# taz.de -- Studierende in der Dauerkrise: „Die Leichtigkeit ist dahin“
       
       > Erst Corona, dann Krieg und Inflation: Studierende leiden unter den
       > aktuellen Krisen. Viele haben psychische Probleme oder Geldnot. Vier
       > Hilferufe.
       
 (IMG) Bild: Die Anzahl der Studierenden mit psychischen Problemen ist seit der Pandemie stark angestiegen
       
       ## „Eine Maske, die ihre Ängste verbirgt“
       
       Jeremias, 21, studiert Informatik in München 
       
       Zum Wintersemester 2020/21 habe ich mein Bachelor-Studium im Fach
       Informatik in München begonnen. Ich blieb in meinem Elternhaus in
       Neuruppin, nach München umzuziehen, war nicht möglich: Man durfte zeitweise
       nicht nach München reisen, um ein WG-Zimmer zu besichtigen. Die Kurse waren
       ohnehin von Anfang an komplett online – wofür soll ich da auch nach München
       ziehen? Mit meinen Mitkomiliton:innen hatte ich nahezu keinen Kontakt
       von Anfang an. Ich nahm damals an Kennenlernaktionen teil, aber immer nur
       über Zoom. Ich verlor schnell die Motivation an den Spielen.
       
       Was dazu kommt: Wir sind über Eintausend Menschen im Jahrgang. Es sind so
       viele, dass du verdammt Glück haben musst, jemanden, den du mal irgendwo
       gesehen hast, online wiederzufinden. Die Vorlesungen waren noch schlimmer:
       Es war, als ob du einen Netflix-Film schaust. Abgespielte Streams ohne
       jegliche Interaktion zwischen den Studierenden. Ich fühlte mich isoliert.
       
       Es dauerte bis zum Februar 2021, dass mir klar wurde: So kann es nicht
       weitergehen. Mit zwei Freunden fuhr ich nach Spanien in ein Ferienhaus.
       Dort verbrachten wir das gesamte Sommersemester – das war mein bisher
       schönstes Semester. Wir haben Ausflüge gemacht, zusammen gegessen und sind
       viel gewandert. Ich fühlte mich nicht mehr einsam. In der Zeit merkte ich,
       wie wichtig mir der soziale Austausch ist. Mein drängendstes Grundbedürfnis
       war erfüllt.
       
       Zurück aus Spanien, beschloss ich im Wintersemester 2021/22 nach Berlin zu
       ziehen. Meine Freunde leben fast alle in Berlin, ich wollte sie um mich
       haben. Wir spielten gemeinsam Tischtennis an den Abenden, kochten gemeinsam
       in unseren WGs. Nun verlor ich meine Motivation für das Studium. In
       Tutorien war ich nicht mehr aufmerksam, ich investierte kaum noch Zeit in
       die Prüfungsvorbereitung – und fiel prompt durch zwei Prüfungen. Ich hatte
       das Gefühl, nirgendwo wirklich anzukommen.
       
       Zum jetzigen Sommersemester zog ich dann doch nach München. Ich hatte die
       Hoffnung, dass ich wieder motivierter werde, wenn ich dort ins
       Studierendenleben eintauchen kann. Die Hoffnung war vergebens. Es fiel mir
       immer noch schwer, Kontakte zu knüpfen. Das lag auch daran, dass viele
       Mitkommiliton:innen nicht erst im vierten Semester nach München
       gezogen sind und sich bereits Gruppen gebildet hatten. Ich ging trotzdem
       auf Leute zu und begann Unterhaltungen, aber bei einem so großen Jahrgang
       kommt es einem Wunder gleich, dieselbe Person in der nächsten Veranstaltung
       im Hörsaal ausfindig zu machen.
       
       Ich wurde immer einsamer. Meine Unileistungen ließen drastisch nach, das
       stresste mich. Ich geriet in einen Teufelskreis. Ein Ausweg aus dem
       stressigen und bislang unangenehmen Studium wäre es, es so schnell wie
       möglich abzuschließen, dachte ich. Weil es mir aber nicht gut ging im
       Alltag, widmete ich mich anderen Aktivitäten – zum Beispiel programmierte
       ich an meinen privaten Projekten weiter – und fiel wieder durch Prüfungen.
       Das Ziel war in weite Ferne gerückt.
       
