# taz.de -- Übersetzerin von Annie Ernaux: Ihre Stimme auf Deutsch
       
       > Sonja Finck ist die deutsche Übersetzerin von Annie Ernaux. Dass die
       > Nobelpreisträgerin hier so viel gelesen wird, liegt auch an ihr. Ein
       > Porträt.
       
 (IMG) Bild: Annie Ernaux (r.) und ihre Übersetzerin Sonja Finck im August auf dem Literarischen Colloquium Berlin
       
       Vom [1][Nobelpreis für Annie Ernaux] erfuhr Sonja Finck, da war sie gerade
       auf dem Weg, ihre Patentochter von der Schule abzuholen. Sie habe das dann
       natürlich trotzdem gemacht, die Patentochter aber vor die Wahl stellen
       müssen: Statt Spielen und Eis essen Tante Sonja bei Radiointerviews
       zuschauen oder lieber gleich zurück nach Hause?
       
       Die Patentochter entschied sich für die Radiointerviews und schaute Finck
       über Stunden beim Live-on-Air-Sein zu, bis sie irgendwann nüchtern
       feststellte, dass die ja alle das Gleiche fragten. Wie Frau Ernaux so sei,
       was ihre Sprache ausmache, für Finck heute noch Champagner oder Crémant? –
       Scharfsinnig und unprätentiös; die Nüchternheit, die Pointiertheit;
       Crémant!
       
       Tatsächlich wurde es dann einfach Sekt, und zwar so gut wie alles, was sie
       davon in der Kreuzberger Kneipe Südblock vorrätig hatten. Dieser 6. Oktober
       war der Vortag ihrer Rückreise nach Kanada, sie hatte für den Abend sowieso
       all ihre Freund:innen eingeladen. Nun wurde es halt eine [2][Feier Annie
       Ernaux] und ihrer deutschen Übersetzerin zu Ehren.
       
       Sonja Finck ist 44 Jahre alt, aufgewachsen zwischen Ruhrgebiet und
       holländischer Grenze, heute lebt sie die Hälfte der Zeit mit ihrer Frau,
       einer Dolmetscherin, in Gatineau in der Provinz Québec, die andere Hälfte
       in einer seit vielen Jahren in selber Besetzung bestehenden Siebener-WG in
       Berlin am Schlesischen Tor. Bei unserem Gespräch auf Zoom trägt sie
       Kapuzenpulli und braucht hin und wieder einen Fisherman’s Friend, die
       Stimme ist seit einer Grippe noch nicht ganz wieder da.
       
       ## Auf der Zirkusschule in Toulouse
       
       Hätte ihre Liebe zu Sprache und Literatur sie nicht immer wieder dort
       eingeholt, wo es sie als junge Frau so hinverschlug, wäre Sonja Finck heute
       wahrscheinlich Artistin in Frankreich. Nach dem Abi ließ sie sich in
       Toulouse an einer Zirkusschule ausbilden und verdiente viele Jahre mit
       Jonglage ihr Geld. In Frankreich ist Zirkus eher Theaterkunst als Rummel,
       das gefiel ihr. Mit dem Jonglieren finanzierte sie sich später das
       Übersetzungsstudium an der Uni Düsseldorf.
       
       Das Gefühl für Rhythmus, Timing, Dramaturgie: Finck glaubt, dass es
       Überschneidungen gibt zwischen dem, was sie im Zirkus lernte und was es zum
       Übersetzen braucht. „Man denkt, das Schreiben, das Übersetzen ist nur
       geistige, verkopfte Arbeit, aber es hat meiner Meinung nach auch was
       Körperliches.“
       
       Ihre Diplomarbeit schrieb sie über die algerische Schriftstellerin Assia
       Djerbar und das in der Übersetzungslehre oft anvisierte Ziel der
       „Unsichtbarkeit“. Finck hält das für unrealistisch und nicht gänzlich
       erstrebenswert: Sie sei kein leeres Gefäß, durch das ein Text durchfließe,
       „ich bin ein Mensch mit eigener Geschichte“, individuellem
       Erfahrungsschatz.
       
