# taz.de -- Wolfgang Welt neu aufgelegt: Der Kritiker als Chef im Ring
       
       > Wolfgang Welt war großer Gonzo-Reporter und Ruhrpottchronist. Nun ist
       > eine zweibändige Edition mit seinen Texten erschienen.
       
 (IMG) Bild: Wolfgang Welt in der Pförtnerloge des Schauspielhauses Bochum
       
       Wolfgang Welt hinterließ sofort einen bleibenden Eindruck. 1983, im
       April-Heft des Musikexpress, erschien seine Sammelbesprechung zweier
       Hardrock-Alben von UFO und Krokus. „Nach Anhören der
       Möchtegernschwermetaller UFO habe ich Blei in den Füßen“, schimpft er.
       „Wenn dieser verdammte Sänger Phil Mogg doch nur ein Körnchen Gold in der
       Stimme hätte – ich ließe mit mir handeln! Wenn Michael Schenker noch bei
       UFO der Rettungsanker wäre, ich hätte mir ‚Mechanix‘ zweimal angehört! Aber
       am liebsten hätte ich mit einem Vorschlaghammer dieses Rund auf einem
       Amboss zertrümmert, als ich hörte, wie die sich an Eddie Cochrans,Somethin’
       Else' vergriffen. UFO konnten (nicht nur) meines Erachtens noch nie was und
       werden nie in die Erste Bundesliga kommen. Untalentiert geboren
       und,Mechanix‘ dazugelernt!“
       
       Ich weiß noch genau, wie angefixt ich davon war. Seine unbekümmerte
       Großmäuligkeit war meiner intellektuellen Disposition damals offenbar
       gemäß. Loben konnte er aber auch ganz gut, wie der zweite Teil der Kritik
       zeigt, der Krokus mit warmen und wahren Worten bedenkt, die er dann aber am
       Ende doch ein wenig einschränkt. Ihr Album „One Vice at a Time“ reiche nur
       leider „nicht an die Klasse der schlechtesten Nummern von Motörhead ran“,
       konzediert er. Denn: „Irgendwie fehlt doch zum perfekten Heavy-Metal-Genuss
       noch ein Quäntchen mehr Lasterhaftes und die Untugend der Selbstironie.“
       Das war schon fast ein Aphorismus.
       
       Es spielte überhaupt keine Rolle, ob man seinem Urteil nun zustimmte oder
       nicht. Die Haltung war relevanter. Hier gab einer den Respekt vor den
       Rockstars auf und machte, wie Lester Bangs vor ihm, den Kritiker zum
       eigentlichen Chef im Ring. Eine Weile durfte Welt immerhin seine
       Frechheiten unter die Leute bringen, in den Ruhrpott-Zeitschriften Marabo
       und Überblick vor allem, bald aber auch im Musikexpress und in Rowohlts
       „Rock Session“. Zum Verdruss von Heinz Rudolf Kunze, Grönemeyer,
       Westernhagen und vielen anderen.
       
       Aber er will mehr, den großen Roman, und während er von Interview zu
       Interview, von Konzert zu Konzert hetzt, manisch Platten- und
       Buchbesprechungen raushaut, immer am Limit und kurz vor Redaktionsschluss,
       fängt er sich wohl infolge der mentalen Überforderung eine „schizophrene
       Psychose“ ein und wird in die geschlossene psychiatrische Abteilung
       eingeliefert.
       
       ## Mittelpunkt des Universums
       
       In einigen Texten scheint sich die Krankheit schon anzukündigen. Was man
       als ironisch verspielten Größenwahn lesen kann, sind vielleicht bereits
       Ausläufer eines schizophrenen Beziehungszaubers. So stenografiert er in
       einer wirr-egozentrischen Amsterdam-Reportage alles mit, was ihm durch die
       Rübe rauscht, gezwungenermaßen, denn für sein Interview mit Lou Reed kommt
       er einen Tag zu spät, er steht also ohne Story da.
       
