# taz.de -- Gesetze in Deutschland: Wissen ist Recht
       
       > Eine wirklich freie Gesellschaft braucht in Rechtsfragen kompetente
       > Bürgerinnen und Bürger. Heißt: Das juristische Basiswissen muss gestärkt
       > werden.
       
 (IMG) Bild: Hier ist die Ungleichheit augenfällig: zwei unterschiedlich große Kuchenstücke
       
       Recht haben, recht geben, im Recht sein – das sind allesamt Redewendungen,
       mit denen wir ausdrücken, was wir als Recht empfinden, also uns „im Recht
       fühlen“. Fühlen können das nämlich alle. Wissen davon haben aber nur
       wenige, dabei wäre ein leichteres Zurechtfinden in Tausenden von Gesetzen
       und Verordnungen angebracht. Oft gerät aus dem Blick, dass eine
       Rechtsordnung verstanden sein muss, wenn sie Zusammenleben erleichtern
       soll.
       
       Was ist eigentlich Recht? Vereinfacht lässt es sich entweder als dasjenige
       definieren, was die Gesetzgebung geschaffen hat, oder als ein Empfinden,
       welches uns naturgemäß gegeben ist. Entwendet jemand unser Fahrrad, wird
       das niemand hinnehmen wollen, ganz gleich ob die dazu passende
       Gesetzesvorgabe (§ 985 aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch) bekannt ist. Es
       gibt also ein grobes „Gerechtigkeitsempfinden“, das aber diffus und
       subjektiv ist.
       
       Ein Beispiel: Meinungsstreit bei Wohnraumknappheit. Verbindliche Regeln für
       das zwischenmenschliche Miteinander sind also sinnvoll. Hilfreich ist es
       dazu auch, diese zu dokumentieren. Seit mehr als 120 Jahren gibt es deshalb
       [1][das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB)] als zentrale Rechtsgrundlage. Aber
       kaum jemand hat es im Bücherschrank stehen. Wesentliches daraus sollte aber
       Allgemeinbildung sein. Dieses Gesetzbuch ist nämlich die Grundlage für
       alltägliche Einkäufe und umfasst viel, was uns den Alltag erleichtern kann.
       Besonders hilfreich wäre es deshalb, wenn diejenigen, um deren Leben es
       geht, wissen und nicht nur fühlen, was geregelt ist.
       
       Der juristische Wissenstransfer in die Bevölkerung lässt aber zu wünschen
       übrig: Tatsächlich ist Rechtsbildung nur einem Teil vorbehalten. Die
       meisten Menschen haben kaum Zugang. Unterstützung durch Beratungsstellen
       für Mieter, Arbeitnehmende sowie Verbraucherinnen und Verbraucher ist nicht
       ausreichend vorhanden, kommt oft zu spät oder kann unverhältnismäßig
       aufwändig sein. Anwaltlicher Rechtsrat ist zudem mit Kosten verbunden, da
       ein weitreichendes Rechtsberatungsmonopol besteht. Für unsere Gesellschaft
       ist das riskant.
       
       Bei der Vermittlung von Werten würde Rechtskenntnis Lehrenden und
       Erziehenden helfen, wenn der Zusammenhang von Pünktlichkeit oder
       Rücksichtnahme mit konkreten Rechtsvorgaben gezeigt wird. Zur Sozialisation
       müsste viel früher und intensiver jungen Menschen die Integration in unsere
       Rechts- und Wertegemeinschaft erleichtert werden, indem ihnen wesentliche
       Regeln erklärt werden.
       
       Das ist in der Theorie so vorgesehen. Allerdings gelingt es in der
       Umsetzung selten: Rechtsbildung wird als trocken und abstrakt empfunden,
       weil der Praxisbezug allzu oft fehlt. Viele Jugendliche kennen ihre
       rechtliche Rolle [2][und ihre Rechte in der Konsumgesellschaft kaum].
       Außerdem basiert unsere Wirtschaftsordnung auf der fraglichen Annahme, dass
       Menschen sich frei vertraglich binden können. Das wird als
       „Privatautonomie“ bezeichnet, unterscheidet sich vom Staatssozialismus,
       funktioniert im Alltag aber nur mäßig.
       
