# taz.de -- Vergessene Komponistin: Energische Kämpferin für die Musik
       
       > In der Romantik war Emilie Mayer Deutschlands berühmteste Komponistin. An
       > ihrer Wiederentdeckung haben mehrere norddeutsche Ensembles mitgewirkt.
       
 (IMG) Bild: In vielfacher Hinsicht wenig konventionell: Emilie Mayer
       
       HAMBURG taz | Man weiß nicht, wie sie dachte, und kaum, wie sie aussah.
       Aber man weiß, wie sie komponierte, wie sie unbekümmert Harmonien und
       Stimmungen wechselte und gegeneinander schnitt. Emilie Luise Friederika
       Mayer (1812–1883) wurde zu Lebzeiten „weiblicher Beethoven“ genannt. Ein
       ambivalentes Kompliment: Einerseits war es schmeichelhaft für die
       Komponistin, in einem Atemzug mit dem eine Generation älteren Kollegen
       genannt zu werden. Andererseits unterstellt es ihr ein Epigonentum, ein
       Klingen-Wie, das es so aber gar nicht gab. Zwar erinnern Mayers Sinfonien
       an die Beethovens, beim zweiten Hören merkt man aber: Das ist nicht der
       formstrenge Bonner; Mayers Klang ist feiner, ihre lyrischen Stellen sind
       weniger kristallin kühl, vielmehr sensibler, verspielter, teils auch
       humorvoller.
       
       Soweit bekannt, war die zeitlebens unverheiratete Emilie Mayer die erste
       Frau der Romantik, die Sinfonien komponierte. Dass sie überhaupt als
       Komponistin arbeitete – mit dieser Berufsbezeichnung ließ sie sich ins
       Stettiner Adressbuch eintragen –, war für sich genommen schon
       ungewöhnlich. Es glich einer Provokation in einer Zeit, in der etwa der
       Philosoph Arthur Schopenhauer über Frauen schrieb: „Weder für Musik, noch
       Poesie, noch bildende Künste haben sie wirklich und wahrhaftig Sinn und
       Empfänglichkeit.“ Oder der Musikkritiker Flodoard Geyer formulierte: „Was
       weibliche Kräfte, Kräfte zweiter Ordnung, zweit vermögen – das hat Emilie
       Mayer errungen und wiedergegeben“ – noch so ein vergiftetes Kompliment.
       
       Mayer kümmerte es vermutlich nicht. Sie hatte Glück gehabt mit ihrem
       unkonventionellen Vater: Der Apotheker aus dem mecklenburgischen Friedland
       ließ ihr schon als Fünfjährige Klavierunterricht geben. Es fruchtete, schon
       bald komponierte das Kind kleine Tänze und Lieder. Wegen des frühen Todes
       der Mutter musste Emilie Mayer dann tun, was damals für unverheiratete
       bürgerliche Frauen vorgesehen war: Sie führte den Haushalt, versorgte
       zuerst die jüngeren Brüder, später den alleinstehenden Vater.
       
       Ausgerechnet der – nie geklärte – Suizid des Vaters im Jahr 1840 brachte
       die Wende für Mayer: Jetzt war sie, 28-jährig, frei von familiären
       Pflichten – und erbte dazu noch. Statt sich qua Heirat gleich die nächste
       Fessel anzulegen, sich womöglich von einem Ehemann das Komponieren
       verbieten zu lassen, blieb sie Single. Sie zog nach Stettin, um beim
       Balladenkomponisten Carl Loewe Unterricht zu nehmen, später beim
       Musikwissenschaftsprofessor Adolph Marx und dem Dirigenten Wilhelm
       Wieprecht; unkonventionelle Männer allesamt, die ihre Begabung erkannten.
       
       Später zog sie nach Berlin, wo sie einen gut besuchten Künstler- und
       Musikersalon führte. Mit acht Sinfonien, 15 Konzertouvertüren, einer Oper,
       etlichen Streichquartetten, Klavierstücken und Liedern war sie die
       produktivste Komponistin ihrer Zeit, dazu noch eine begabte Netzwerkerin:
       Mayer betrieb ihre Karriere mit Ausdauer und Energie – vielleicht brauchte
       sie als Frau im männerdominierten Musikbetrieb auch mehr von beidem. Sie
       knüpfte Kontakte zu Dirigenten und Orchestern, zahlte auch für die
       Aufführungen, drängte Verlage immer wieder, ihre Partituren zu drucken.
       
       ## Erfolge zu Lebzeiten
       
       Und sie hatte Erfolg: Zu Lebzeiten zählten Emilie Mayers Werke zum
       Repertoire etlicher Orchester, wurden in Brüssel, Lyon, Budapest, Dessau,
       Halle, Leipzig und München aufgeführt; das war noch keiner Frau gelungen.
       Wobei aus Briefen einer Nichte hervorgeht, dass Mayer persönlich eher
       bescheiden auftrat. Vielleicht entsprach es ihrem Wesen, vielleicht geschah
       es aber auch absichtsvoll, um nicht weiter anzuecken?
       
