# taz.de -- Balkan-Theaterfestival im Kosovo: Der halbe Saal verflucht ihn
       
       > Das Festival „Kosovo Theatre Showcase“ in Prishtina und anderen
       > kosovarischen Städten zeigt sehr politische Inszenierungen aus den
       > Balkanländern.
       
 (IMG) Bild: Szene aus dem Theaterstück „The Handke Project“
       
       Geräusche von Kratzen, Rasseln und Schlägen dringen aus den Zellen des
       alten Gefängnisses in Prishtina. Betritt man den engen Zellengang, sieht
       man durch die Sehschlitze in der Tür Männer, die ihr metallenes
       Kochgeschirr gegen die Wände hämmern. Es sind Szenen wie aus
       Gefängnisfilmen, Situationen kurz vor einem Aufstand der Insassen.
       
       In der Theaterperformance „Death Hour“ beziehen sich die Szenen auf den
       Gefängnisalltag im Albanien der Zeit des Diktators Enver Hoxha (gestorben
       1985) sowie auf das Massaker an kosovarischen Häftlingen im Mai 1999 im
       Gefängnis Dubrava. Mindestens 99 Menschen starben damals im Gewehrfeuer der
       serbischen Bewacher.
       
       Die Produktion der freien Gruppe Bokshi Theatre Company war Teil des
       [1][Kosovo Theatre Showcase], einer nun schon zum sechsten Mal
       ausgerichteten Plattform für Theater aus den Ländern des Balkans. Der
       Schwerpunkt liegt auf Produktionen aus Kosovo und Albanien.
       [2][Festivalgründer Jeton Neziraj] ist aber seit Langem interessiert am
       Austausch vor allem der Länder, die einstmals zu Jugoslawien gehörten.
       
       ## Familiäre Auseinandersetzung
       
       Und so war in diesem Jahr auch die Belgrader Produktion „Our Son“
       eingeladen. Das von der serbischen Kulturstiftung Heartefact finanzierte
       Projekt spielt gewöhnlich in einer Wohnung in Belgrad. Es geht um die
       Auseinandersetzung eines Paars darüber, wer mehr „Schuld“ daran trage, dass
       der gemeinsame Sohn schwul sei: Die Mutter, weil sie seine Sensibilität zu
       sehr gefördert habe, der Vater, weil er früh die Familie verlassen habe.
       
       Manchem Festivalgast aus einer westeuropäischen Metropole mochte der
       Diskurs als teilweise überholt erschienen sein. Wer sich aber daran
       erinnerte, dass [3][in diesem Herbst der Europride-Marsch durch Belgrad]
       erst von der Regierung wegen angeblicher Sicherheitsbedenken abgesagt und
       nur in wesentlich kleinerem Umfang gestattet wurde, erkannte die brennende
       Aktualität des Themas.
       
       Die Situation im Lande ist sogar außerordentlich komplex. Denn
       Ministerpräsidentin Ana Brnabić, die zunächst das Verbot erteilte, ist die
       erste offen lesbisch lebende Regierungschefin auf dem Balkan und die zweite
       in Europa überhaupt, nach der früheren isländischen Premierministerin
       Jóhanna Sigurðardóttir. Brnabić ist als Person einerseits eine Vorreiterin
       der serbischen Politik, ihre Maßnahme selbst unterscheidet sich allerdings
       bestenfalls graduell von der Linie der Regierungspartei.
       
       ## Was machen Schwurjungfrauen?
       
       Geschlechteridentitäten standen auch bei [4][„The Sworn Virgin“] im
       Zentrum. Es ging dabei um das vor allem im ruralen Norden Albaniens
       auftretende Phänomen der „Burrneshas“. Frauen können dieser Tradition
       zufolge als sogenannte Schwurjungfrauen die soziale Rolle von Männern
       annehmen. Das kann aus dem Wunsch an einer freieren sozialen Rolle in der
       patriarchalen Gesellschaft geschehen, ist oft aber auch ein Weg, einer
       arrangierten Ehe zu entgehen.
       
       Autor Jeton Neziraj legte das Stück als Forschungsprojekt einer westlichen
       Akademikerin an. Zusätzliche Schicht war die Ausbeutung einer Burrnesha als
       skurriles Exemplar einer Queer-Show in einem Londoner Varieté. Das Stück
       wurde von Qendra Multimedia produziert, der von Neziraj gegründeten
       Company, die auch das gesamte Festival ausrichtete. Insgesamt elf
       Produktionen aus sechs Ländern gehörten dazu.
       
