# taz.de -- Bürger:innenräte in der Klimakrise: Das Los als Lösung?
       
       > Zufällig ausgewählte Menschen sollen in Freiburg und Umgebung Vorschläge
       > für eine bessere Klimapolitik machen. Das erste Fazit fällt gemischt aus.
       
 (IMG) Bild: Sie sollen die Gesellschaft widerspiegeln: die Teilnehmer:innen bei der Auftaktveranstaltung zum Klimabürger:innenrat
       
       FREIBURG taz | Nachdem die Schülerin Tabea Trost, der Systemadministrator
       Stefan Falk und der Postfilialleiter Heiko Quappe tagelang Dokumente
       gewälzt, Expert:innen befragt und sich genau überlegt haben, wie sie die
       Region vor der Klimakatastrophe retten können, räuspert sich ein Mitglied
       des Horbener Gemeinderates und sagt: „Das, was ihr da gemacht habt, ist
       reine Zeitverschwendung gewesen.“
       
       Horben ist ein Dorf bei Freiburg und es hat zusammen mit 15 anderen Städten
       und Gemeinden im Mai den ersten interkommunalen Klimabürger:innenrat
       Deutschlands ins Leben gerufen. 91 Bürger:innen wurden dafür ausgewählt.
       
       Ihre Aufgabe: Der Lokalpolitik Empfehlungen schreiben, wie die Region
       möglichst schnell zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien versorgt werden
       kann. Im Oktober liegen sie auf dem Tisch der Gemeinden. Die Reaktion der
       Lokalpolitiker:innen entscheidet darüber, was aus ihnen wird: Ein
       Anstoß für eine neue Politik oder ein Ärgernis für den Papierkorb.
       
       Bürger:innenräte sollen Bürger:innen in Entscheidungen einbeziehen
       und die Demokratie stärken. Das besondere ist, dass die
       Teilnehmer:innen ausgelost werden und sich vorher nicht mit dem Thema
       auskennen müssen. Sie sollen die Bevölkerung widerspiegeln. In Irland
       empfahl eine Citizens’ Assembly nach langen Beratungen und Diskussionen die
       Legalisierung der Abtreibung und die Einführung der Ehe für alle, was im
       angeblich so konservativen Land eine Überraschung war. Die Regierung setzte
       beide Projekte um und der Prozess wurde zum Vorbild.
       
       Doch funktioniert ein Bürger:innenrat auch, wenn es darum geht, die
       Klimakrise aufzuhalten? Sind die Lösungen für die Probleme nicht längst
       bekannt? Und: Haben wir überhaupt noch die Zeit zu reden, müssten wir nicht
       längst handeln?
       
       An politischer Legitimation für die Bekämpfung der Klimakrise fehlt es
       jedenfalls nicht. In Umfragen wird das Thema immer wieder als das
       drängendste Problem unserer Zeit genannt, selbst während der Hochphase der
       Coronapandemie war das so. Gleichzeitig denken fast 75 Prozent der
       Bevölkerung [1][laut einer Umfrage], die Bundesregierung tue nicht genug
       oder eher nicht genug, um den Klimawandel zu bekämpfen. Auch die Kommunen
       bekamen kein gutes Zeugnis.
       
       Es gibt ein Thema, das insbesondere in Baden-Württemberg für Kontroversen
       sorgt: Windkraft. Komplizierte Planungsverfahren und erbitterter,
       [2][lokaler Widerstand] haben den Windradausbau in Baden-Württemberg
       faktisch zum Stillstand gebracht. Im vergangenen Jahr wurden nur 31 neue
       Windräder in Betrieb genommen. Da hingt das Ländle sogar Bayern hinterher.
       Wird der Rat hier eine Lösung finden?
       
       „Wenn die eigenen Bürger öffentlich Druck machen, können sich die
       Gemeinderäte nicht mehr wegducken“, sagt Gabriele Michel. Von ihr ist die
       Idee des Freiburger Klimabürger:innenrates ausgegangen. Seit 2019
       setzte sich die Autorin und Dozentin mit einigen Mitstreiter:innen für
       die Gründung eines solchen Rates ein. In der Zwischenzeit wurde auch ein
       bundesweiter Bürgerrat Klima initiiert, der vor der Bundestagswahl 2021
       [3][seine Empfehlungen vorlegte]. Auch in Berlin erarbeiteten zufällig
       ausgewählte Menschen [4][lokale Forderungen].
       
