# taz.de -- Protest vor dem Kanzleramt in Berlin: Ein anderes Bild von Armut
       
       > Erstmals geht die Bewegung von #Ichbinarmutsbetroffen auf die Straße. Die
       > Beteiligung ist überschaubar; doch auch die Regierung ließ sich nicht
       > blicken.
       
 (IMG) Bild: Klare Ansage: Protestschilder von der Demo #ichbinarmutsbetroffen am Samstag
       
       BERLIN taz | Inmitten der Kundgebung von [1][#Ichbinarmutsbetroffen] vor
       dem Kanzleramt steht ein Mädchen mit einem Schild: „Wir brauchen gesundes
       Essen!“ Ihre Mutter, direkt daneben, fordert auf ihrem Plakat
       „Chancengerechtigkeit“. Unweit von den beiden schwenkt eine ältere
       Demonstrantin eine rote Fahne. Neben vielen Armutsbetroffenen sind auch
       einige linke Gruppierungen wie zum Beispiel das Umverteilen-Bündnis zum
       Protest am Samstag gekommen.
       
       Es sollte die erste größere Kundgebung der Bewegung werden. Auch der
       Paritätische Wohlfahrtsverband und das Bündnis „Genug ist Genug“ hatten
       mobilisiert unter dem Motto: „Armut ist nicht sexy“. Angesichts dessen
       dürften die 200 Teilnehmenden nur als mäßiger Erfolg gelten.
       
       Doch Armutsbetroffene gelten als schwer mobilisierbar: Viele seien
       chronisch krank und mussten kurzfristig absagen, sagt die Aktivistin Nini
       Klein am Rand des Protests zur taz. Andere müssten sich um ihre Kinder und
       Angehörigen kümmern oder hätten schlicht den Glauben an Veränderung
       aufgegeben. „Ich bin hier in Vertretung für viele andere“, sagt sie.
       
       Gekommen sind vor allem Menschen, die von Hartz IV und
       Erwerbsminderungsrente leben oder die so wenig verdienen, dass ihr
       Einkommen vom Sozialamt aufgestockt werden muss. Als Erfolg der Bewegung
       kann gelten, dass Betroffene unter breiter medialer Präsenz über ihre
       Diskriminierungserfahrungen berichten konnten.
       
       Anni W., die im Mai mit einem Tweet den Stein der Bewegung ins Rollen
       brachte, sagt gleich zu Beginn: „Das Bild der Faulen und Dummen hat sich
       tief eingeprägt.“ Sie wolle zeigen: „Wir sind so nicht!“ Immer wieder
       werden in Beiträgen die medial vermittelten Bilder armer Menschen
       kritisiert.
       
       Eine weitere Rednerin macht sich Sorgen um ihre Tochter. „Sie hat viel
       schlechtere Chancen als Kinder von vermögenden Familien“, sagt sie.
       Tatsächlich werden privilegierte Schüler:innen trotz gleicher Noten
       [2][wesentlich häufiger für das Gymnasium empfohlen].
       
       Eine Rednerin, die mit Depressionen kämpft, sagt: „Für mich bedeutet meine
       Krankheit ein Leben in dauerhafter Armut.“ Vom gesellschaftlichen Leben sei
       sie weitestgehend ausgeschlossen. „Ohne Teilhabe geben sich Menschen auf“,
       warnte sie.
       
       Konsequenterweise fordert die Bewegung deshalb, Armut in Deutschland durch
       eine Erhöhung des Regelsatzes auf 678 Euro zu beenden – eine Rechnung, die
       auch der Paritätische Wohlfahrtsverband aufstellt. [3][In einem offenen
       Brief] an die Bundesregierung fordert die Bewegung zudem etwa
       unbürokratische Entlastung bei Energiekosten, einen höheren Mindestlohn und
       bessere Unterstützung für die Pflege von Familienmitglieder:innen. Über
       65.000 Menschen haben die Petition bereits unterschrieben.
       
       Eigentlich sollten die Unterschriften Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD)
       übergeben werden – doch der ließ sich nicht blicken. Auch sonst schaffte
       niemand aus der Regierung, den Weg zum Kanzleramt zurückzulegen. Symbolisch
       übergeben wurden die Unterschriften dann einem Aktivisten, der sich eine
       Maske vom Arbeitsminister vors Gesicht hielt. „Die interessieren sich
       einfach nicht für uns“, murmelt eine Frau neben dem Reporter.
       
       16 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Einer-von-138-Millionen-Betroffenen/!5886792
 (DIR) [2] /Klassismus-und-Bildung/!5765097
 (DIR) [3] https://drive.google.com/file/d/1YrEuVXW-xUdUfdxKjRuR5I9H75Jjxz6O/view
       
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