten. Eine, die das Wort Freiheit oft
       gehört hat, zuletzt immer öfter so fürchterlich missbraucht, dass sie sich
       diese Freiheit vorstellt wie einen pappigen Zwetschgenknödel ohne Füllung.
       
       ## Viel sein dürfen
       
       Ich bin eine Frau, die viele ist und sein darf. Ich bin keine, die dabei um
       ihr Leben fürchten muss. Wenn sie von zornigen Männern angebrüllt wird, sie
       habe sich zu bedecken. Wenn eine Haarsträhne hervorguckt. Wenn sie auf der
       Straße tanzt und singt. Keine, deren Schädel und Nase sie zertrümmern,
       deren Körper sie verscharren. Ich bin nicht die Frau, die zum Gesicht einer
       Revolution wird, obwohl ihr Gesicht nichts hätte werden sollen – außer
       älter. Ich bin keine, der verboten wird, das Land ihrer Eltern zu betreten,
       aber ich bin eine, die so einen Tag fürchtet.
       
       Es fühlt sich weit weg an: Widerstand im Körper zu tragen, nicht als
       Theorie, sondern als Muskel. Einerseits. Andererseits: Wer gegen die
       gläserne Decke kämpft und sich an der Ungleichverteilung von Care-Arbeit
       stößt, wer auf häusliche Gewalt aufmerksam macht, auf Polizeigewalt, wer
       für das Recht auf körperliche Selbstbestimmung protestiert und gegen das
       Sterbenlassen auf den Fluchtrouten nach Europa – wer das tut, ist nah an
       den Menschen, die im Iran nach Freiheit rufen. Wer das tut, muss die
       Verbindungen sehen.
       
       [3][Annie Ernaux] schreibt in „Erinnerungen eines Mädchens“ von einer
       Situation, „die seit undenklichen Zeiten überall auf der Welt stattfindet.“
       Ich bin eine, die unterstreicht: „Jeden Tag bilden Männer irgendwo auf der
       Welt einen Kreis um eine Frau, um sie zu steinigen.“
       
       13 Oct 2022
       
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