       Wenn sie als deutsche Stimme Annie Ernaux’ bezeichnet wird, findet sie das
       nicht anmaßend oder abgedroschen, sondern zutreffend. Schließlich hat sie
       alles übersetzt, was zuletzt von Ernaux auf Deutsch erschien. Und gerade
       in „Die Jahre“ sei auch viel von Sonja Fincks sprachlicher Sozialisation,
       ihrer biografischen Prägung, „meinem In-der-Zeit-verankert-Sein“,
       eingeflossen.
       
       „Die Jahre“, das Buch, mit dem Ernaux 2017 in Deutschland endgültig
       populär wurde, ist ein Panorama der französischen Gesellschaft, eine
       Zeitreise von den Vierzigern bis 2006, Annie Ernaux reiht politisch,
       kulturelle und sportliche Ereignisse aneinander, betreibt ausführliches
       Namedropping prägender Persönlichkeiten Frankreichs.
       
       Dass das deutsche Publikum sich angesichts französischer Insider nicht
       ausgeschlossen fühlt, liegt vor allem an Sonja Finck. Elegant lässt sie
       hier und dort historischen Kontext und Minimalerklärungen einfließen, ohne,
       wie sie es sagt, „pädagogisch auszuarten“.
       
       Auf den ersten Seiten macht Ernaux anhand der Idiome ihrer Kindheit, ihrer
       Herkunft, eine Welt auf, „in der man“, wie es im Buch heißt „alles wörtlich
       nahm“. Sprüche, „weder geistreich noch lustig, sondern irritierend flach“,
       die der Erzählerin heute noch manchmal rausrutschen und letztlich das
       einzig Übriggebliebene dieses Familienlebens von damals sind.
       
       ## Die „syntaktische Ebene“
       
       „Lebensende mit drei Buchstaben: Ehe, Einbildung ist auch eine Bildung, zum
       Bleistift, erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.“ Dazu:
       rassistische Witze, sexistisches Zeug.
       
       Die deutsche Leserin liest an der Stelle, was Finck in den Achtzigern auf
       dem Schulhof so hörte, was der fiktive „betrunkene Onkel“ auf der
       Familienfeier von sich gegeben haben könnte, so manche noch aus den
       Fünfzigern stammenden Ausdrucksweisen ihrer Großmutter. Das sei natürlich
       hochindividuell. „Käme ich aus einer anderen Generation und wäre
       beispielsweise in Ostdeutschland geboren, würden allein die Schulhofwitze
       schon ganz anders klingen.“
       
       Ob sie mit ihren Entsprechungen den gleichen Effekt erzielt wie auf die
       französische Durchschnittsleserin, recherchiert sie in ihrem Umfeld. Sonja
       Finck ist in ihren Übersetzungen also ganz eindeutig anwesend, versucht
       aber, sich bestmöglich an die Umgebung anzupassen.
       
       Stil und Ton zu treffen sei natürlich das Allerwichtigste, aber dafür müsse
       es zuvorderst „auf syntaktischer Ebene stimmen“. Und die ist im
       Französischen nicht ganz so wie im Deutschen. Französ:innen bringen die
       Hauptinformation des Satzes gerne in der Mitte unter, Deutsche machen das
       am Ende. Finck muss also immer überlegen, welchen Effekt Ernaux mit ihrem
       Satz erzielen wollte und wie sich das übertragen lässt.
       
       ## Ernaux’ nüchterner Stil
       
       Mit Wort für Wort, so wie viele sich Übersetzen vorstellen, habe das nichts
       zu tun. Die deutsche Sprache habe außerdem wenig Toleranz für
       Verschwommenes und Vages, das klinge dann schnell kitschig und schlimm.
       Ernaux’ nüchterner Stil sei, was das angeht, also nicht so herausfordernd,
       dafür müsse aber jedes Wort sitzen.
       
       Sowieso arbeitet Sonja Finck mit autofiktionaler Literatur genauer. Ernaux
       nutzt in vielen ihrer Bücher private Fotos, mit deren Beschreibung sie ein
       neues Kapitel einleitet. Finck hat die meisten von ihnen in einem Ordner
       auf ihrem Laptop, Ernaux schickt sie ihr.
       