       Ich habe viel mit Selbstzweifeln zu kämpfen. Das Schlimme ist: Alle tragen
       eine Art Maske an der Universität. Keine FFP2-Maske, sondern eine Maske,
       die ihre Ängste verbirgt. Als ich zur Studienberatung ging, sagte man mir
       dort, es gehe vielen schlecht und sogar schlechter als mir. Wenn es aber
       niemand zeigt, fühlt man sich allein mit den Problemen und Ängsten.
       
       Eine [1][Coronainfektion] im Juni knockte mich für zwei Wochen aus. An den
       Begleitumständen der Erkrankung bin ich psychisch kaputtgegangen. Ich hatte
       depressive Schübe, Stimmungsschwankungen, und das akkumulierte sich alles
       in sehr viel Stress. Meine Hände rissen auf, die Ärztin diagnostizierte mir
       eine psychosomatische Neurodermitis. Das zog sich über drei Monate hin, und
       ich musste Baumwollhandschuhe tragen, weil ansonsten die Haut bei den
       kleinsten Berührungen aufriss. Erst in den Semesterferien verheilten die
       Hände.
       
       Die Semesterferien fühlten sich gut an. Ich reiste herum und besuchte
       Freunde in Berlin und Leipzig. Diese Woche aber ging es mir wieder
       schlecht. Ich werde merklich gereizter und sensibler im Alltag, wenn ich an
       die kommende Zeit denke. Mitte Oktober muss ich eine Prüfung nachschreiben.
       Und die Woche darauf beginnt schon das Wintersemester. Trotzdem habe ich
       mir vorgenommen, nicht hoffnungslos zu sein, sondern neugierig darauf, was
       das kommende Semester mit sich bringt, und ob es mir gelingt richtige
       Freunde beim Sport oder in der Uni zu finden – und endlich im
       Informatikstudium in München anzukommen.
       
       Protokoll: Johannes Runge 
       
       ## „Diese ganzen Krisen beeinflussen meine Leistungen“
       
       Asli, 27, studiert in Potsdam den Master of Education für Deutsch und
       Geschichte
       
       Wenn ich die vergangenen zweieinhalb Jahre in einem Wort beschreiben soll,
       würde ich sagen: anstrengend. Als die Coronakrise im Frühjahr 2020 begann,
       habe ich noch an der Universität Bayreuth studiert und war in der
       Abschlussphase meines Lehramtsstudiums. Ich musste nur noch meine
       Zulassungsarbeit schreiben. Dass ich keine Kurse mehr zu belegen hatte, war
       für mich in dieser Situation eine Entlastung.
       
       In den ersten drei Monaten habe ich viel Sport gemacht, habe auf meine
       Ernährung geachtet und weniger gearbeitet. Insgesamt bin ich kürzer
       getreten. Das war fast etwas meditativ für mich. Gleichzeitig hatte ich
       Angst: Wie entwickelt sich die medizinische Versorgung? Geht das Ganze
       jetzt drei Monate oder am Ende doch ein oder zwei Jahre? So vieles war so
       ungewiss.
       
       Ich musste mir aber keine Sorgen um die Miete oder um die
       Lebensunterhaltungskosten machen, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch bei
       meinen Eltern gewohnt habe. Auch wenn meine Eltern in prekären
       Verhältnissen arbeiten, hat mich das gut aufgefangen. Meine Mutter ist in
       der Produktion eines Automobilzulieferers tätig, sie hat Kurzarbeitergeld
       bekommen. Mein Vater musste sich eine neue Beschäftigung suchen. Er ist
       eigentlich in der Veranstaltungsbranche tätig, doch die meisten Aufträge
       wurden storniert oder waren nicht mehr realisierbar. Er hat dann als
       Quereinsteiger als Sicherheitsmitarbeiter gearbeitet – unterbezahlt.
       