       Besonders in Freiburg und Umgebung ist, dass sich mehrere [5][Gemeinden und
       Städte zusammengetan] haben. Politische Empfehlungen zu Energie können
       nicht an der Stadtgrenze enden, das war die Idee. Aus etwa 4.000 gelosten
       Menschen der Region wurden die 91 Teilnehmer:innen ausgesucht. Tabea
       Trost, 16, Schülerin aus Freiburg bekam eine der Einladungen, genauso wie
       Stefan Falk, 64, Systemadministrator aus Elzach und Heiko Quappe, 39,
       Postfilialleiter aus Freiburg.
       
       Damit die Teilnehmer:innen die Bevölkerung der Region möglichst gut
       abbilden, wurden unter den Interessierten die Kriterien Alter, Bildung und
       Migrationserfahrung berücksichtigt. Beim Alter hat das ganz gut geklappt,
       doch Menschen mit Migrationserfahrung sind unterrepräsentiert. Auch bei den
       Bildungsabschlüssen ist das Bild verzerrt: Fast 50 Prozent der
       Teilnehmer:innen haben eine Fach- oder allgemeine Hochschulreife, dabei
       sind es in Baden-Württemberg nur 34 Prozent. Zu dieser Verzerrung kommt es
       auch deshalb, weil es ein ehrenamtlicher Job ist, den am Ende dann doch
       diejenigen machen, die sich besonders für das Thema interessieren – und
       sich das Engagement leisten können. Auch wenn die Teilnehmer*innen eine
       Aufwandsentschädigung bekommen.
       
       Rechtlich bindend sind die Empfehlungen des Rates nicht. Also was, wenn die
       Gemeinderät:innen die Empfehlungen einfach ignorieren? „Dann wäre das
       eine Katastrophe für die Demokratie“, sagt Gabriele Michel. Lokalpolitik
       lebe davon, die Menschen vor Ort ernst zu nehmen.
       
       Fünf Samstage treffen sich die Teilnehmer:innen über den Sommer. Am
       ersten Tag teilen sie sich nach Themenfeldern in Gruppen auf. Tabea Trost
       und Stefan Falk gehen in die Windkraft-Gruppe, Heiko Quappe in eine Gruppe,
       die sich mit weiteren erneuerbaren Energien beschäftigt. Außerdem gibt es
       die Themenfelder Solar auf Freiflächen, Solar auf Gebäuden und
       Energiesparen. Jede Gruppe erarbeitet Empfehlungen, über die dann alle
       gemeinsam am Ende abstimmen.
       
       Tabea Trost trägt geblümte Vans, die Haare hat sie in der Mitte
       gescheitelt. Sie geht in die 12. Klasse eines Gymnasiums und vor dem
       Klimabürger:innenrat hat sie sich noch nie politisch engagiert. „Es
       wird ja immer viel gemeckert. Aber ich finde, dass man sich auch einbringen
       und etwas vorschlagen muss“, sagt sie. Der Rat sei für sie die Möglichkeit
       gewesen, genau das zu machen. „Ich hoffe, dass wir etwas verändern.“
       
       ## „Seien Sie radikal“, empfiehlt ein Experte
       
       An den ersten Samstagen lernen sich die Teilnehmer:innen kennen und
       hören sich Vorträge von Expert:innen an, die sie auf einen einigermaßen
       gleichen Wissensstand zum Klimawandel bringen sollen. Die Veranstaltungen
       finden in den teilnehmenden Kommunen statt: in einer Konzerthalle in
       Merzhausen; im Kreisgymnasium in Neuenburg und in einer Veranstaltungshalle
       in Emmendingen.
       
       Die taz war bei den ersten Treffen nicht dabei. Ein Experte für Raumplanung
       habe folgenden Ratschlag geben, erzählt ein Teilnehmer zu einem späteren
       Zeitpunkt: „Seien sie radikal in ihrem Empfehlungen. Es kann gar nicht
       mutig genug sein.“
       
       Am vierten Samstag sprechen die Mitglieder des Rates Passant:innen auf
       den Wochenmärkten der Region an. Trost hat sich den Bauernmarkt im
       Freiburger Stadtteil Stühlinger ausgesucht. Unter Kastanienbäumen verkaufen
       Landwirt:innen Äpfel und Salat. Die Teilnehmer:innen des Rates haben
       sich mit ihrem Info-Stand zwischen den Olivenverkauf und den Bäcker
       gestellt.
       
