# taz.de -- Die Wahrheit: Weltuntergang fällt wieder aus
       
       > So wird 2023 oder so ähnlich: Die Ampel trickst, die Rolle rückwärts
       > kommt plus Zeit für tolle Hobbys! Der Wahrheit-Jahresausblick.
       
       Das Jahr, an dessen Schwelle wir gerade stehen, birgt einige faustdicke
       Überraschungen in sich. Sie laufen unseren Erwartungen krass zuwider: Der
       von der Hälfte der Menschheit freudig angekündigte und von der anderen
       Hälfte ersehnte Weltuntergang lässt zum Beispiel weiter auf sich warten.
       Weder wird also alles blitzartig mit einem Knall enden, noch quälend
       langsam mit einem Wimmern, sondern erst einmal „irgendwie so“ weitergehen.
       
       Das bedeutet zwar, dass jede Hoffnung auf Erlösung und Entlastung vergebens
       ist, ganz zu schweigen von der Aussicht auf Weltfrieden oder wenigstens auf
       eine Preisbremse für Grundnahrungsmittel. Dafür wird aber wieder viel Zeit
       sein für erfüllende Hobbys, lange Spaziergange und Qualitätszeit vor dem
       Fernseher.
       
       Großteils liegt das daran, dass Corona auch 2023 nicht ganz verschwunden
       sein wird. Ein entspanntes Jahr voller bezaubernder Begegnungen in Freizeit
       wie Berufsleben und damit quasi eine Rückkehr in die Zeit vor 2020 ist wohl
       unmöglich. Wo immer Menschen zusammentreffen, werden sie immer noch nicht
       ihre Köpfe zusammenstecken können, ohne dass das Damoklesschwert der
       Infektion über ihnen hängen und als Virus in ihre Körper fahren wird
       können. In Kneipen, Clubs und Wartezimmern darf also keineswegs aufgeatmet
       werden.
       
       Nachdem flächendeckende Impfungen und abnehmende Symptomschwere der Seuche
       jedoch ihre gröbsten Stachel gezogen haben, kann es allerdings sein, dass
       das Virus im Laufe des Jahres heftig mutiert, die Richtung wechselt und zu
       einem Heilmittel für viele andere Krankheiten wird. Die Menschen werden
       sich also bei aller Bettlägrigkeit freuen, dass eine Folgeansteckung nach
       der anderen inzwischen zum Regelfall geworden ist und sich begeistert immer
       wieder neu gegenseitig infizieren. Und das Tollste: Wer es überlebt,
       kuriert mit der achtundvierzigsten Erkrankung nicht nur Mumps und Cholera,
       sondern eventuell sogar sämtliche Long-Covid-Beschwerden!
       
       ## Scheiternde Invasoren
       
       Doch wie geht es denn eigentlich in der Ukraine weiter? Gemischt!
       Jedenfalls kommt es nicht zu einem grandiosen Sieg der ukrainischen
       Truppen; andererseits scheitern die russischen Invasoren bei ihrem
       Eroberungsfeldzug völlig. In der Folge wird ein langer, zäher
       Stellungskrieg zu erleben sein, der sich gewaschen hat – in Blut.
       
       Zwar ist die russische Armee „nur noch“ in der Lage, die ukrainische
       Zivilbevölkerung zu malträtieren, aber für Friedensverhandlungen ist Putin
       zu eitel und für Zugeständnisse und Gebietsrückgaben schon zu schwach.
       Vorformen von Diplomatie sind also erst 2024 zu erwarten, wenn im Kreml
       offene Machtkämpfe ausbrechen.
       
       Aus diesem Grund sind auch Energiekrise und Inflation nicht so schnell
       erledigt. Da sich im restlichen Winter notgedrungen besonders die
       einkommensschwachen Schichten mit Stromsparen und Heizungsverzicht
       hervortun, kann die fatale Abhängigkeit von russischem Gas und Öl
       überwunden und zu einem Teil durch die Abhängigkeit von kleineren
       Diktaturen ersetzt werden. Da die Lieferkettenprobleme aber auch etwas
       verdienen wollen, erhöhen sich die Lebenshaltungskosten weiterhin.
       Sicherlich nichts zu hören sein wird 2023 deshalb von einer „Entwarnung an
       der Preissteigerungsfront“ oder „massiven Preissenkungen auf allen Ebenen“.
       