       In den ersten sechs Monaten der Pandemie gab es für mich keine finanziellen
       Schwierigkeiten. Ich konnte rund zwanzig Stunden im Monat als studentische
       Hilfskraft weiterarbeiten. Als aber ab Ende des Sommers klarer wurde, dass
       die Pandemie nicht so schnell vorbei sein würde, habe ich mich nach einem
       zweiten Job umgesehen. [2][BAföG] habe ich nicht mehr bekommen, meine
       Härtefallanträge wurden abgelehnt. Immerhin ergaben sich während der
       Coronakrise neue Jobmöglichkeiten für Student:innen, so fand ich schnell
       einen zweiten Job, in dem ich ziemlich viel arbeiten konnte und einen
       Stundenlohn von 12 Euro hatte.
       
       Mit meiner Abschlussarbeit ging es jedoch nur schleppend voran, weil ich
       eben mehr arbeiten musste. Deshalb habe ich die gesamten drei
       Coronasemester dafür gebraucht. Diese Zeit war insgesamt sehr fordernd,
       weil mein jetziger Mann und ich heiraten wollten und unsere erste
       gemeinsame Wohnung bezogen haben. Im Sommer 2021 bestand keine Aussicht auf
       eine Verbesserung der Lage, ich kam auch mit meiner Abschlussarbeit kaum
       voran. Die unsichere Situation hat mich immer mehr belastet. Beruhigend war
       es für mich, dass die gesamten drei Semester wegen der Ausnahmeregelung
       nicht auf die Regelstudienzeit angerechnet wurden.
       
       Die aktuelle Situation ist aber nochmal eine ganz andere Hausnummer für
       mich. Jetzt studiere ich in Potsdam den Master of Education mit den Fächern
       Deutsch und Geschichte und lebe in Berlin. Auch wenn ich mir gemeinsam mit
       meinem Mann eine Wohnung teile, ist es schwierig über die Runden zu kommen.
       Mit der Wohnung hatten wir Glück, wir haben etwas Bezahlbares in einem
       Randbezirk gefunden. Aber selbst mit einer Miete von rund 700 Euro ist es
       durch die steigenden Kosten in allen anderen Bereichen neben dem Studium
       ein Kraftakt.
       
       Nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine ist alles noch
       schwieriger geworden. Am meisten belastet mich derzeit die Ungewissheit
       über bevorstehende Rechnungen. Was wird wohl an Gas- und Stromrechnungen
       auf uns zukommen? Wie teuer wird der wöchentliche Einkauf? Seitdem die
       Preise so gestiegen sind, ist es schon eine Investition, wenn wir in ein
       Restaurant gehen. Unter dreißig Euro kommen wir zu zweit nicht raus. Ich
       überlege dann schon, ob wir uns das überhaupt leisten können.
       
       Ich habe Zukunftsängste. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass ich in
       einer vergleichsweise privilegierten Position bin. Ich kann weiter
       studieren. Danach habe ich einen Abschluss, der zu einem Beruf befähigt.
       Aber diese ganzen Krisen beeinflussen mich auch im Alltag, und das wirkt
       sich auch auf meine akademischen Leistungen aus. An der Universität gibt es
       keine Mechanismen, die diese Folgen auffangen. Ich kann schlecht zu einer
       Prüfer:in gehen und sagen, dass ich die Abgabe nicht schaffe, weil ich
       mehr arbeiten musste und das Geld vorne und hinten nicht reicht.
       
       Einige meiner Professor:innen haben mir schon häufiger angeraten, dass
       ich die akademische Laufbahn einschlagen sollte und sogar eine Professur
       anstreben soll. Für mich ist das in der aktuellen Lage keine Option. Dafür
       sind die Beschäftigungsverhältnisse an Hochschulen zu prekär.Für meine
       Zukunft wünsche ich mir eine sinnstiftende Beschäftigung, in der ich
       aufgehen kann, die aber auch gesichert ist.
       