       Zwar bekam sie nie ein Dirigentenamt, wurde aber immerhin Vizechefin der
       Berliner Opernakademie und Ehrenmitglied der Philharmonischen Gesellschaft
       München; die preußische Königin verlieh ihr einen Orden für musikalische
       Verdienste. Auch ihre Lebensweise als Alleinstehende war anscheinend damals
       kein Thema. Vielleicht, weil sie trotz allem privilegiert war, mit gewissem
       Vermögen ausgestattet und mit wichtigen Förderern. Ohne die Gunst von
       Männern – aus heutiger Sicht ein Wermutstropfen – wäre dieses Leben aber
       wohl nicht möglich gewesen.
       
       Angesichts von Mayers steiler Karriere überrascht es, dass ihre Werke schon
       wenige Jahre nach ihrem Tod von Konzertprogrammen verschwanden – und die
       Komponistin selbst aus dem kulturellen Gedächtnis. Erst um 2012 herum,
       anlässlich ihres 200. Geburtstags, [1][erfuhr sie wieder etwas
       Aufmerksamkeit], einige ihrer Kompositionen wurden erstmals
       gedruckt.Wichtige Impulse für Mayers Wiederentdeckung hat die Pianistin
       Kyra Steckeweh geliefert: 2018 spürte sie gemeinsam mit dem Regisseur Tim
       van Beveren [2][im Film „Komponistinnen“] den Lebenswegen von, eben, vier
       Komponistinnen des 19. Jahrhunderts nach, neben Emilie Mayer ging es noch
       um Mel Bonis, Lili Boulanger und Fanny Hensel. 2021 erschien dann mit
       Barbara Beuys’ Buch „Emilie Mayer. Europas größte Komponistin“
       (Dittrich-Verlag, 220 S., 22 Euro) die erste fundiert recherchierte
       Biografie.
       
       Ebenfalls um 2021 entstand ein ganzer Schwung Einspielungen von Mayers
       Musik: Die NDR-Radiophilharmonie Hannover nahm mehrere ihrer Sinfonien auf;
       im Jahr darauf legte auch die Mecklenburgische Staatskapelle Schwerin eine
       CD mit ihrer 3. Sinfonie vor. Das Klaviertrio Hannover spielte erstmals
       überhaupt drei Klaviertrios Mayers ein. Und kürzlich erst brachte das
       Philharmonische Orchester Bremerhaven Mayers 3. und 6. Sinfonie auf CD
       heraus – und ist dafür [3][nun nominiert] für die International Classical
       Music Awards (ICMA).
       
       Wie konnte die Komponistin überhaupt so nachhaltig in Vergessenheit
       geraten? Es gab niemanden, der ihr künstlerisches Erbe gepflegt hätte –
       keinen Ehemann, keine Kinder; ihre einstigen Förderer taten das aber wohl
       auch nicht. Ihr Nachlass soll an eine Nichte gegangen und irgendwann an die
       Preußische Staatsbibliothek verkauft worden sein. Seit 1918 lagerten die
       Dokumente in der Berliner Staatsbibliothek, großteils bis heute
       unveröffentlicht.
       
       Diese Missachtung könne durchaus damit zusammenhängen, „dass um Frauen
       posthum damals nicht so ein Hype betrieben wurde wie um Männer“, vermutet
       Marc Niemann, Dirigent des Bremerhavener Orchesters. Wie er selbst auf
       Mayer kam? Während der Coronapandemie habe er darüber nachgedacht, wie sich
       trotz Zuschauerbeschränkungen neue Impulse setzten ließen, erzählt Niemann.
       Nun hoffe er, dass Mayers Werk ins reguläre Konzertrepertoire gelange.
       
       Wiederentdeckt worden ist auch Emilie Mayers lange überwucherter Grabstein
       in der Nähe derjenigen von Felix Mendelssohn Bartholdy und Fanny Hensel auf
       dem Berliner Dreifaltigkeitsfriedhof; seit August 2021 trägt das Grab eine
       Gedenkplatte und ist „Ehrengrab des Landes Berlin“. Noch nicht realisiert
       ist offenbar die Ende 2021 beschlossene Benennung einer Berliner Straße in
       Emilie-Mayer-Weg.
       
       1 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Zu-Unrecht-vergessen/!586983/
 (DIR) [2] https://komponistinnen.com/?page_id=122&lang=de_DE
 (DIR) [3] https://stadttheaterbremerhaven.de/philharmonisches-orchester/ueber-uns/tontraeger/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Petra Schellen
       
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