       Aber diese Situation enthemmt ihn auch. Endlich ist er nicht mehr nur der
       Kritiker, der mehr oder weniger freche Fragen stellen darf, sondern selbst
       der Mittelpunkt des Universums. Alles um ihn herum scheint bereits einen
       verborgenen Sinn zu haben und sich geheimnisvoll auf ihn zu beziehen.
       
       „Warum war ich eigentlich in Amsterdam gewesen? Ach ja, wegen Lou Reed …
       Wir schreiben noch immer den 26. Februar 82. Mein Kollege und Guru
       Hermann Lenz wird heute 69 in Schwabing. Er bezeichnete mich schon vor
       Jahren als Wilhelm Meister. Ich habe zwei Bekannte, die Charlotte heißen,
       eine andere wurde Manon getauft. Wir schreiben das Goethe- und
       James-Joyce-Jahr. Und das Jahr der Wiedergeburt von Lou Reed.“ Zwölf Monate
       später hält er sich für J. R. und wähnt ein Filmteam auf seinen Fersen, das
       die letzte „Dallas“-Folge in Echtzeit dreht.
       
       [1][Martin Willems, Welts Freund, Motivator und zuletzt fast schon sein
       Sekretär, hat vor gut einem Jahr in Düsseldorf eine unbedingt sehenswerte
       Welt-Ausstellung kuratier]t, in der man einen schönen Überblick bekam über
       Leben und Werk des „Universaldilettanten“, wie er sich selbst gern
       bezeichnete. Sie hatte nur einen Fehler: Es gab keinen Katalog.
       
       Willems begleicht jetzt seine Schulden und macht einiges Bildmaterial
       wieder zugänglich in seiner zweibändigen WoW-Edition, die cum grano salis
       das Gesamtwerk mit Ausnahme der Romane enthält. Die literarischen und
       literaturkritischen Texte in einem Band, die Musiktexte im anderen. Die
       Grenzen sind allerdings fließend. Im Amsterdam-Bewusstseinsstenogramm „Wie
       der Lou Reed den lachenden Vagabunden nicht traf“ aus dem Musikband „Kein
       Schlaf bis Hammersmith“ versteht er sich schon voll und ganz als Literat.
       Und was für einer.
       
       ## automatic-writing
       
       „Neulich sagte Wolfgang Körner (,Drogen-Reader') nach der Lektüre meines
       ersten im automatic-writing-Verfahren in sieben Stunden hingekloppten
       Prosatextes, der in einer Anthologie im November 81 erscheinen sollte und
       in Druck ist:,Du bist der größte Schriftsteller nach James Joyce!‘ – Ich
       antwortete ihm bitterböse:,Du spinnst wohl! Wieso nach?' –,Ich mein ja nur:
       Der ist ja schon tot.‘“
       
       Der Herausgeber versammelt neben den fast schon legendären Reportagestorys
       „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ oder „Kalter Bauer in Bochum“ viele an
       entlegener Stelle gedruckte oder sogar noch ungedruckte Storys, Skizzen,
       Feuilletons. Eben auch die Texte, die nach dem ersten Auswahlband mit
       vermischten Schriften, [2][„Ich schrieb mich verrückt“] (2012), bis zu
       Welts Tod 2016 erschienen sind. „Die Pannschüppe“ etwa, den leider Fragment
       gebliebenen Roman über Welts Bochumer Kindheit, aber auch andere
       Manuskripte aus dem Nachlass, in denen er sich während seines
       Psychiatrie-Aufenthalts für den ersten Roman warmschreibt.
       
       Der Literaturarchivar Willems hat tief gegraben und tatsächlich noch
       einiges gefunden. Welts Spaziergang „Der lange Weg von der Wilhelmshöhe zum
       Schauspielhaus“ etwa, einen schön traurigen Abgesang auf seine alte
       Wirkungsstätte, offenbar geschrieben in dem Wissen, dass ihm selbst nicht
       mehr viel Zeit bleibt. „Wenn ich den Feldweg verlasse, laufe ich direkt auf
       die Hauptstraße 51 zu, das Haus, in dem ich fast fünfzig Jahre gewohnt
       hatte, bis mich missliche Umstände, vor allem der Tod meiner Mutter,
       vertrieben. Ich gehe noch einmal, vielleicht ein letztes Mal, über die
       Wilhelmshöhe.“
       