       Protokoll: Sara Rahnenführer 
       
       ## „Die ganze Bildschirmzeit ist mir zu viel geworden“
       
       Tamina, 26, studiert Peace and Conflict Studies an der Universität
       Magdeburg 
       
       Ich verstehe es einfach nicht. Nach all den Einschränkungen der vergangenen
       Semester findet an meiner Universität wieder die Hälfte der Kurse online
       statt. Das frustriert mich. Warum? Darauf habe ich bisher keine
       befriedigende Antwort erhalten. Ich bin von Greifswald nach Magdeburg
       gezogen, weil es hier einen internationalen Masterstudiengang gibt, den ich
       unbedingt machen wollte. Er heißt Peace and Conflict Studies und findet
       größtenteils auf Englisch statt. Meine Kommiliton:innen kommen aus
       Kolumbien, Bulgarien, Pakistan, den USA. Wie generell in den
       Sozialwissenschaften geht es auch in diesem Studium viel um Austausch und
       Diskussion, Vernetzen und Projektarbeit. Wie wenig das online möglich ist,
       müssen doch auch die Dozierenden festgestellt haben. Dennoch bieten sie
       ihre Seminare jetzt wieder teils oder gänzlich virtuell an. Zwei
       Veranstaltungen, die ich gerne besucht hätte, kommen deshalb jetzt für mich
       nicht in Frage.
       
       Andere finden Onlinekurse bequem und praktisch – mir nehmen sie die Freude
       am Studium. Ich studiere echt gerne. Dazu gehört für mich aber auch, dass
       es ein Unileben gibt, an dem ich teilhaben kann. In meinem
       Bachelorstudiengang in Greifswald habe ich es immer sehr genossen, nach
       oder zwischen den Veranstaltungen mit Kommiliton:innen ins Gespräch zu
       kommen. Über die Lektüre, die wir gerade für Literaturwissenschaften zu
       lesen hatten. Über politische Themen. Für mich hat Uni auch eine
       aktivistische Seite. Hier kann ich mich engagieren und organisieren. Für
       all das muss man sich begegnen können. Diesen Raum stellt die Uni zur
       Verfügung. Seit Beginn der Pandemie ist das aber nicht mehr so. Mit dem
       Studieren, wie ich es vorher kennengelernt habe, hat das nicht mehr viel zu
       tun.
       
       Wie viele andere haben mich die Onlinesemester emotional und körperlich
       stark belastet. Den ganzen Tag mit krummen Rücken vor dem Laptop hocken,
       immer nur auf einen Bildschirm gucken, das ist nicht gesund. Vor allem,
       wenn der Ausgleich – Yogastunden, Sportkurse, Tanzen! – fehlt. Wenn
       Arbeitnehmer:innen ins Homeoffice gehen, werden sie gefragt, ob sie
       einen rückenfreundlichen Bürostuhl, einen großen Bildschirm benötigen. Bei
       uns Studierenden hat niemand nachgefragt. Das passt ins Bild. Im
       öffentlichen Diskurs ging es dauernd um Schüler:innen. Über Studierende
       wurde so gut wie gar nicht gesprochen. Auch dann nicht, als die psychische
       Belastung für die Studierenden längst sichtbar wurde.
       
       Das zweite Onlinesemester hab ich irgendwann abgebrochen, weil ich zu
       starke Kopfschmerzen bekommen habe. Vielleicht wäre das nicht passiert,
       wenn ich nicht parallel so viel ehrenamtlich im Bereich Flucht und
       Migration organisiert hätte, natürlich auch alles online. Die ganze
       Bildschirmzeit ist mir zu viel geworden. Wahrscheinlich hätte mir das alles
       nicht so zugesetzt, wenn ich in Magdeburg schon einen Freund:innenkreis
       und somit mehr Ausgleich gehabt hätte. Ich bin aber exakt zum ersten
       Coronasemester neu in die Stadt gekommen. Bis auf ein, zwei Kontakte kannte
       ich niemanden. Das hat es nicht gerade einfacher gemacht. An einem Punkt
       waren die Erschöpfungssymptome bei mir so stark, dass ich ein paar Stunden
       zu einer Heilpraktikerin gegangen bin. Das hat mir geholfen, besser auf
       mich zu achten.
       
