# taz.de -- Prozess gegen ehemalige KZ-Sekretärin: Urteil nach 40 Verhandlungstagen
       
       > Das Verfahren gegen eine KZ-Zivilangestellte in Deutschland endet mit
       > einem Schuldspruch: Die 97-Jährige habe Beihilfe zum Mord in über 10.000
       > Fällen geleistet.
       
 (IMG) Bild: Die Angeklagte im Gerichtssaal nach der Urteilsverkündung
       
       BERLIN taz | Die Angeklagte wollte nichts gesehen, nichts gehört und nichts
       gerochen haben. Das Landgericht Itzehoe glaubte der [1][ehemaligen
       Stenotypistin im KZ Stutthof, Irmgard F.], aber nicht. Die Jugendkammer
       sprach die 97-Jährige am Dienstag der Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen
       sowie der Beihilfe zum versuchten Mord in fünf Fällen schuldig.
       
       Die damals 18- beziehungsweise 19-Jährige habe von Juni 1943 bis April 1945
       die „organisierten Tötungsabläufe“ durch ihre Schreibtätigkeit und durch
       ihre Niederschrift der Kommandanturbefehle unterstützt. Auf dem Weg zur
       Kommandantur und durch die Fenster ihrer Dienststelle im ersten Stock könne
       der Angeklagten nicht verborgen geblieben sein, was im Konzentrationslager
       in der Nähe von Danzig – dem heutigen Gdańsk in Polen – geschah. „Der
       Geruch von Leichen war allgegenwärtig“, so der Vorsitzende Richter, Dominik
       Groß.
       
       Mit dem Urteil endet nach 40 Verhandlungstagen das erste Verfahren gegen
       eine frühere KZ-Zivilangestellte in der Bundesrepublik. Am
       Dienstagvormittag saß F., wie so oft, mit Mütze und Jacke im Rollstuhl auf
       der Anklagebank im provisorischen Verhandlungssaal auf dem Gelände des
       China Logistic Center in Itzehoe. Sie nahm das Strafmaß – eine Jugendstrafe
       von zwei Jahren Haft auf Bewährung – regungslos zur Kenntnis. Mit dem
       Urteil folgt das Gericht der Forderung der Staatsanwaltschaft. Die
       Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert.
       
       ## Sie hätte jederzeit die Dienststelle verlassen können
       
       Das Gericht rechnete F. an, sich nicht dem 15 Monate laufenden Verfahren
       entzogen zu haben. Dabei war der Prozess mit einem Aufreger gestartet: Am
       ersten [2][Verhandlungstag floh die Angeklagte] frühmorgens [3][aus ihrem
       Seniorenheim in Quickborn.] Die Polizei griff sie Stunden später in Hamburg
       auf. Das Gericht erließ einen Haftbefehl. Im Verfahren zeigte sie erst
       gegen Ende [4][ein wenig Bedauern:] „Es tut mir leid, was alles geschehen
       ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich
       nicht sagen.“ Sie ließ offen, ob sie das Leid und den Tod der Inhaftierten
       bereut oder ihre späte Verfolgung durch die Behörden.
       
       Irmgard F. war am Ende der NS-Zeit Zivilangestellte in der Kommandantur um
       den KZ-Kommandanten Paul Werner Hoppe und hatte dafür
       Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnet. Sie hätte aber jederzeit ohne
       Nachteile die Dienststelle verlassen können, betonte Richter Dominik Groß
       und legte nahe, dass zwischen F. und ihrem Vorgesetzten ein
       beruflich-loyales Vertrauensverhältnis bestanden habe. So begleitete sie
       ihn auch bei späteren Einsätzen. Während seiner Flucht in den Jahren 1948
       und 1949 kreuzte Hoppe sogar bei F. in Schleswig auf – im Wissen, nicht
       verraten zu werden. Der historische Sachverständige Stefan Hördler hatte
       auf den Besuch hingewiesen.
       
       Seit Beginn des Prozesses im September 2021 hat das Gericht 8 der zeitweise
       31 Nebenkläger angehört, meist über eine Videoverbindung in die USA, nach
       Israel oder Polen. Sechs Nebenkläger*innen verstarben während des
       Verfahrens. Josef Salomonovic konnte noch berichten. Der Überlebende war
       zur Verhandlung gekommen, um das Grauen zu schildern. Sein Vater Erich
       wurde 1944 im KZ Stutthof hingerichtet.
       
       „Apokalypse“ nannte Richter Groß die gezielten Tötungen, die katastrophalen
       Lebensbedingungen und die Todesmärsche. Er könne nicht einschätzen, ob die
       Angeklagte dem Morden gleichgültig zusah oder es aus rassistischer
       Gesinnung unterstützte.
       
       Die Nebenklage blickt mit gemischten Gefühlen auf das Urteil: Anwalt
       Christoph Rückel, Vertreter von sechs Überlebenden, meinte, dass die
       Bewährungsstrafe ein „falsches Signal“ sei. Sein Kollege Stefan Lode, der
       drei Nebenkläger vertrat, sagte hingegen: „Für die Überlebenden ist es ein
       wichtiges Signal, dass deren Leid gewürdigt wird.“ Ähnlich sieht es
       Nebenklage-Anwalt Hans-Jürgen Förster. Er betonte, dass der Schuldspruch
       entscheidend sei: „Mehr kann staatliches Strafrecht inhaltlich nicht
       leisten.“
       
       20 Dec 2022
       
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