       Er erinnert sich an alte Mannschaftskameraden, einige sind schon
       verstorben. „Wann bin ich dran? Mein Bus fährt, ich muss zur Arbeit.“
       
       Bis zu seinem Tod hat er als Nachtwächter im Bochumer Schauspielhaus Dienst
       geschoben, weil er von seiner Kunst nie leben konnte. Das lag an seiner
       Psychose, aber auch an seinem proletarischen Habitus. Er hätte sich
       anpassen müssen, um im Literaturbetrieb eine Rolle zu spielen oder auch nur
       einmal ein Stipendium zu bekommen. Er blieb lieber er selbst und schrieb
       eine ironische Petition in eigener Sache: „Geben Sie mir den
       Peter-Weiss-Preis, Frau Dr. Canaris!“
       
       ## Jede Nacht Betrieb in der Kantine
       
       Er habe gedacht, beklagt sich Welt bitter, er könne „während Haußmanns
       Intendanz eine ruhige Kugel schieben, aber Pustekuchen. Bis vier, fünf Uhr
       ist jede Nacht Betrieb in der Kantine, und ich muss Eindringlinge abwehren,
       die da auch billiges Bier saufen wollen. Ich hab jedenfalls die ganze Zeit
       keine Ruhe, schon gar nicht zum Schreiben. In der letzten Stunde muss ich
       noch einen Rundgang machen, bei dem ich nicht selten in Haußmanns Büro den
       Flipper und den Sender VIVA im Fernsehen ausschalten muss. Kurzum: Ich
       krieg den Roman so nicht auf die Reihe. Nun müssen Sie einspringen. Sie
       verleihen doch als Kulturdezernentin alle zwei Jahre den Peter-Weiss-Preis.
       Ich glaube, diesmal habe ich ihn verdient, weil ich mich als Künstler mehr
       als die bisherigen Preisträger um Bochum gekümmert habe.“
       
       Er bekam ihn natürlich nicht. Da konnte er noch so recht haben.
       
       5 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Pionier-der-Popliteratur/!5531147
 (DIR) [2] /Archiv-Suche/!526567&s=Wolfgang+Welt+Ich+schrieb+mich+verr%C3%BCckt&SuchRahmen=Print/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Frank Schäfer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Literatur
 (DIR) Rezension
 (DIR) Nachlass
 (DIR) Musik
 (DIR) Rock
 (DIR) Kritik
 (DIR) Pop-Literatur
 (DIR) Kulturgeschichte
 (DIR) Literatur
 (DIR) Pop-Kultur
 (DIR) Fotografie
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Eine Geschichte von Wolfgang Welt: Die Eine
       
       Am 31. Dezember wäre der Schriftsteller Wolfgang Welt 70 geworden. Aus
       seinem Nachlass drucken wir diese bisher unveröffentlichte Geschichte ab.
       
 (DIR) Blick zurück auf den Flipper: Same player shoots again
       
       Flipperautomaten gehörten früher in jede Kneipe und haben Kulturgeschichte
       geschrieben. Wir erinnern an eine verblasste Zeit.
       
 (DIR) Literatur-Liste von David Bowie: Des Strauchdiebs liebste Bücher
       
       Der britische Sänger David Bowie erstellte drei Jahre vor seinem Tod eine
       Liste seiner wichtigsten Lektüren. Diese ist mehr als eine
       Selbstbeweihräucherung.
       
 (DIR) Ausstellung zu Kunst und Musik: Mit Baxxter ins Berghain
       
       Kunst und Musik und was sie miteinander zu tun haben: Die Ausstellung
       „Hyper!“ vermeidet erfreulich viele Klischees.
       
 (DIR) Vermessung der Lüneburger Heide: Landschaft mit Dichter
       
       Auf den Spuren von Arno Schmidt und Walter Kempowski sind ein
       Schriftsteller und ein Fotograf durch die Heide gewandert. Das Ergebnis ist
       ein Wandertagebuch