       Jetzt versuche ich, mir nicht zu viel aufzuladen und vor allem: nicht zu
       viel online zu sein. Nicht ständig E-Mails checken, nicht ständig
       erreichbar sein. Ich frage mich ernsthaft, welche Folgen die
       Digitalisierung für die Hochschulen haben wird. Dass die Unis aktuell
       überlegen, wegen der hohen Gaspreise im Winter Gebäude zu schließen, finde
       ich besorgniserregend. Wir schließen die Unis aus wirtschaftlichen Gründen?
       Echt jetzt? Meine Befürchtung ist, dass sich das jetzt ganz schleichend in
       Richtung Onlinestudium bewegt. Das wäre traurig und schlecht für alle
       Studierenden. In Onlinekursen geht so viel verloren. Im Übrigen auch für
       die Gesellschaft, die von progressiven Debatten und Austausch nur
       profitieren kann.
       
       Wegen der Pandemie brauche ich insgesamt zwei Semester länger für mein
       Studium, aber das ist okay. Im Gegensatz zu vielen anderen Studierenden
       habe ich keine großen finanziellen Sorgen. Für mein 22-Quadratmeter-Zimmer
       in einer WG zahle ich 290 Euro im Monat, die Chemie mit den
       Mitbewohner:innen stimmt auch. Da habe ich echt Glück. Überhaupt fühle
       ich mich finanziell recht privilegiert. Ich bekomme ab diesem Semester 700
       Euro BAföG und jobbe nebenher in einem Buchladen. Damit kann ich die
       steigenden Preise momentan noch abfedern. In diesem Punkt hat sich der
       Umzug nach Magdeburg bezahlt gemacht. Und ich bin dankbar dafür, dass viele
       meiner Kommiliton:innen nicht den Kopf haben hängen lassen.
       
       Statt an der Uni treffen wir uns jetzt regelmäßig in einem Kiezladen.
       Dennoch bleibt ein fader Geschmack. Die Leichtigkeit von früher ist dahin.
       
       Protokoll: Ralf Pauli 
       
       ## „Meine finanzielle Situation ist ein Desaster“
       
       Sophie*, 34, studiert Humanmedizin an der Berliner Charité 
       
       Die Inflation und die steigenden Lebenshaltungskosten kommen echt
       ungelegen. Ich habe 48.000 Euro Schulden. Erst hatte ich einen Kredit von
       der KfW. Dann einen von der Ärztebank – und auch der ist bald aufgebraucht.
       Ungefähr 4.000 Euro sind noch übrig. Und das ganze nächste Jahr muss ich
       irgendwie noch überbrücken. Wie genau, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich
       bin alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Und zum Abschluss meines
       Medizinstudiums steht noch das PJ an, das Praktische Jahr. Das heißt: zwölf
       Monate Vollzeit im Krankenhaus arbeiten – für etwa 350 Euro
       Praktikumsgehalt im Monat in einer privaten Klinik. Immerhin. Die Charité
       bezahlt für das Praktische Jahr gar nichts, obwohl die Studierenden das
       seit Jahren immer wieder einfordern.
       
       Ich bin 34 Jahre. Als ich das Studium an der Berliner Charité angefangen
       habe, war ich 27. Davor habe ich eine medizinische Ausbildung gemacht.
       Auch, weil mein Abischnitt nicht für einen sofortigen Medizinstudienplatz
       gereicht hat. Mein Vater wollte, dass ich Physik studiere. Ich habe es ihm
       zuliebe ausprobiert, konnte damit aber nichts anfangen. Irgendwann habe ich
       hingeschmissen, ich wollte lieber Ärztin werden. Seither ist klar, dass er
       mich nicht weiter finanziell unterstützt. Das Ganze hatte aber ein böses
       Nachspiel für mich. Weil ich das Studienfach gewechselt habe, wurde mein
       BAföG-Antrag abgelehnt. Bis heute ist das gängige Praxis. Zumindest wer
       nach zwei oder wie ich drei Semestern merkt, dass der Studiengang nichts
       für einen ist und sich neu einschreibt, bekommt kein BAföG. Diese Regel ist
       so weltfremd. Und einer der Gründe, warum ich heute so hoch verschuldet
       bin.
       
