# taz.de -- Chinas Machthaber Xi Jinping: Der nächstgrößere Vorsitzende
       
       > Eigentlich sollte kein Staatschef je wieder so mächtig werden wie Mao.
       > Doch am Wochenende soll Xi Jinping für eine dritte Amtszeit gewählt
       > werden.
       
 (IMG) Bild: Mao und Xi gemeinsam gerahmt in einem Pekinger Wohnzimmer
       
       PEKING taz | Dichtes Gedränge herrscht vor dem „Messepalast Beijing“, einem
       sowjetischen Prachtbau im Pekinger Stadtzentrum. Entlang des
       halbkreisförmigen Säulengangs tummeln sich Hunderte Kader mit
       Parteiabzeichen am Revers, um vor den jüngsten Errungenschaften ihrer
       Volksrepublik Selfies zu schießen: Tarnkappenbomber sind hier ausgestellt,
       Modelle von Weltraumraketen und Kernkraftwerken. In den Museumshallen geht
       die „rote“ Propagandaschau nahtlos weiter. Und neben Xi Jinping, der den
       Besuchern auf Dutzenden überdimensionalen Fotografien entgegenlächelt,
       scheint es keinen Platz für andere Politiker zu geben.
       
       Kurz vor dem 20. Parteikongress in Peking ist mehr als deutlich, dass Xi
       Jinpings [1][umstrittene dritte Amtszeit] bloß Formsache ist. In Windeseile
       hat der mächtigste chinesische Staatschef seit Mao Zedong sein Heimatland
       radikal umgestaltet – stets getrieben von der historischen Mission, China
       zu alter Größe zurückführen. Dabei gibt es weltweit wohl keine andere
       Person von solch politischer Tragweite, über die die Öffentlichkeit
       gleichzeitig so wenig weiß. Auch für die meisten der 1,4 Milliarden
       Chinesen ist Xi Jinping ein [2][absolutes Rätsel] geblieben. Was treibt ihn
       an?
       
       Um Xi zu verstehen, muss man die Narrative der Parteipropaganda verlassen
       und tief in die Archive blicken. Etwa auf jenen Tag im Jahr 1966, als der
       damals pubertierende Xi im Innenhof der zentralen Parteischule Pekings
       eingesperrt wurde. Ein paar unachtsame Worte gegen die damals beginnende
       Kulturrevolution reichten aus, um dem 13-Jährigen eine harte Lektion zu
       erteilen: Wie ein enger Vertrauter von Xis Vater später in seinen Memoiren
       niederschrieb, hievten an jenem Tag Maos Rotgardisten den Heranwachsenden
       auf eine Bühne, setzten ihm einen 30 Kilogramm schweren Eisenhut auf den
       Kopf und erniedrigten ihn mit einem öffentlichen Tribunal.
       
       Dabei war der 1953 geborene Xi das, was man in China einen „Prinzling“
       nennt: Er gehört der „roten Aristokratie“ der zweiten Generation an. Sein
       Vater, Xi Zhongxun, war einst die rechte Hand Mao Zedongs. Gemeinsam
       kämpften sie Seite an Seite für die kommunistische Revolution. 1959 wurde
       er für seine Loyalität belohnt und zum stellvertretenden
       Ministerpräsidenten des noch jungen Landes ernannt.
       
       Doch zu Beginn der 60er Jahre geriet der alternde Mao nach einer
       katastrophal fehlgeschlagenen Industrialisierungspolitik massiv unter
       Druck: Der „Große Sprung nach vorn“ endete in der wohl größten Hungersnot
       der modernen Menschheitsgeschichte. Im Pekinger Parteiapparat rumorte es,
       und der zunehmend paranoide Mao wähnte an jeder Ecke eine Verschwörung. Im
       Jahr 1962 wurde auch Xis Vater geschasst, sämtlicher Ämter enthoben und in
       ein Arbeitslager gesteckt. Die gesamte Familie wurde innerhalb weniger
       Wochen von der Parteielite zum gesellschaftlichen Abschaum erklärt. Xis
       ältere Schwester hat – wie so viele in jenen Tagen – die Demütigung nicht
       ertragen können: Sie nahm sich während der Kulturrevolution das Leben.
       
       Historiker und Sinologen beschäftigt daher die Frage, wieso Xi, der in
       jungen Jahren unter der exzessiven Machtfülle eines alternden Diktators
       litt, nun selbst in die Fußstapfen Mao Zedongs zu treten scheint.
       
       Während viele aus Xis Generation mit der Partei brachen, ins Ausland
       emigrierten oder zur Zeit der Wirtschaftswunderjahre Zuflucht im
       kapitalistischen Hedonismus suchten, entschied er sich fürs Gegenteil. Er
       galt als besessen von dem Gedanken, seiner Gesellschaft zu beweisen, was
       für ein vorbildlicher Kommunist er ist: ideologisch sattelfest, nicht durch
       Geld korrumpierbar und absolut loyal zur Regierung. Über ein Dutzend Mal
       bewarb er sich auf eine Parteimitgliedschaft, ehe er 1974 aufgenommen
       wurde.
       
       Nach Maos Tod wurde Xis Vater schließlich rehabilitiert. Mit dessen
       Starthilfe begann Xi Jinping seine Karriere als Privatsekretär bei einem
       hochrangigen Militäroffizier. Später entschied er sich zur Ochsentour durch
       die Provinzen, während der er dank eiserner Arbeitsdisziplin bei der KP
       rasant aufstieg.
       