       Tabea Trost spricht eine Frau mit vollen Einkaufstüten an und es schwingt
       etwas Stolz in ihrer Stimme mit, als sie den Klimabürger:innenrat
       vorstellt. „Das ist ja super“, sagt sie, als Trost ihren Vortrag beendet
       hat. Ob sie Anregungen habe, fragt Trost. „Nein, eigentlich nicht. Ich
       frage mich eher, ob Sie ein paar Tipps für mich haben. Wir haben zu Hause
       eine alte Ölheizung. Wie sieht es denn da mit Zuschüssen aus?“ Trost ist
       überfragt, aber sie notiert sich: Informationsangebote schaffen.
       
       Drei Portugiesinnen laufen vorbei. Als Trost sie auf Windkraft anspricht,
       sagen sie: „Wir haben überall Windräder bei uns an der Küste. Das ist gar
       kein Problem. Wir finden das schön.“
       
       Es ist ein Heimspiel für den Klimabürger:innenrat. Auf dem Freiburger
       Wochenmarkt gibt es niemanden, der sich gegen erneuerbare Energien
       ausspricht. Trotzdem sind die Gegner:innen der Windräder ein Thema. Wie
       soll man mit ihnen umgehen, den Menschen oben im Schwarzwald, die auf ihren
       Bergen keine Windräder haben wollen?
       
       ## Weniger Widerstand als erwartet
       
       Stefan Falk wohnt in einem kleinen Tal im Schwarzwald. Er war auf dem Markt
       seiner Heimatgemeinde Elzach, aber auch dort habe er mit keinem
       Windkraftgegner gesprochen. Im Gegenteil. Die Leute interessierten sich für
       erneuerbare Energien, sagt Falk.
       
       Dass die Zahl der Windkraftgegner:innen in Baden-Württemberg eher
       klein ist, bestätigt eine Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2018, die vom
       Energieunternehmen EnBW in Auftrag gegeben wurde. 87 Prozent der Befragten
       fanden den Ausbau von Windrändern wichtig. Und: 82 Prozent der Befragten
       mit einem Windrad in Wohnortnähe waren damit einverstanden.
       
       Stefan Falk denkt schon seit den 90er Jahren über die lokale Nutzung von
       erneuerbaren Energien nach. Damals hatte er die Idee, ein kleines
       Wasserkraftwerk zu bauen. Doch als er die Genehmigung beantragte, sagte ihm
       ein Mitarbeiter des Landratsamtes: „Das wird zehn Jahre dauern.“
       
       Also dachte sich Falk etwas anderes aus. Er kaufte eine thermische
       Solaranlage, 25 Quadratmeter groß, legte das Betonfundament und schweißte
       Stahlgestelle auf sein Grundstück. Zuerst belächelten ihn seine
       Nachbar:innen dafür, jetzt beneiden sie ihn. „Mich fasziniert es,
       Energie zu gewinnen, ohne dass dadurch etwas weniger wird“, sagt Falk.
       
       ## Sieben Jahre, bis sich ein Windrad dreht
       
       Seit 2017 fährt er Elektroauto, mittlerweile hat es 85.000 Kilometer auf
       dem Tacho. Stefan Falk muss nicht vom Kampf gegen den Klimawandel überzeugt
       werden. Er beschreibt seine Motivation so: „Ich habe vier Kinder und ich
       möchte, dass sie in einer Welt leben, die noch lebenswert ist.“
       
       Falk arbeitet als Systemadministrator in einer Schule und am liebsten
       würde er die Handlungsempfehlungen wie eine Anleitung formulieren, um ein
       Computerproblem zu lösen. In etwa so: Um ein Windrad zu bauen, gründen Sie
       eine Genossenschaft. Stellen Sie den Antrag. Fangen Sie mit dem Bauen an.
       Freuen Sie sich über den Wind. Erhalten Sie das Geld auf Ihrem Konto!
       
       Doch im echten Leben dauert es dann im Schnitt sieben Jahre, bis sich das
       Windrad dreht. Denkmalgeschützte Gebäude, der Rotmilan,
       Landschaftsschutzgebiete, all das verzögert oder verhindert den Bau von
       Windrädern. Manchmal dauert ein Genehmigungsverfahren so lange, dass
       Naturschutzgutachten im Laufe des Prozesses veraltet sind und neu erstellt
       werden müssen.
       
       Am Nachmittag des Markttages treffen sich die Mitglieder des Rates in einer
       Realschule in Freiburg, um über die Gespräche zu reden. Das Gebäude ist
       modern, die Betonwände sind blank, die Decken aus gepresster Holzwolle.
       
       Auch innerhalb der Gruppe ist es schwierig, jemanden zu finden, der gegen
       Windräder ist. Einen gibt es allerdings.
       
