# taz.de -- Eine Geschichte von Wolfgang Welt: Die Eine
       
       > Am 31. Dezember wäre der Schriftsteller Wolfgang Welt 70 geworden. Aus
       > seinem Nachlass drucken wir diese bisher unveröffentlichte Geschichte ab.
       
 (IMG) Bild: Wolfgang Welts Blick von der Mansarde, Mitte der 1970er Jahre
       
       In der Nacht, in der ich geboren wurde, war mein Vater besoffen, wie so oft
       davor & danach. Meine Mutter sollte sich nie damit abfinden, daß er trank
       und wußte auch nicht, warum er immer wieder, noch weitere 25 Jahre, zu tief
       ins Glas schaute, allerdings nicht zu Hause, sondern immer in Wirtschaften.
       Er brauchte für seine Saufereien Gesellschaft. Wenn er dann eintorkelte,
       stänkerte er meist rum, vergriff sich aber nie an seinen Kindern und ich
       glaub, auch anschließend, wenn wir ihn ins Bett bugsiert hatten, ließ er
       unsere Mutter in Ruhe. Manchmal nahm sie mich mit ins Schlafzimmer, auch
       wenn er nüchtern war, vielleicht als eine Art Bollwerk. Ich legte mich in
       die Bettritze und atmete tief den Schweiß ihrer Achseln ein.
       
       Sie sagte später, sie hätte mich nicht erziehen müssen, ich hätte es selbst
       getan. Ich sah ihr in die Augen und wußte, was richtig war. Manchmal sah
       sie mich schräg an, und ich wußte, ich hatte was falsch gemacht.
       
       Sie schickte mich vor lauter Anhänglichkeit nicht in den Kindergarten. Sie
       hatte schon meinen Bruder an die Schule verloren. Mein bester Freund war
       Hörstken Lange. Der ging auch nicht hin. Bei gutem Wetter spielten wir
       draußen bei ihm oder mir im Hof. Wir brachten uns die ersten Tritte mit dem
       Fußball bei. Er wurde später bei [1][Langendreer] Linksaußen, schaffte aber
       nach der Jugend nicht den Sprung in die erste Mannschaft.
       
       ## Senta stieß mich auf die Asche
       
       An einem Sonntag, als ich vier war, ging ich zu einem anderen
       Nachbarjungen, dessen Eltern anders als meine über ein eigenes Haus
       verfügten. Das Besondere daran war ein gläserner Zwinger unter dem Balkon.
       Heinrichs besaßen eine Schäferhündin, und als ich in der Einfahrt auf die
       Haustür zuging, kam der Köter um die Ecke gefegt und schnaubte auf mich zu.
       Ich erschrak fürchterlich, vielleicht blieb mein Herz stehen. Ehe ich mich
       versah, hatte mich Senta auf die Asche gestoßen und den linken Arm fast
       durchgebissen. Damals war kaum jemand motorisiert, und Telefon gab’s auch
       nur selten. So lud mich Herr Heinrich auf den Roller seines Sohnes, fuhr
       die Westheide runter und an der Vorderseite unserer Wohnung vorbei, ohne
       meinen Eltern von dem Zwischenfall zu berichten. Meine Mutter sah gerade im
       Eschweg aus dem Fenster und wunderte sich über die Situation.
       
       Herr Heinrich steuerte die kurze Gerichtsstraße runter, die auf die
       Stiftstraße führte, wo der Hautarzt Dr. Bürk, der auch ein bekannter
       Taubenvater war, seine Praxis hatte. Ich verstand nicht, was die beiden
       berieten. Der Arzt klebte mir ein großes Pflaster auf die klaffende Wunde
       am Unterarm. Auch Dr. Bürk rief keinen Krankenwagen. So fuhren wir weiter
       auf dem Roller zum nahen Knappschaftskrankenhaus, wo meine Mutter von mir
       entbunden worden war. Eilig wurde ich in ein Zimmer geführt und hingelegt,
       wahrscheinlich war’s ein OP. Jemand in Weiß versetzte mich in Narkose. Ich
       bekam nicht mit, wie man mich nähte.
       
       Als ich aufwachte, war mein ganzer linker Arm verbunden. Eine Schwester bot
       mir eine Apfelsine an, aber ich lehnte kopfschüttelnd ab. Sie behielten
       mich nicht da. Dann fuhren wir mit dem Roller zurück. Herr Heinrich kaufte
       mir an der Selterbude in der Schornau eine Tafel Schokolade, die ich
       annahm, und brachte mich zu meiner entsetzten Mutter nach Hause. Mein Vater
       war wohl wie üblich an diesem Sonntagnachmittag auf dem Sportplatz. Ich
       weiß nicht, was meine Mutter mit dem Hundehalter besprach. Vielleicht hat
       sie mich zur Ablenkung vor den Fernseher gesetzt, den wir damals schon, als
       Erste im Eschweg, besaßen.
       