       Die Frage ist ohnehin eher, ob und wie von der Union unter Merz, der AfD
       und Teilen der FDP geplant, allein die Klimarebellen der Letzten Generation
       für diese Entwicklung verantwortlich gemacht werden können und ob der
       Faschismus schon Ende des Jahres kommt.
       
       Apropos: Nachdem eben erst ein Rekordsommer herrschte, wird 2023 darauf
       verzichtet. Stattdessen werden Nieselregen im August und Schneestürme im
       September die Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugen, dass der
       Klimawandel erst einmal ausfällt und wir sogar noch zusätzlich Kohlendioxid
       in die Atmosphäre pusten müssen, um mit den konkurrierenden
       Industrienationen mitzuhalten.
       
       ## Überholende Regierung
       
       Die Ampelregierung kackt dabei nicht, wie eigentlich erwartet, komplett ab,
       sondern kann wieder Fuß fassen. Ihr Trick: Sie überholt die Opposition
       rechts, appelliert einzig an niederste Instinkte und schießt sich auf
       Arbeitslose und Bürgergeldempfänger ein, da sie gesehen hat, wie gut
       das der CDU/CSU tut. Der Fußball, der davon ein wenig ablenken soll, wird
       allerdings abermalig nicht weniger kommerziell und so, wie die Fans ihn
       haben wollen, sondern im Gegenteil: Dauerkarten werden kommende Saison
       doppelt so teuer, Bandenwerbung ohne Unterlass findet auf den
       Spielertrikots statt, Bayern wird Meister.
       
       Künstliche Intelligenz wird keineswegs den Dienstleistungssektor epochal
       verbessern, sondern im Laufe des Jahres sämtliche kreativen Tätigkeiten an
       sich reißen und durch die berühmten Kulturtechniken des Sampelns, Recycelns
       und Umetikettierens für viel unverhofftes Wiedersehen und -hören sorgen.
       Zehn bis fünfzehn neue Streamingdienste werden gegründet, dafür stirbt,
       Gott sei Dank, die Kultur der kleinen Blueskonzerte in Clubs. Das restliche
       Amüsement der Welt liegt hingegen komplett in der Hand von Elon Musk, der
       2023 Tesla beerdigt und jeden Tag im Alleingang 500 unterhaltsam
       rechtsradikale Posts auf wechselnden Plattformen raushaut.
       
       Das Berliner Berghain wird neuerlich nicht schließen; Olaf Scholz wird
       eventuell eine weitere „Zeitenwende“ ausrufen, die er diesmal „Rolle
       rückwärts“ nennt; zum „ironischen Lieblingsgericht des Jahres“ wird
       Labskaus ausgerufen; Julian Reichelt und Jan Fleischhauer werden es zur
       Abwechslung mit einem gemeinsamen Podcast versuchen, aber leider, leider
       keinen Erfolg haben; ARD und ZDF werden nicht an Netflix verkauft; und alle
       Deutschen über zwanzig werden sich im Laufe des Jahres einmal bei Tiktok
       an- und wieder abgemeldet haben.
       
       Überhaupt: Wieder einmal werden die meisten Leute nichts einsehen, nichts
       verstehen, doof glotzen – und das Weltengeschehen durch eine Laune der
       Natur dennoch ein paar Zoll in Richtung Fortschritt und Aufklärung bewegt
       haben. Ermunternde Sätze mit geschichtsoptimistischer Stoßrichtung, wie man
       sie gelegentlich von naiven Zeitgenossen hört („Unterdrückung und
       Diskriminierung haben im Jahr 2023 nun wirklich keinen Platz mehr!“),
       sollten deshalb im kommenden Jahr öfter zu hören sein.
       
       31 Dec 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mark-Stefan Tietze
       
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