       Heiko Quappe, 39, sitzt in einer Pause in einer Sofaecke der Schule und
       sagt: „Windräder machen die Natur kaputt.“ Er erzählt von Vögeln und von
       Insekten, die von Rotoren geschreddert werden.
       
       Was ist mit dem Argument, dass auch die Erderhitzung Arten bedrohe, wenn
       Tiere und Pflanzen ihren Lebensraum verlieren?
       
       Quappe redet einfach weiter und weiter, er springt von Vermutung zu
       Vermutung und landet bei der Ukraine. Er ist überzeugt, dass Wladimir
       Putin dort angegriffen habe, weil er sich bedroht fühlte. Gegenargumente
       lässt er nicht gelten, stattdessen wechselt er einfach das Thema.
       
       An Heiko Quappe zeigt sich, wie der Klimabürger:innenrat an Grenzen
       stößt. Was können Expert:innen-Inputs und Argumente bewirken, wenn die
       Diskussion nicht funktioniert?
       
       Zur Frage, was gesellschaftlicher Dialog, was
       Bürger:innenbeteiligung erreichen kann, sind in den letzten Jahren
       viele Bücher erschienen. Dass eine relevante Zahl von Menschen Politik als
       abgehoben und unnahbar empfindet, ist ein Problem für die Demokratie.
       
       Aber wie viel Kraft sollte eine Gesellschaft investieren, laute
       Minderheiten zu verstehen?
       
       Quappe und die Windkraftbefürworter:innen sind kaum ins Gespräch
       gekommen. Ein- oder zweimal habe jemand versucht, ihn von Windrädern zu
       überzeugen. Aber der habe ihm gar nicht richtig zugehört, sagt Quappe. Man
       habe aneinander vorbeigeredet.
       
       Was braucht es, damit man sich gegenseitig ernst nimmt?
       
       Vor allem brauche man Zeit, sagt Heiko Quappe. „Die fünf Tage waren
       wahrscheinlich nicht lang genug, um sich richtig kennenzulernen.“
       
       Quappe freut sich, wenn ihm jemand zuhört. Er erzählt, wie froh er sei, am
       Klimabürger:innenrat teilzunehmen. Besonders aufmerksam habe er bei
       der Videobotschaft eines Managers des regionalen Energieversorgers
       zugehört. Der Manager erzählte von Problemen mit dem Bau von Südlink, einer
       Stromleitung, die Baden-Württemberg mit Windstrom aus der Nordsee versorgen
       soll.
       
       Die Leitung sollte längst fertig sein, aber sie wurde immer wieder
       gerichtlich gestoppt, weil die betroffenen Gemeinden mit der
       Streckenführung nicht einverstanden waren, und nun könnte es knapp werden
       mit dem Strom im Süden, wenn die Atomkraftwerke ausgestellt werden. Quappe
       interpretiert das so: „Wir haben den Atomstrom zu früh abgestellt.“
       
       Dass der Klimawandel gestoppt werden muss, steht für ihn aber außer Frage.
       Bloß ohne Windräder. „Photovoltaikanlagen auf Dächern finde ich zum
       Beispiel super“, sagt er. Und Geothermie, also die Nutzung der in der
       Erdkruste gespeicherten Wärmeenergie.
       
       Stefan Falk und Tabea Trost beschäftigen sich an diesem Nachmittag mit den
       Begriffen Windhöffigkeit, Ausbauvorrangebiet und Genehmigungsfreiheit. Die
       Gruppe hat sich in ein Klassenzimmer zurückgezogen, gut zehn Menschen
       sitzen in einem Stuhlkreis. Besonders die Älteren der Windkraftgruppe
       scheinen es darauf anzulegen, die Empfehlungen möglichst kompliziert zu
       formulieren und viele Fachbegriffe zu nutzen. Die Teilnehmer:innen
       wurden im Laufe des Prozesses mit technischen Details bombardiert. „Das
       muss juristisch wasserdicht sein“, sagt eine Frau. Dabei gibt es gar keinen
       Juristen in der Gruppe.
       
       ## Rücksicht die eigene Wiederwahl ist nicht nötig
       
       Eine Frau möchte, dass jeder ein kleines Windrad auf seinem Grundstück
       bauen kann, ohne dafür eine Genehmigung zu beantragen. Die anderen sind
       etwas genervt, weil die Frau darüber wohl schon öfter geredet hat, aber sie
       lässt sich nicht von ihrem Thema abbringen. „Ich finde wir gehen zu sehr
       ins Detail“, sagt Tabea Trost.
       
