# taz.de -- Umwelthistoriker über Videospiel: „Kompromisse aushandeln nötig“
       
       > Troy Vettese hat das Videospiel „Half Earth Socialism“ entwickelt. In
       > diesem können Spieler:innen die Weltwirtschaft klimagerecht und
       > demokratisch planen.
       
 (IMG) Bild: Eine Szene aus dem Videospiel „Half-Earth Socialism“
       
       taz: Herr Vettese, in Ihrem Videospiel „Half Earth Socialism“ wird man zur
       wirtschaftlichen Planer:in. Ziel ist es, die [1][Erderwärmung] auf 1 Grad
       zu begrenzen, die Rate der aussterbenden Arten auf unter 20 Prozent zu
       bringen, und keine Treibhausgase auszustoßen. Wie lässt sich das schaffen? 
       
       Troy Vettese: Als Spieler:in entwerfen Sie Fünfjahrespläne, in denen neue
       Technologien wie die Kernfusion entwickelt werden, es werden
       Infrastrukturen wie Fahrradwege oder Naturschutzgebiete erschaffen und
       politische Maßnahmen umgesetzt, wie die Einführung von Energiequoten. Es
       gibt Punkte, wenn Sie die Klima- und Biodiversitätskrise bewältigen und es
       gleichzeitig schaffen, den Lebensstandard hochzuhalten. Ansonsten verlieren
       Sie Ihren Job, weil Sie ihre demokratische Legitimation verlieren.
       
       Was ist der Unterschied zu einer realen Wirtschaftspolitik? 
       
       Die wirtschaftlichen Pläne im Spiel versuchen nicht den Markt zu imitieren
       und sich an einer einzigen Kennzahl wie Arbeitszeit, Energie oder CO2 zu
       orientieren. Es werden vielmehr verschiedene detaillierte Gesamtpläne
       erstellt. So entscheiden Spieler:innen, wie viel Land sie schützen, wie sie
       ihre Nahrungsmittel anbauen, wie sie ihre Energie produzieren und welche
       Energiequoten es geben sollte. Pro Planungsphase eruiert das ins Spiel
       integrierte Hector-Klimamodell, das auch der Weltklimarat verwendet, ob ein
       solcher Mix sozialökologisch umsetzbar ist. Wir wollen Spieler:innen
       motivieren, solche Pläne zu entwickeln, um zu zeigen, dass eine Planung der
       Wirtschaft innerhalb der planetarischen Grenzen möglich ist.
       
       Wie kam es zu der Idee? 
       
       Aus Frustration über die verkürzten Debatten, die wir über das Klima und
       die Wirtschaft führen. Ist es energetisch sinnvoll und sozial gerecht, ein
       E-Auto zu produzieren? Oder müssen wir die Ökosysteme schützen, aus denen
       Ressourcen für E-Mobilität extrahiert werden, um die Biodiversität zu
       erhalten? Erst wenn wir größere Zusammenhänge debattieren, können wir
       erkennen, welche Vision der Zukunft umsetzbar oder wünschenswert ist.
       
       Gab es konkrete Vorbilder für Ihr Spiel? 
       
       Der Ende des 19. Jahrhunderts geborene [2][Otto Neurath], ein brillanter,
       aber obskurer sozialistischer Philosoph, inspirierte uns. Er war
       Kriegsplaner für Österreich-Ungarn und später der zentrale Planer der
       Bayerischen Sowjetrepublik. Als diese 1919 zusammenbrach, wurde der
       Revolutionär zum Pädagogen. In Wien entwickelte er die grafische
       Darstellung Isotype: Anhand von Piktogrammen, also vereinfachten
       Abbildungen, konnte Neurath komplexe sozialökonomische Informationen
       vermitteln. Neurath wollte, dass die Wiener Arbeiterklasse versteht, wie
       die Wirtschaft funktioniert, damit sie sie kontrollieren kann. Er hatte die
       Vision, dass eine sozialistische Regierung verschiedene Pläne zur
       Wirtschaftsführung vorlegen würde, und die Menschen dann über diese
       abstimmen.
       
