# taz.de -- Geringe Beteiligung bei Sozialprotesten: Lauwarmer Herbst
       
       > Die Preise steigen, doch die Straßen bleiben leer. Verwunderlich, da vor
       > allem Großkonzerne von den gestiegenen Preisen profitieren.
       
 (IMG) Bild: Leider nicht soviele Teilnehmer:innen wie erwartet: Der „Herbst der Solidarität“ in Berlin
       
       Warum fühlt sich der viel beschworene „heiße Herbst“ der sozialen
       Bewegungen bis jetzt so lauwarm an? Obwohl die steigenden Mieten,
       Lebensmittel- und Energiepreise mittlerweile auch mittlere Einkommen in
       Existenzsorgen stürzt, lässt der öffentliche Aufschrei bislang auf sich
       warten. Die Teilnehmerzahlen auf den Demos und Kundgebungen in Berlin
       bislang war durchweg enttäuschend. Die Gewerkschaftsdemo des
       „[1][Solidarischen Herbstes“] brachte nicht einmal 5.000 der 20.000
       angekündigten Teilnehmer:innen auf die Straße.
       
       Bislang konnte nur die AfD die Krise nutzen, um eine [2][ernstzunehmende
       Masse an Leuten] zu mobilisieren. Doch selbst die rechten Montagsdemos, die
       sich nur auf den Osten beschränken, verlieren mittlerweile wieder an
       Dynamik. Inhaltlich thematisierte die AfD sowieso weniger die soziale
       Frage, als Rassismus und putinfreundliche Verschwörungstheorien.
       
       Über die Gründe [3][der linken Lethargie] lässt sich stundenlang
       spekulieren. Eine Ursache unter vielen ist sicherlich, dass die Inflation,
       ähnlich wie Corona, als eine von außen kommende Krise wahrgenommen wird,
       die man einfach aussitzen kann. Strom, Gas und Weizen werden teuer, weil
       durch Putins Krieg eine Knappheit entstanden ist, so die gängige Erzählung.
       
       Dabei werden die enormen Preissteigerungen nicht durch Knappheit
       verursacht, sondern vor allem durch Spekulation an den Märkten. Bereits die
       Aussicht darauf, dass die Rohstoffe in der Zukunft nicht ausreichen können,
       treibt die Preise auf den deregulierten Rohstoffmärkten in die Höhe. Neben
       Spekulanten profitieren von diesem Finanzkarussel multinationale
       Energiekonzerne, [4][die seit Beginn der Krise Milliardengewinne
       kassieren.]
       
       Der Aufschrei wäre sicherlich größer, wenn mehr Leuten bewusst wäre, dass
       die drei Euro mehr, die ich jetzt für den Döner zahlen muss, nach ein paar
       Umwegen Teil einer fetten Dividende ist, die dann wiederum in Immobilien
       reinvestiert wird und somit wiederum die Mieten erhöht.
       
       Welch absurde Blüten dieser spekulative Finanzkapitalismus treibt, lässt
       sich schon seit Langem in Berlin beobachten. [5][Komplett funktionale Wohn-
       und Bürogebäude werden abgerissen], weil Neubau noch etwas mehr Profit
       verspricht. Zerstört wird dabei günstiger Wohnraum und Gewerbefläche,
       geschaffen meist hochpreisige Luxuswohnungen, die in der Regel nicht als
       Wohnraum, sondern als Geldanlage dienen. Der Neubau ist nicht nur sinnlos,
       sondern verbraucht enorme Mengen an Ressourcen, bei deren Abbau tonnenweise
       CO2 freigesetzt wird. Derzeit gibt es [6][kaum begrenzte rechtliche Mittel]
       in Berlin, um diesem Spekulationstreiben Einhalt zu gebieten.
       
       Bei der Podiumsdiskussion [7][„Leerstand – Verfall – Abriss – Neubau –
       Profit: Was setzen wir dem entgegen?!“] sollen verschiedene Perspektiven
       auf das Thema diskutiert werden. Eingeladen ist der Aktivist [8][Tadzio
       Müller], die Präsidentin der Architektenkammer [9][Theresa Keilhacker],
       Stadtsoziologe Andrej Holm, sowie Khai Phung von dem Verein Watch Indonesia
       e.V., der über die dramatischen Folgen des Sandabbaus in Indonesien
       berichten wird (Mittwoch, 2. November, 19 Uhr, Kiezraum auf dem Dragoner
       Areal, Mehringdamm 20).
       
       Eine radikalere Deutung der sozialen Krisen will auch die Initiative
       [10][„der Preis ist heiß“], die seit letzten Freitag nun wöchentlich
       demonstrieren will. Neben einer grundlegenden Ablehnung des
       kapitalistischen Systems, bieten die Aktivist:innen ganz praktische
       Lösungsansätze: „Lasst uns solidarisch sein mit jeder Person die gegen
       diese weitere Krise ankämpft. Ob durch Ladendiebstahl, Schwarzfahren, dem
       Aufbau rebellischer Nachbarschaften mit solidarischen Netzwerken oder indem
       auf die Straße gegangen wird“, heißt es in den Aufruf (Freitag, 4.
       November, 18 Uhr, Hermannplatz).
       
       Wie sich vielleicht doch noch die Massen auf die Straße bringen lassen soll
       [11][am kommenden Dienstag im Baiz] diskutiert werden. Sind
       Protestbündnisse wie „Heizung, Brot und Frieden“ zu offen für
       Verschwörungstheoretiker:innen oder wird szenetypisch zu viel
       Spalterei betrieben? (Dienstag, 8. November, 19 Uhr, Schönhauser Allee 26
       A)
       
       So oder so heißt es dran bleiben und sich nicht entmutigen lassen. Den
       nächsten Versuch für eine ernstzunehmende linke Demo gibt es am 12.
       November. „Umverteilen“ heißt ein breites Bündnis aus Zivilgesellschaft und
       aktivistischen Initiativen (Montag, 12 November, 13 Uhr, Alexanderplatz).
       
       1 Nov 2022
       
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