       [6][Die Moderatorin] lässt die Diskussion laufen, ermuntert
       Teilnehmer:innen, die noch gar nichts gesagt haben. Jeder soll zu Wort
       kommen, auch wenn das, was er sagt, eher Wunschdenken ist.
       
       Dann wird es auf einmal spannend, denn jemand wirft eine entscheidende
       Frage in den Raum: Wie viele Windräder brauchen wir denn eigentlich in den
       drei Landkreisen?
       
       „In dieser Studie steht 670, damit die Grundlast gesichert wird.“
       
       „Wirklich so viele?“
       
       „Das kann nicht sein. Das ist ja utopisch. Dann müsste ja auf jedem Berg
       ein Windrad stehen.“
       
       „Der eine Experte hat von 270 geredet.“
       
       „Na gut, dann schreiben wir 270 rein.“
       
       Die Gruppe diskutiert, ob man nicht auch empfehlen sollte, auf Feldberg,
       Blauen und Belchen, also auf den höchsten Bergen des Schwarzwalds,
       Windräder zu bauen. „Da oben ist am meisten Wind“, sagt ein jüngerer
       Teilnehmer. Könnte man nicht sogar die Gemeinden verpflichten, zuerst auf
       den Gipfeln Windräder zu bauen? Was sie hier sagen, das ist für
       Baden-Württemberg ziemlich radikal.
       
       Der Feldberg ist mit 1.493 Metern Baden-Württembergs höchster Gipfel und
       ein Symbol, das von zwei Gruppen beansprucht wird. Zum einen sind das die
       Naturschützer:innen, denen der Ski-Rummel im Winter zu groß ist, weil er
       die letzten Auerhühner des Schwarzwalds bedroht. Zum anderen sind das die
       Touristiker:innen, die versuchen, den Gipfel als Naturerlebnis zu
       verkaufen, obwohl längst Seilbahnen und eine geteerte Straße hinaufführen.
       Beide Gruppen sind sich einig: Windräder haben auf dem Feldberg nichts zu
       suchen.
       
       Stefan Falk schaut in sein Smartphone, ihm geht das Ganze zu weit. Feldberg
       … Irgendwann nimmt sich Tabea Trost, die Jüngste in der Runde, ein Herz und
       sagt: „Wenn wir uns den Feldberg als Ziel setzen, dann kommen wir nicht
       weit. Da gibt es zu viel Gegenwehr.“ Es könnten die Worte einer Politikerin
       sein, die strategisch überlegt, wie sie am Besten ans Ziel kommt.
       
       Der Gruppe ist die Radikalität ihrer Idee offenbar unheimlich geworden.
       Dabei hätte genau das auch eine Stärke sein können: einen provokanten,
       vielleicht sogar utopischen oder unpopulären Vorschlag zu machen. Die
       Bürger:innen müssen, anders als Politik:innen, keine Rücksicht auf eine
       mögliche Wiederwahl nehmen.
       
       ## Was werden die Lokalpolitiker:innen sagen?
       
       Am fünften Samstag trifft sich der Rat in Stegen, einem Dorf zehn Kilometer
       von Freiburg entfernt. Heute müssen die Empfehlungen fertig werden. Die
       Gruppe hat noch viel zu tun. Doch an diesem Nachmittag spricht erst mal die
       Bürgermeisterin von Stegen ein Grußwort.
       
       Die Politikerin mit der Dauerwelle steht auf der Bühne der Turnhalle, Tabea
       Trost, Stefan Falk und Heiko Quappe hören höflich zu. Die Luft ist stickig
       an diesem Julitag in der Sporthalle.
       
       „Wir in Stegen machen schon viel gegen den Klimawandel“, sagt die
       Bürgermeisterin. Die Gemeinde habe ein Lastenrad angeschafft, das
       Bürger:innen kostenlos ausleihen können. Es gebe eine Verdirbnix-Box, um
       Lebensmittel zu retten. Und die LED-Straßenlaternen.
       
       Eigentlich müsste nun jemand einschreiten und die Bürgermeisterin fragen,
       wie um alles in der Welt ein Lastenrad, ein Lebensmittelschrank und ein
       paar Laternen die Klimakrise aufhalten sollen, aber das macht keiner. Die
       Bürgermeisterin spricht weiter ihre Werbebotschaft.
       
       Etwas fürs Klima tun, das klingt gut. Vielleicht haben viele Gemeinden auch
       nur wegen dieses öffentlichen Drucks an diesem Beteiligungsverfahren
       teilgenommen. Welcher Bürgermeister kann es sich schon leisten, als
       jemand dazustehen, der das Klima nicht schützen will?
       