       Sie zielen darauf ab, dass Biosphäre und Wirtschaft als zusammenhängendes
       Ganzes verstanden werden. 
       
       Genau. Dazu ist es unvermeidlich, Kompromisse auszuhandeln: Mehr Fleisch
       und eine hohe Aussterberate? Energiequoten oder mehr fossile Brennstoffe in
       Kombination mit Geoengineering? Unser Spiel soll diese Debatte in Gang
       setzen.
       
       Das Spiel beginnt mit der Vision einer Welt, die den Kapitalismus
       überwunden hat. Ein notwendiger Schritt, um [3][Klimakrise], soziale
       Ungleichheit und Biodiversitätsverlust zu bekämpfen? 
       
       Der Kapitalismus ist ein dezentralisiertes Wirtschaftssystem. Die
       Wirtschaft wächst tendenziell, weil neue Märkte erschlossen werden oder die
       Arbeit produktiver wird: [4][Auf diese Weise macht das Kapital immer
       weitere Teile der natürlichen Welt zur Ware.] Es ist schwierig, diesem
       Wachstum Grenzen zu setzen. Denn die Konkurrenz macht es nötig, ständig
       höhere Profitraten zu erwirtschaften. Da nur der Profit zählt, wird kaum in
       wenig profitable Branchen wie die erneuerbaren Energien investiert. Der
       Anteil der fossilen Brennstoffe an der Gesamtenergieerzeugung ist in
       fünfzig Jahren kaum gesunken, während der Anteil der Solar- und Windenergie
       von 0 Prozent auf nur 2 Prozent gestiegen ist – die Energiewende findet
       einfach nicht statt.
       
       Es müssen also unrentable Entscheidungen getroffen werden. 
       
       Ja. Autofabriken, die Fleischproduktion und Infrastrukturen für fossile
       Brennstoffe müssen im Wert von Milliarden Dollar vernichtet werden. Das
       Agrarsystem wird sich drastisch ändern müssen, und wir werden viel mehr
       Naturschutzgebiete brauchen, um das sechste Massensterben zu verhindern.
       Der Kapitalismus kann keines dieser Ziele erreichen.
       
       Ist Sozialismus die Lösung, auch wenn er historisch mit Autoritarismus
       verbunden ist? 
       
       Der Autoritarismus des Sozialismus ist eine Gefahr. Aber das ist er auch in
       kapitalistisch organisierten Gesellschaften. Im Sozialismus lässt sich
       durchsetzen, dass Menschen und nicht das Kapital entscheiden sollten, wo
       investiert wird und welche Sektoren schrumpfen sollen. Mit unserem Spiel
       wollen wir ein Werkzeug schaffen, mit dem jede Spieler:in
       wissenschaftliche Utopien entwerfen kann. So können Bürger:innen, wie einst
       von Neurath gedacht, an der ökosozialistischen Demokratie teilhaben.
       
       Was braucht der Ökosozialismus? 
       
       Stärkere Koalitionen mit Tierbefreier:innen, Feminist:innen,
       Dekolonialen Bewegungen und Umweltschützer:innen. Deshalb wollten
       wir ein Multiplayer-Spiel entwickeln, bei dem Planer:innen in
       Verhandlungen mit anderen Spieler:innen einen global-wirtschaftlichen
       Plan erstellen. Das war aber zu kompliziert. Also haben wir ein globales
       Parlament geschaffen, in dem viele verschiedene Parteien vertreten sind,
       die Fraktionen innerhalb der Umwelt- und sozialistischen Bewegungen
       repräsentieren und über die Pläne abstimmen.
       
       Neoliberale Wirtschaftswissenschaftler:innen halten Märkte für
       unplanbar. Stimmt das? 
       
