# taz.de -- Niedersachsen vor der Wahl: Tagesausflüge nach Wolfsburg
       
       > Die Stadt ist mehr als VW und VfL. Ein Plädoyer gegen stumpfe Witze und
       > Vorurteile.
       
 (IMG) Bild: VfL Wolfsburg – ein Leben für die Stadt und den Fußball
       
       WOLFSBURG taz | Wer die Story schon mal gehört hat, den bitte ich um
       Nachsicht, jedenfalls bin ich Schwabe und wurde als Fan des VfB Stuttgart
       geboren und erzogen. Entschied mich dann aber unter dem Einfluss der
       Französischen Revolution und der Aufklärung, mein Menschenrecht auf
       Freiheit in Anspruch zu nehmen und nicht als Fan des VfB zu sterben.
       
       Das ruft bei normalen, also reaktionären Fußballfans Ablehnung und sogar
       Abscheu hervor. Das darf man doch nicht! Möglicherweise hängen die
       negativen Reaktionen auch damit zusammen, dass mein emotionales Interesse
       seither dem [1][VfL Wolfsburg] gilt.
       
       Interessanterweise wird diesen Gefühlen ständig misstraut. Ich betreibe
       „Hirngewichse“ rief mal ein Journalistenkollege empört, der als Fan des 1.
       FC Köln allerdings kein Hirnspezialist sein dürfte. Sie seien „echte
       Liebe“, sagten ein paar BVB-Fans vor einem DFB-Pokalfinale zu meinem Sohn
       und mir. Wir dagegen seien „Plastik“. Ich weiß jetzt gar nicht, ob diese
       Anhänger auch BVB-Aktionäre waren, aber ich weiß, dass nach dem Spiel
       unsere Pokalsiegergefühle mindestens so echt waren wie ihr
       Verliererschmerz.
       
       Jedenfalls fahre ich seit zwanzig Jahren regelmäßig von Berlin über
       Sachsen-Anhalt nach Niedersachsen. Eineinviertel Stunden vom Ostbahnhof
       nach Wolfsburg. Meistens gehe ich schnurstracks über den Mittellandkanal
       drüber und durch die Autostadt direkt in die VW-Arena und danach das Ganze
       rückwärts. Gelegentlich habe ich auch übernachtet, bin essen gegangen, ins
       Kunstmuseum oder ins Outlet.
       
       ## Genervt von den „Stumpfmeiers“
       
       Am Anfang habe ich selber Witze gemacht, über die Innenstadt, die
       [2][VW-Dichte] auf Straßen und Parkplätzen, die
       Katze-vom-Baum-gerettet-News der Lokalzeitungen. Heute bin ich unfassbar
       genervt, wenn wieder so ein Stumpfmeier sagt, dass die Stadt „ja von Hitler
       gegründet“ worden sei, Kraft durch Freude und so weiter. Dass der ICE mal
       nicht gehalten habe, obwohl er sollte. Immer gern genommen auch die
       Schnarchgeschichte von der Spielerfrau, die sich weigerte, nach Wolfsburg
       zu gehen.
       
       Oder der Witz, dass die zuschauerfreien Spiele während der Pandemie ein
       riesiger Vorteil für Wolfsburg seien, denn dort sei man an die Totenstille
       im Stadion gewöhnt. Haha. Überhaupt musste ich feststellen, und ich sage
       das nicht gern, dass gerade die „links“ und „progressiv“ sein wollenden
       urbanen Mitmenschen in der Regel überhaupt keine Solidarität mit den
       Arbeiterinnen und Arbeitern von Wolfsburg spüren, sondern auf sie
       herabschauen und das tun, was sie sonst als „rechten Humor“ verurteilen:
       nach unten lachen und höhnen.
       
       Es ist selbstverständlich richtig, dass die [3][VfL Fußball GmbH] eine
       hundertprozentige VW-Tochter ist und sich dadurch enorme
       Wettbewerbsvorteile gegenüber manchen anderen Clubs ergeben, die diese
       verständlicherweise als ungerecht bezeichnen. Aber dafür können die
       Wolfsburger Leute und Fans nichts. Es ist zweitens eine Fehlannahme, in
       Dortmund oder Schalke sei der Fußball „wichtiger“ als in Wolfsburg.
       
       ## Kultur leben weniger pathetisch
       
       Gerade weil es sonst nur VW gibt, funktioniert der VfL interessanterweise
       nicht als VW-Klon, sondern als etwas anderes in der Identität der
       Wolfsburger. Drittens ist der VfL seit 1997 in der Bundesliga, das heißt,
       die jüngeren Leute sind auch hier ganz normal mit ihrem Fantum
       aufgewachsen. Die Kultur wird einfach weniger pathetisch gelebt als
       anderswo.
       
       Und dann dies noch: Heute ist der Verbrennungsmotor tot und die Frage
       offen, ob und wie die Stadt das überlebt. Aber Wolfsburg steht für die
       große sozialdemokratische Erfolgsgeschichte der fossilen
       Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts. Arbeiter, die aufstiegen,
       bürgerlich wurden, mit Haus, Wohlstand und mit Kindern, für die es noch
       eins weiter raufging.
       
       Starke Gewerkschaft, beträchtliche Einflussnahme im Unternehmen, hohe
       Löhne, politisch-unternehmerische Anbindung an das Bundesland – und die
       zeitweilige Vier-Tage-Woche eines gewissen Peter Hartz als Krönung. Wer als
       Linker nicht sieht und respektiert, dass Wolfsburg für das verwirklichte
       Aufstiegs-, Arbeiteremanzipations- und Wohlstandsversprechen der alten
       Bundesrepublik steht, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.
       
       8 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
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