       Als die Bürgermeisterin ihre Rede beendet hat, setzen sich Tabea Trost und
       Stefan Falk in einen Stuhlkreis. „Unsere Vorstellungen sind noch nicht
       konkret genug“, sagt Stefan Falk. „Wir sollten deutlich machen: Außer
       Windkraft und Solar haben wir nichts, was uns aus der Klemme hilft.“
       Kopfnicken. Das soll in die Präambel, das Vorwort.
       
       Die Präambel beginnt mit den Worten: „Der menschengemachte Klimawandel
       zerstört die Lebensgrundlage der gesamten Menschheit.“ Und endet: „Je
       länger wir warten, umso dramatischer werden die Auswirkungen und umso
       drastischer werden die Maßnahmen sein, dem entgegenzuwirken.“
       
       Am Ende des Tages einigt sich die Windkraft-Gruppe auf vier Punkte. Alle
       ausgewiesenen Windkraftflächen sollen sofort genutzt werden, an den
       Standorten mit dem meisten Wind zuerst. Die Kommunen sollen Planung und
       Genehmigung vereinfachen und zusammenarbeiten. Wo bisher kleinere Windräder
       stehen, sollen sie durch größere ersetzt werden. Bürger:innen sollen von
       den Erträgen lokaler Anlagen profitieren und mit Kommunikation und
       Transparenz soll Windkraftkritiker:innen vor Ort begegnet werden.
       
       Alle Punkte werden bei der Abstimmung angenommen. Nur die Zahl der 270
       Windräder aus der Diskussion in der Gruppe steht nicht mehr drin. Sie hätte
       ein konkreter Anstoß sein können. Irgendwo, im Laufe der Diskussion, ist
       sie verloren gegangen.
       
       Alle Forderungen sind abgestimmt, nun folgt die Bewährung: Wie kommen die
       Empfehlungen bei denen an, für die sie entwickelt wurden? Was sagen die
       Gemeinderät:innen vor Ort?
       
       Die Kommunen sind diejenigen, die auch das meiste für den Prozess gezahlt
       haben. 150.000 Euro hat der Bürger:innenrat etwa gekostet:
       Organisation, Moderation, Verpflegung der Teilnehmer:innen. Ein Drittel
       haben Sponsor:innen übernommen, zwei Drittel zahlen die 16 Gemeinden.
       
       ## Der Rat hat die Teilnehmer:innen verändert
       
       Ein Oktoberabend in Horben, das Dorf liegt auf den ersten Höhen des
       Schwarzwalds, nur ein paar Kilometer von Freiburg entfernt, aber Horben ist
       eine andere Welt als die Stadt unten im Tal.
       
       Die Gemeinderät:innen hier sind bekannt dafür, dass sie gerne
       streiten, und eine Ratssitzung dauert auch mal drei bis vier Stunden. Um
       fünf nach sieben fehlen noch drei Ratsmitglieder, denn heute hat ein Haus
       gebrannt und die Ratsmitglieder sind auch Feuerwehrleute.
       
       Dann kommen die drei fehlenden Ratsmitglieder rein, und es geht los. Vorn
       steht ein Vertreter des Klimabürger:innenrates im Horbener
       Gemeinderat und stellt das Gutachten vor. Der Mann trägt ein blaues Sakko,
       eine beige Hose und er klimpert vor Aufregung mit einem Schlüsselbund in
       der Hosentasche. Er sagt: „Ich bin ja eigentlich Freiburger und wohne erst
       seit Kurzem in Horben.“
       
       Das kommt nicht gut an, denn der Zuzug aus Freiburg verteuert die Horbener
       Immobilienpreise. Und dann sagt er: „Ich habe auch die Schweizer
       Staatsbürgerschaft.“ Auch das kommt nicht gut an, ein Seufzen in der Runde,
       denn es gibt Schweizer:innen, die sich Ferienwohnungen in Horben kaufen und
       ihre Wohnungen die meiste Zeit des Jahres leer stehen lassen.
       
       Der Mann merkt nicht, wie sich die Stirn einiger Rät:innen längst in
       Falten gezogen hat, also erzählt er munter weiter, dass er als Biologe
       nachweisen konnte, dass die Fledermäuse keine Probleme mit Windrädern haben
       und dass er sich auch sehr gut mit Solaranlagen auskenne, denn er habe in
       einer Firma mal ein Praktikum gemacht. Hier spricht kein Bürger, hier
       spricht ein Experte. Und die Mitglieder des Gemeinderates sitzen da wie
       Schüler:innen, denen Nachhilfeunterricht erteilt wird.
       