       Dabei half ihm durchaus, dass er als unscheinbar, nahezu langweilig galt.
       Xi Jinping bot keine Angriffsfläche für Kontroversen, hielt sich geschickt
       im Hintergrund. Er schien zu wissen, dass seine Zeit irgendwann kommen
       würde. 2012, nach mehreren erfolgreichen Bewährungsproben in Fujian,
       Zhejiang und Shanghai, war es schließlich so weit: Er wurde vom
       Parteikomitee zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei gewählt. Dabei
       half ihm auch, dass er keiner der damals zerstrittenen Machtfraktionen
       angehörte.
       
       „Xi Jinping hat sämtliche Bereiche der Gesellschaft umgestaltet: wie
       Wohlstand generiert wird und Technologien reguliert werden, oder wie das
       Bankensystem operiert“, sagt Desmond Shum. Der 54-jährige
       Immobilienunternehmer sitzt in seinem lichtdurchfluteten Londoner Büro.
       Einst gehörte Shum selbst zur Pekinger Elite, bis seine ehemalige Frau und
       damalige Geschäftspartnerin aus ungeklärten Gründen spurlos verschwand.
       
       Sie ist nur ein Beispiel für die brutale Konsequenz, mit der Xi Jinping die
       rasant wachsende, aber auch zutiefst korrupte Gesellschaft aufräumte. Über
       100.000 Regierungsbeamte wurden im Zuge seiner Antikorruptionskampagne
       inhaftiert, manche von ihnen zum Tode verurteilt. Beim einfachen Volk
       genoss Xi wegen seiner konsequenten Linie gegen Korruption schon früh
       Beliebtheit.
       
       Auch der Jugend gefiel zunächst das neue, nationalistische
       Selbstbewusstsein, das Xi mit seinem überbordenden Propagandaapparat
       initiierte. Doch natürlich fußte der erstarkende Patriotismus auch auf
       realen Errungenschaften: in der Wissenschaft, im Bereich der
       Zukunftstechnologien oder auch bei der zunächst raschen wirtschaftlichen
       Erholung nach der ersten Coronawelle.
       
       Mehr noch: Unter Xis Ägide ist die Volksrepublik China zu einem Land
       geworden, das nicht mehr regelmäßig von Lebensmittelskandalen erschüttert
       wird, in dem die Luftqualität in den Großstädten merklich besser ist und
       Behördengänge effizient ablaufen. Noch im vergangenen Sommer ließ Xi
       Jinping sich beim 100-jährigen Parteijubiläum von den Massen umjubeln.
       
       Doch seither mehren sich die Zeichen, dass Xi den Zenit seiner Macht
       überschritten haben könnte. Zu viele Fehlentscheidungen in zu kurzer Zeit,
       mindestens drei mit schwerwiegenden Folgen: Das dogmatische Festhalten an
       „Null Covid“ hat das Land in einen [3][Strudel aus Lockdowns] und
       wirtschaftlicher Rezession geführt und Proteste hervorgerufen. Selbst der
       Stadtstaat Singapur verzeichnet derzeit mehr internationalen Reiseverkehr
       in nur einer Woche als die Volksrepublik China im gesamten Halbjahr.
       
       Doch vor allem hat die Überwachung ein dystopisches Ausmaß erreicht. In den
       großen Städten müssen die Bewohner nahezu täglich zum PCR-Massentest
       antreten, sich bei jedem Supermarktbesuch mit ihrem digitalen
       „Gesundheitscocde“ registrieren und von ihrem Nachbarschaftskomitee zur
       willkürlichen Zwangsquarantäne verdonnern lassen.
       
       Gleichzeitig hat Chinas Chefideologe mit seiner drastischen
       Regulierungswelle die erfolgreichsten Techkonzerne des Landes geschröpft
       und damit die Volkswirtschaft um ihren Wachstumsmotor gebracht.
       Offensichtlich jedoch war Xi bereit, jenen Preis im Austausch für
       politische Kontrolle zu zahlen. Und nicht zuletzt sein unerwartet
       deutlicher Schulterschluss mit Russland könnte dem Land noch langfristig
       schaden.
       
       Wie beliebt Xi Jinping innerhalb der Bevölkerung ist, lässt sich kaum
       sagen. Wer offen Kritik am System übt, muss mit einer langen Haftstrafe
       rechnen.
       
       Doch nur drei Tage vor Beginn des Parteikongresses gibt es im Pekinger
       Stadtzentrum Zeichen des Protests. Ein als Bauarbeiter gekleideter Mann
       befestigte mehrere Protestbanner neben einer zentralen Straße. „Wir wollen
       Essen, keine PRC-Tests. Wir wollen Reformen, keine Kulturrevolution“, war
       darauf zu lesen. Und: „Streikt und stürzt den Diktator und Verräter Xi
       Jinping!“
       
       Die vielleicht größte öffentliche Opposition in der chinesischen Hauptstadt
       seit über zwei Jahrzehnten blieb flüchtig: Nach wenigen Minuten wurde der
       Mann festgenommen, und im Internet wurden sämtliche Spuren seiner Aktion
       gelöscht.
       
       15 Oct 2022
       
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