       Die über den Balkanraum hinaus für die größte Aufmerksamkeit sorgende
       Produktion war „Handke Project“. Das ebenfalls von Qendra Multimedia
       produzierte und von Neziraj geschriebene Stück widmete sich Peter Handke.
       Er gilt wegen seiner [5][Verharmlosung von Kriegsverbrechen von serbischer
       Seite] als Persona non grata im Kosovo. Dass die schwedische Akademie ihm
       dennoch den Nobelpreis verlieh, sorgte weltweit für Aufruhr – und im Kosovo
       für noch immer anhaltende Empörung.
       
       ## Zweifelhafte Mentoren
       
       Handke wird in der Produktion vorgeführt als ein Dichter, der bei einem
       üblen Propagandisten in die Lehre geht, und als ein von Egoismen
       getriebener Mensch, der zwischen Realität und Fiktion nicht mehr
       unterscheiden kann. Zwei Mentorenfiguren leiten ihn an: Einer ist Onkel
       Joseph, Anklänge an den früheren NS-Propagandaminister Joseph Goebbels sind
       durchaus gewollt. Der andere ist der nicht erwachsen werden wollende Peter
       Pan. All das führt zu einer Infantilisierung Handkes – bei der die
       theatrale Wucht, mit der die Figur verurteilt wird, dann doch nicht ganz
       verhältnismäßig erscheint.
       
       Beim Publikum wird ein Nerv getroffen. Besonders in der Schlusssequenz wird
       dies deutlich. Das aus Schaupieler*innen aus dem Kosovo, Bosnien und
       Herzegowina, Montenegro, Italien und Frankreich bestehende Ensemble
       skandiert „Fuck Handke, Fuck Milošević, Fuck Swedish Academy“. Und der
       halbe Saal stimmt enthusiastisch ein.
       
       Es ist eine Stimmung wie im Fußballstadion. So befremdlich dieser Griff in
       den Sprachbaukasten von Hooligans einerseits wirkte, so sehr verdeutlichte
       die Reaktion des Publikums andererseits, wie sehr sich die kosovarische
       Gesellschaft durch Handke verletzt fühlt. Autor Neziraj sieht im
       Schriftsteller Handke vor allem einen Akteur, dessen Parteinahme für
       serbische Kriegsverbrecher dazu führe, „dass die interne Auseinandersetzung
       Serbiens über die Verantwortung für die Kriegsverbrechen verzögert wird“,
       wie er der taz sagte.
       
       ## Harte Kritik
       
       Zugute halten muss man Neziraj, dass er nicht nur zur eigenen Gemeinde
       predigt. Die Inszenierung lief auch in Belgrad, dort sogar ohne
       Polizeischutz. Die Reaktionen waren gemischt. Die Zeitung Srpski Telegraf
       wertete das Stück als Angriff auf Handke und Angriff auf Serbien. „Mich
       haben Kommentare darüber gefreut, dass ich in Serbien bislang als jemand
       geschätzt wurde, der Probleme der kosovarischen Gesellschaft hart
       kritisiert und von dem die serbische Öffentlichkeit nun umgekehrt harte
       Kritik akzeptieren müsse“, meinte Neziraj.
       
       Das „Handke Project“ wird im Dezember auch in Dortmund gastieren. Das
       Festival zeigte die gewachsene Produktivität vor allem der unabhängigen
       Theaterszene Kosovos. Auch die Zusammenarbeit mit einzelnen Stadttheatern
       wird von Saison zu Saison enger, weil dort auch eine neue Generation von
       Theatermachern aktiv ist. Gravierende Probleme wie der prekäre bauliche
       Zustand, der Mangel an Fachkräften vor allem im technischen Bereich und
       Finanzierungsengpässe aber bleiben.
       
       Daran änderte auch das [6][internationale Kunstfestival Manifesta], das
       Ende Oktober zu Ende ging, nichts. Es eröffnete für 100 Tage zwar neue
       Räume und beteiligte auch 40 Künstler*innen aus dem Kosovo. Für lokale
       Initiativen anderer Genres verschärfte sich aber die Situation. „Die
       Unterstützung der Stadt war in diesem Jahr viel geringer als sonst. Uns
       wurde gesagt, dass alle Ressourcen für die Manifesta mobilisiert wurden“,
       klagte Neziraj gegenüber der taz.
       
       Um auf die prekäre Lage hinzuweisen, gab seine Organisation Qendra
       Multimedia sogar die kläglichen 5.000 Euro, die im Jahr der Manifesta von
       der Stadt für das Theater Showcase vorgesehen waren, zurück. Auch das ist
       ein Zeichen gewachsener Souveränität. Die Theatermacher*innen lassen
       sich nicht mit Almosen abspeisen. Inhaltlich greifen sie ohnehin virulente
       politische Themen auf.
       
       Der Autor war auf Einladung von Qendra Multimedia im Kosovo.
       
       2 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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