       Ich mache mir keine Illusionen über die Planbarkeit der Weltwirtschaft.
       Neoliberalen Ökonom:innen entgegnen wir dennoch, dass aber die Natur
       noch komplexer ist als die Wirtschaft. Wir können nicht vorhersagen, was
       die Folgen des Geo-Engineerings sein werden, oder wie schlimm der
       Klimawandel werden wird. Wir sind von ökologischen Systemen abhängig, die
       wir nicht vollständig verstehen können, und deshalb ist es sinnvoll, dafür
       zu sorgen, dass die Natur genügend Raum hat, um mit e iner gewissen
       Stabilität zu funktionieren. Hier setzt der Ökosozialismus an.
       
       In Ihrem Buch „Half Earth Socialism“ nennen Sie die Idee der „Halben Erde“
       des Biologen E. O. Wilson als zentrale Idee für den Ökosozialismus. Demnach
       sollen 50 Prozent der Erdoberfläche der Natur überlassen werden. Warum ist
       mehr Platz wichtig? 
       
       Weil die Schnittstelle zwischen uns und dem Rest der Natur im letzten
       halben Jahrhundert größer geworden ist – vor allem seit der Einführung der
       Massentierhaltung in den 1960er Jahren. Wir brauchen riesige Flächen an
       Land, um so viele Tiere zu füttern, und bedrängen gleichzeitig Wildtiere,
       [5][die zu Überträgern von Krankheiten wie dem Sars-CoV-2-Virus werden].
       
       Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass die Massentierhaltung katastrophale
       Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit hat und mehr Naturschutzgebiete
       für den Seuchenschutz notwendig sind. Aber auch für den Ausbau von
       erneuerbaren Energiesystemen brauchen wir mehr Land als für die Erzeugung
       fossiler Brennstoffe. Schon jetzt führt kapitalistische Landnahme zu
       Neokolonialismus und Naturzerstörung. Deswegen ist es wichtig, eine
       gerechte und nachhaltige Landnutzung zu planen.
       
       Wie wird Ihr Spiel bisher aufgenommen? 
       
       Bis jetzt wurde „Half Earth Socialism“ von etwa 80.000 Menschen gespielt!
       Das liegt wohl daran, dass das Spiel wissenschaftlich ist, ein ernsthaftes
       Problem behandelt und dennoch eine gehörige Portion Humor enthält. Auf der
       Onlineplattform Steam haben wir eine Bewertung von 9/10 Punkten erhalten.
       Das freut uns.
       
       Und wer soll es Ihrem Wunsch nach spielen? 
       
       Vor allem junge Menschen, die sich für die Umweltkrise interessieren und
       gerne Videospiele spielen. Lehrer:innen und Professor:innen können
       es auch als pädagogisches Mittel einsetzen, und älteren Menschen kann das
       Ausmaß der Umweltkrise nähergebracht werden.
       
       Den Menschen das Ausmaß der Umweltkrise näherbringen – haben Sie nun,
       einige Monate nach der Veröffentlichung von „Half Earth Socialism“, das
       Gefühl, dass Ihr Spiel diesem Anspruch gerecht wird? 
       
       Was mich am meisten berührt hat, war der Bericht einer Schulklasse, die
       nach dem Spiel erschüttert war darüber, dass die Kluft zwischen dem Status
       quo und dem, was getan werden muss, um eine nachhaltige, gerechte
       Gesellschaft zu schaffen, so groß ist. Es ist natürlich wichtig, das Ausmaß
       der Krise zu verstehen und anzuerkennen. Hoffentlich kann unser Spiel aber
       auch dazu beitragen, jungen Menschen utopisches Denken beizubringen. Sonst
       versinken sie in Verzweiflung. Wir müssen lernen, uns vorzustellen, wie wir
       in einer sozialistischen Gesellschaft leben können, die von quantitativer
       Knappheit, aber einem qualitativ höheren Lebensstandard gekennzeichnet ist.
       
       6 Nov 2022
       
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