       ## Der Bürgermeister ist skeptisch
       
       Der Mann gehört zur Gruppe „Solaranlagen auf Freiflächen.“ Er führt aus,
       dass es in Horben viele Wiesen gebe, auf denen man Solaranlagen aufstellen
       könnte. „Das geht sogar bei einer Neigung bis zu 45 Grad, wie Sie die hier
       haben“, sagt er und meint damit die Bergwiesen des Dorfes. „Das sollten Sie
       machen.“
       
       Dann ist er fertig und der Bürgermeister, der bei den Grünen ist, was er
       aber nicht so oft sagt, denn in Horben sind die meisten Einwohner:innen
       sehr konservativ, räuspert sich. „Das ist ja schön und gut, was Sie da
       sagen und es ist wichtig, dass wir hier darüber diskutieren“, sagt er.
       „Aber haben Sie mal die Verordnung zur Öffnung der Ausschreibung für
       Freiflächen Photovoltaikanlagen für Gebote auf Acker- und Grünflächen in
       benachteiligten Gebieten gelesen?“ Das sagt er, ohne dabei in seine Notizen
       zu schauen.
       
       Der Bürgermeister erklärt dann, warum es so gut wie unmöglich sei, in
       Horben eine Photovoltaik-Anlage auf eine Wiese zu setzen und er wirft mit
       den Begriffen Umweltprüfung, artenschutzrechtliche Prüfung, Änderung des
       Flächennutzungsplanes und Ausgleichsmaßnahmen um sich. Es mache einfach
       keinen Sinn, so etwas für Horben zu fordern, sagt er.
       
       Die Projekte scheiterten an der Bürokratie. „Die Verfahren müssen einfacher
       werden, haben Sie daran mal gedacht?“, sagt der Bürgermeister. „Ja, das
       haben wir“, sagt der Mann vom Klimarat. Immer wieder stehe im Gutachten,
       dass Planungs- und Genehmigungsverfahren vereinfacht und beschleunigt
       werden sollen.
       
       Nur sind die Adressatinnen des Gutachtens die 16 Gemeinden – und die können
       keine Gesetze ändern. Sie können höchstens versuchen, über persönliche
       Kontakte oder über den Gemeindetag Druck auf die Landes- und Bundespolitik
       auszuüben.
       
       Hat sich der Rat also an die Falschen gewandt? Bräuchte es eher
       Empfehlungen ans Bundesland?
       
       Wenn es nach dem Horbener Ratsmitglied vom Anfang geht, dann war der
       Klimabürger:innenrat eine Enttäuschung. „Was Sie uns da vorgestellt
       haben, das wussten wir längst.“ Nicht nur Zeit, sondern auch Geld sei
       verschwendet worden. „Mit den 100.000 Euro hätte man eine Solaranlage
       kaufen können. Dann wäre das Geld wenigstens sinnvoll investiert worden“,
       sagt er.
       
       Die Teilnehmer:innen des Rates stellen dem Format hingegen ein gutes
       Zeugnis aus. In einer Umfrage sagte eine Mehrheit: „Der
       Klimabürger:innenrat hat meinen Glauben in unsere Demokratie
       gestärkt.“
       
       Was von beidem wiegt mehr? Eine dritte Sicht könnte auch stimmen.
       Vielleicht waren die Erwartungen an den Rat einfach zu hoch. Die
       Klimakrise lösen, die Demokratie retten, das kann kein Rat der Welt an
       fünf Samstagen schaffen. In Irland debattierten die Mitglieder der
       Citizens’ Assembly fünf Monate lang, bevor sie eine Empfehlung zum Thema
       Abtreibung gaben.
       
       Die Klimakrise kann man nicht zu einer moralischen Frage verdichten, die
       sich mit Ja oder Nein beantworten ließe. Um Lösungen zu finden, muss man
       ihre Komplexität verstehen, Puzzleteile zusammensetzen und trotzdem das
       große Ganze im Blick haben. Das haben die Teilnehmer:innen gemerkt. Und
       wenn Kommunalpolitiker:innen nur auf Schwierigkeiten und
       Zuständigkeiten verweisen, müsste doch einigen klar werden, dass es so
       nicht weitergehen kann.
       