       ## Es ging gut dank meiner Lügerei
       
       Natürlich las mir meine Mutter in den nächsten Tagen noch mehr Wünsche von
       den Lippen ab. Doch eigentlich war ich immer recht genügsam. Dann
       trichterte sie mir ein paar Tage später ein, als wir zum Fädenziehen ins
       Krankenhaus mußten, ich sollte auf den Namen Detlef Heinrich hören, wenn er
       aufgerufen würde. Ich wußte nicht, was dahintersteckte. Aber Herr Heinrich
       ging mit uns, und es war wohl so, daß er mich aus Versicherungsgründen als
       seinen Sohn ausgab, und es ging auch gut dank meiner Lügerei. Es gab keine
       Scherereien wegen des bissigen Hundes, und meine Eltern waren auch nicht
       die Leute, die wegen so was jemanden verklagt hätten.
       
       Als rund dreißig Jahre später meine Schwester in die Westheide zog, wohnte
       da um die Ecke immer noch die Familie Heinrich. Und als Gabi mit ihnen ins
       Gespräch kam und ihren Mädchennamen nannte, sprudelte aus Herrn Heinrich
       sofort die alte Geschichte von 1957 heraus und er fragte, ob noch was
       nachgekommen sei. Das war nicht der Fall.
       
       Nur fragte ich mich [2][zu der Zeit, als ich mich verfolgt fühlte], ob man
       mir damals in den fünfziger Jahren, als es mit dem Sputnik losging, was in
       meinen linken Arm eingepflanzt hatte, wahrscheinlich einen Sender, so wie
       später, als ich mir beim Polterabend von Otto Tetzels Tochter mit einer
       abgebrochenen Flasche ins Knie geritzt hatte und ich genäht werden mußte,
       wie auch 1972, als ich in der Kneipe vom Adolf Laupitz nachts eine Treppe
       runterfiel und mit dem Kopf gegen den Heizkörper knallte. Auch damals wurde
       ich im noch alten Knappschaftskrankenhaus behandelt. Die Eltern meines
       Vaters waren schon lange tot. Sein Vater war nach einer schweren
       Schlagwetterexplosion auf der Zeche Bruchstraße elendig verreckt. Seine
       Witwe starb kurz nach dem Krieg an Krebs. Meine Mutter hatte sie in den
       letzten Wochen, die ihre Schwiegermutter nur mit starken Dosen Morphium
       durchstand, aufopferungsvoll gepflegt.
       
       ## Er strullte auf die Ausziehcouch
       
       Nach ihrem Tod zogen meines Vaters Bruder Helmut und die Schwester Helga in
       unsere kleine Wohnung. Helga, die noch blutjung war und ihr Leben nie in
       den Griff bekommen sollte und wohl auch heute, fünfzig Jahre später, noch
       nicht hat, zog bald wieder zur Tante Marie, einer Schwester ihrer Mutter,
       die alle nur „die Tante“ nannten. Hier machte sich auch ein Flüchtling aus
       dem Osten breit, dem sie schnell verfiel, Heinz, ein gut aussehender
       Chemnitzer, der sie aber bald hinterging. Sie blieben aber noch jahrelang
       zusammen, bis sich herausstellte, daß eine andere Frau in Witten zwei
       Kinder von ihm hatte.
       
       Länger als sie wohnte Onkel Helmut als Kostgänger bei uns am Eschweg. Er
       war ein paar Jahre jünger als mein Vater. Auch er soff viel, wie die
       meisten Püttleute, und strullte öfter nachts auf die anthrazitfarbene
       Ausziehcouch, die meine Mutter immer stillschweigend trockenlegte. Einmal,
       als es ihr doch zu viel war, verlangte sie fünf Mark von ihm, aber auch nur
       einmal. Wahrscheinlich war Onkel Helmut wie fast jeden Sonntag mit meinem
       Bruder Heinz-Jürgen, der später den „Heinz“ fallen ließ, in der
       Nachmittagsvorstellung der Lichtburg am Alten Bahnhof, um einen Zorro- oder
       Fuzzy-Film anzusehen, als ich von dem Schäferhund niedergestreckt wurde.
       Kurz darauf machte er mit dem SV Langendreer, bei dem mein Vater Kassierer
       war, einen Ausflug ins Sauerland und verliebte sich an diesem Wochenende in
       eine Schönheit aus der Gegend um Olpe.
       
       31 Dec 2022
       
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