       Sie müsse die Bilder mit eigenen Augen sehen, weil die Adjektive der
       Autorin allein oft nicht reichten. Gerade wenn Worte verschiedene
       Bedeutungen haben, müsse Finck für sich selbst entscheiden, ob Ernaux
       „matt“ oder „düster“ meine, oder ob die Mutter am Ufer der Seine auf einer
       Bank oder einer Picknickdecke sitze.
       
       Beim Übersetzen ist sie ständig über Google Street View in Lillebonne,
       Yvetot oder Rouen unterwegs, geht Ernaux’ Schulwege ab, schaut sich an, wie
       die Pflastersteine beschaffen oder die Fenster an der Fassade des Hauses
       ihrer Kindheit angeordnet sind. Wenn sie einen Ausdruck einfach nicht zu
       fassen kriegt, Ungenauigkeiten sich nicht ausräumen lassen, schickt sie
       Ernaux Fragelisten, die die Autorin schnell und gründlich beantwortet.
       
       Finck und Ernaux sind sich schon oft begegnet, saßen auf Literaturfestivals
       und Lesungen gemeinsam auf Bühnen. 2019, als Sonja Finck für das Gesamtwerk
       ihrer französischen Übersetzungen mit dem Eugen-Helmlé-Preis ausgezeichnet
       wurde, reiste Ernaux für die Preisverleihung an. Sie wisse das Leben zu
       leben und man könne sich fantastisch mit ihr unterhalten, sagt Sonja Finck.
       
       Mittlerweile übersetzt sie auch Édouard Louis, dessen literarische
       Auseinandersetzungen mit Armut und seinem Aufstieg ins bürgerliche Milieu
       denen Ernaux’ ähnelt. Finck freut, dass das Thema Klassismus in der
       Literatur aktuell so einen Boom erfährt, sie habe das Gefühl, da werde
       etwas aufgebrochen.
       
       Dadurch, dass Finck die Hälfte der Zeit an einem Ort lebt, an dem
       Autor:innen wirken, die man in Deutschland nicht unbedingt auf dem
       Zettel hat, ist sie Literaturvermittlerin auf mehreren Ebenen. Sie
       übersetzt nicht nur, sondern entdeckt immer wieder auch Werke, die den
       deutschen Markt ihrer Meinung nach bereichern würde. Also eine Art
       Literaturagentin, „aber ohne mich dafür bezahlen zu lassen“.
       
       ## Lieber Rosinen rauspicken als Literaturagentin
       
       Es sei schon vorgekommen, dass Québecer Verlage sie in dieser Funktion
       engagieren wollten, aber dann würde sie ja das gesamte Sortiment vertreten
       müssen. „Lieber picke ich mir die Rosinen raus, von denen ich dann in
       Deutschland wirklich authentisch begeistert berichte.“
       
       Eine dieser Rosinen brachte sie zu Annie Ernaux: Weil es Finck gelang, eine
       Übersetzung der kanadischen Schriftstellerin Jocelyne Saucier bei Suhrkamp
       unterzubringen, kam sie für die Französin ins Gespräch.
       
       Immer häufiger übersetzt Finck auch indigene Autor:innen, deren Literatur
       in Kanada aus kolonialistischen Gründen noch recht jung ist. In Kanada sei
       die Geschichtsaufarbeitung und der gegenwärtige gesellschaftliche Umgang
       mit indigenen Menschen natürlich ein Riesenthema, „in Deutschland hört man
       nur mal was, wenn wieder ein Massengrab an einem ehemaligen Internat
       gefunden wurde“.
       
       Sie fragt sich, wie vorherrschend die Karl-May-Klischees in den Köpfen
       immer noch sind, und ist sicher, dass kanadische Literatur sich sehr gut
       anbietet, um da einige Modernisierungen vorzunehmen.
       
       Vor ein paar Wochen hat sie „Der junge Mann“ abgeschlossen, Annie Ernaux’
       im Frühjahr erscheinendes Buch über das Verhältnis einer Frau Mitte 50 mit
       einem jungen Studenten. Viele große Themen auf nur 47 Seiten, die laut
       Finck ganz besonders zeigten, dass Ernaux eine Meisterin der sprachlichen
       Verdichtung sei. Dass diese Verdichtung auch im Deutschen nicht erdrückt,
       schafft Sonja Finck.
       
       10 Dec 2022
       
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