       Ein anderer hat mit der Pandemie zu tun. Ich hatte einen Nebenjob in einer
       hausärztlichen Praxis. Einen Tag die Woche. In der Praxis habe ich alles
       gemacht, was angefallen ist: Terminvergabe am Tresen, Patient:innen
       aufrufen, schon mal Blut abnehmen, Assistenz in der Sprechstunde. Ungefähr
       350 Euro im Monat habe ich so dazuverdient. Im ersten Lockdown habe ich den
       Job leider aufgeben müssen. Ich konnte die Arbeitszeiten unmöglich
       einhalten. Mein jüngeres Kind durfte zwar in die Notbetreuung, aber
       allerspätestens um 16 Uhr musste ich es abholen. Und mein älteres Kind war
       ja schon in der Schule, es musste zu Hause lernen. Da wurde erwartet, dass
       ein Erwachsener zu Hause ist und sein Kind beim Homeschooling unterstützt.
       Ich bin allein mit den Kindern, mir blieb gar nichts anderes übrig. Klar,
       dass sich der Kredit ohne den Job dann noch schneller verbraucht hat.
       
       Um es auf den Punkt zu bringen: Meine finanzielle Situation ist ein
       Desaster. Insgesamt komme ich auf ungefähr 1.500 Euro Fixkosten im Monat,
       das ist absolutes Minimum: 650 Euro für die Miete, rund 400 Euro für Essen,
       50 Euro Rückmeldegebühren für das Studium, wenn man die auf den Monat
       runter rechnet, und vielleicht so 200 Euro für die Freizeitaktivitäten
       meiner Kinder. Sie sind sieben und zehn. Nicht, dass wir uns viel gönnen –
       aber wenn Freunde meiner Kinder Eis essen oder ins Kino gehen, will ich
       nicht als Einzige sagen: „Da könnt ihr nicht mit, das können wir uns nicht
       leisten.“ Gleichzeitig macht sich das schon bemerkbar, dass überall die
       Preise anziehen. Im Eiscafé um die Ecke, im Supermarkt. Da muss ich an das
       Geld auf der Bank denken, das immer weniger wird. Gerade kam noch eine neue
       Waschmaschine dazu – vier Monate lang habe ich den Kauf rausgezögert. Das
       einzig Gute ist, dass meine Wohnung nicht mit Gas beheizt wird.
       
       Weil ich mehr arbeite, habe ich natürlich auch weniger Zeit zum Lernen.
       Dadurch war ich irgendwann mit den Klausuren so weit hinterher, dass mich
       die Charité in ein unfreiwilliges Freisemester versetzt hat, damit ich die
       Prüfungen nachhole. Deshalb dauert das Studium jetzt ein Semester länger.
       Im Oktober steht mein zweites Staatsexamen an. So gut vorbereitet wie
       andere, die sich nur ums Lernen kümmern müssen, bin ich leider nicht. Auch
       mein älteres Kind ist als Folge der Pandemie schulisch im Rückstand, weil
       für das Homeschooling nicht genug Zeit war. In solchen Momenten spürt man,
       dass Studiengänge wie Medizin wahnsinnig exklusiv sind und dass das auch so
       gewollt ist. Ohne finanzielle Unterstützung aus dem Elternhaus oder BAföG
       ist es doppelt schwer – und hinterlässt oft einen Schuldenberg.
       
       Trotz allem habe ich es fast geschafft und freue mich darauf, bald endlich
       als Ärztin zu arbeiten.
       
       Protokoll: Ralf Pauli 
       
       *Ihr Vorname und das Alter ihrer Kinder wurden auf Wunsch geändert.
       
       10 Oct 2022
       
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