       Was bleibt also vom ersten interkommunalen Klimabürger:innenrat
       Deutschlands? Der Prozess ist noch nicht vorbei. Im Dezember soll es ein
       Treffen der Kommunen geben. Dabei wollen die Bürgermeister:innen
       überlegen, wie sie die Empfehlungen des Rates umsetzen können.
       
       Und auch die Teilnehmer:innen haben sich in den Monaten verändert.
       Tabea Trost will sich weiterhin für den Klimaschutz engagieren. Heiko
       Quappe schwärmt für Geothermie. Und Stefan Falk hat wieder eine neue Idee.
       Er möchte in seiner Heimatstadt eine Energiegenossenschaft gründen und
       Photovoltaikanlagen beauftragen. Eine Sammelbestellung will er anschieben,
       möglichst viele sollen mitmachen.
       
       7 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.umweltbundesamt.de/themen/nachhaltigkeit-strategien-internationales/umweltbewusstsein-in-deutschland
 (DIR) [2] /Ausbau-von-Windkraft/!5870614
 (DIR) [3] /Buergerinnen-gestalten-Klimapolitik/!5782872
 (DIR) [4] /Buergerraete-mischen-sich-ein/!5812973
 (DIR) [5] https://www.buergerrat-regionfreiburg.de/
 (DIR) [6] https://www.allwedo.eu/post/klima-b%C3%BCrger-innen-rat-region-freiburg
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jannik Jürgens
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt klimaland
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Windkraft
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Bürgerbeteiligung
 (DIR) GNS
 (DIR) Ernährung
 (DIR) Bürgerbeteiligung
 (DIR) Demokratieprojekte
 (DIR) Bundestag
 (DIR) Bärbel Bas
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Russland
 (DIR) IG
 (DIR) Volksinitiative
 (DIR) Partizipation
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Empfehlungen vom Bürgerrat Ernährung: Schulessen, Steuern, Tierwohl
       
       Wie kann die Politik nachhaltige und gesunde Ernährung fördern? Dazu hat
       der vom Bundestag eingesetzte Bürgerrat nun seine Empfehlungen vorgestellt.
       
 (DIR) Bürgerbeteiligung in der Klimakrise: „Emotionen müssen gefühlt werden“
       
       Ist echte Bürgerbeteiligung in der Klimakrise nicht zu langsam? Jascha Rohr
       und Claudine Nierth erklären, warum sie glauben, dass es nur mit ihr geht.
       
 (DIR) Bürger*innenrat in Freiburg: Klappt die Mitbestimmung?
       
       Vor einem Jahr gab ein Klimabürger:innenrat um Freiburg Empfehlungen
       ab. Ein Ortsbesuch ein Jahr später zeigt, was er erreicht hat.
       
 (DIR) Bürgerrat für Ernährungsfragen: Sag mir, was du isst
       
       Was erwarten Bürger*innen von der Ernährungspolitik? Der Bundestag hat
       erstmals einen Bürgerrat eingesetzt. Der soll das dem Parlament erklären.
       
 (DIR) Politische Partizipation in Deutschland: Nur Tamtam um die Bürgerräte?
       
       Ob die Empfehlungen der Bürger:innen tatsächlich umgesetzt wurden,
       wollte die Linke von der Regierung wissen. Deren Antwort bleibt luftig.
       
 (DIR) Neue Ziele der Letzten Generation: Jede Stadt, jedes Dorf
       
       Vor genau einem Jahr startete die Letzte Generation ihre Blockaden. Nun
       will die Klimagruppe häufiger und dezentraler Straßen blockieren.
       
 (DIR) Atomstrom in Europa: Verflochten mit Russland
       
       Von Uran bis zu den Brennelementen – die gesamte europäische Atomwirtschaft
       hängt von Russland ab. Umweltverbände fordern ein Embargo.
       
 (DIR) Klimaforscher zur COP27: „Durchaus Gründe zur Hoffnung“
       
       Teile der Ampel hätten die Dringlichkeit des Klimaschutzes nicht
       verstanden, so Stefan Rahmstorf. Die Emissionen müssten auf null.
       Klimafreundliche Technik sei bereits vorhanden.
       
 (DIR) Start des Klimabürger:innenrats: Wahnsinnig total gespannt
       
       Der Klimabürger:innenrat hat sich zum ersten Mal getroffen und alle
       waren wie elektrisiert. Mal sehen, was dabei herauskommt.
       
 (DIR) Mehr Partizipation durch Bürgerräte: Wenn das Volk stört
       
       Bürgerräte können produktive Lösungen für verfahrene Sachdiskussionen
       liefern. Leider sind die Ampelparteien bei mehr Partizipation sehr
       zögerlich.