       Ein Beispiel: Viele meinen, man könne Ware stets zu dem ausgepreisten
       Betrag verlangen. Oft wird angenommen, nur schriftliche Vereinbarungen
       seien verbindlich – dabei gibt es auch mündlich geschlossene Verträge. Die
       meisten wissen vermutlich nicht, dass bei defekter Ware nicht direkt Geld
       zurückgezahlt werden muss. Außerdem glauben viele, Gekauftes könne ohnehin
       bei Nichtgefallen zurückgegeben werden. Auch über das Thema Haftung ist
       wenig bekannt. Unkenntnis von Scheidungsfolgen oder Erbschaften besteht. Im
       Ergebnis kann also diese vermeintliche „Freiheit“ nach unserer Verfassung
       mangels Rechtskenntnis nicht effektiv genutzt werden.
       
       Besonders problematisch ist das, wenn man die Funktionsweise der sozialen
       Marktwirtschaft kritisch hinterfragt: Rechtskenntnis bedeutet
       Überlegenheit. Wenn diese nur einem Teil zukommt, werden soziale
       Unterschiede größer. Dass immer mehr durch Verbraucherschutz, Mieterschutz
       oder Arbeitsplatzschutz staatlich regulierend eingegriffen wird, zeigt die
       Fehlentwicklung deutlich. „Hilfe zur Selbsthilfe“ durch Rechtskompetenz
       wäre ein ergänzender Weg, denn zielgerichtete Bildung könnte
       Überregulierung und gerichtliches Eingreifen entbehrlich machen. Wer die
       eigene Rechtsposition einschätzen kann, wird eher nachgeben – oder, wenn er
       recht hat, mit Verweis auf das Gesetz auf seinem Recht bestehen.
       
       ## Demokratie braucht rechtskundige Bürger
       
       Neben dieser Kluft bei der Rechtskompetenz im wirtschaftlichen Miteinander
       ist die politische Komponente wichtig. Demokratie braucht rechtskundige
       Bürgerinnen und Bürger. Es geht um Machtkontrolle, auch mittels
       Rechtskenntnis. Wenn nicht verstanden wird, was in der parlamentarischen
       Gesetzgebung vor sich geht, kann Vertrauen schwinden. So wird die Gefahr
       größer, dass autokratische Konzepte populär werden, weil sie vermeintlich
       einfache Lösungen ohne Eigenverantwortung suggerieren.
       
       Das mag bequemer für sorglos Regierbare sein, aber um den Preis der
       Willkürgefahr. Autoritäre Regierungsformen versuchen neben Einschränkung
       der Meinungsfreiheit typischerweise, das Rechtsverständnis für die
       Allgemeinheit einzuschränken. Der demokratische Staat kann sich besser
       schützen, wenn Recht bekannter und einfacher wird.
       
       Fazit: Alle Beteiligten müssen sich mehr Gedanken machen, wie zumindest
       juristische Basiskenntnisse in der Breite der Gesellschaft ankommen. Dabei
       kann die Rechtsanwaltschaft mit Schulungen helfen. Lehrende und Erziehende
       sollten sich mit Rechtsfragen stärker befassen. Breitenbildung sollte von
       der Politik angestoßen werden. Die Medien könnten aufklärend helfen. Wir
       sollten uns stärker bewusst machen, wie wichtig Recht zur Stabilisierung
       der Gesellschaft und für faire privatrechtliche Beziehungen ist: Breite
       Rechtskenntnis kann die Grundlage für ein solidarisches und wirklich freies
       Zusammenleben bieten.
       
       10 Jan 2023
       
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