# taz.de -- Berliner Kampfzone Friedrichstraße: Streit um einen freudlosen Schacht
       
       > Ohne Autos droht Ödnis in der Berliner Friedrichstraße, sagen die einen.
       > Andere wollen eine Flaniermeile. Kommt die aber wirklich, wäre das ein
       > Wunder.
       
 (IMG) Bild: Hässlichkeit, Langeweile und Profitstreben, in einer Straße vereint
       
       BERLIN taz | Die meisten Schaufenster im „Russischen Haus der Wissenschaft
       und Kultur“ sind leer, nur in einigen hängen großformatige Fotos von
       sibirischen Füchsen und mongolischen Antilopen.
       
       In den Geschäften rundherum ist an diesem feuchtkalten Wintertag wenig mehr
       los: kaum bis keine Kundschaft beim Uhrenverkäufer Bucherer, Karl Lagerfeld
       oder den gusseisernen Töpfen von Le Creuset. Die meisten Menschen, die hier
       auf der Friedrichstraße Geld ausgeben, sieht man in der Filiale von Bäcker
       Kamps oder im „Frittenwerk“, wo’s für knapp zehn Euro eine Portion Pommes
       mit Guacamole gibt.
       
       Seltener noch als kaufkräftige PassantInnen sind allerdings Autos: Seit dem
       30. Januar ist die Berliner Nord-Süd-Achse auf einem zentralen halben
       Kilometer für den motorisierten Verkehr gesperrt – wieder. Denn das Verbot
       galt schon seit dem ersten Pandemiesommer 2020, als hier im Rahmen eines
       Verkehrsversuchs eine „Flaniermeile“ eingerichtet wurde – [1][eine
       Gerichtsentscheidung sorgte Ende 2021 für ein zweimonatiges Intermezzo], in
       dem die Autos noch einmal rollen durften.
       
       Heute sieht man nur noch Pkws mit laufendem Motor in den Einmündungen der
       Seitenstraßen stehen. Angestrengt scheinen die FahrerInnen zu überlegen:
       Sollen sie die letzte Lücke zwischen den Baustellenabsperrungen nutzen, um
       die Friedrichstraße möglichst unauffällig zu queren, oder nehmen sie die
       Schilder ernst, die sagen: „Nur Lieferverkehr“? Fahrräder umkurven dagegen
       immer noch die wenigen FußgängerInnen, die für sie reservierte Spur aber
       fehlt mittlerweile.
       
       ## Ein ideologisch aufgeladener Streit
       
       An den Laternen hängen noch Plakate von der Wiederholungswahl zum
       Abgeordnetenhaus am 12. Februar. „Grüne Verbote weiträumig umfahren“, wirbt
       ein CDU-Exemplar. Es ist durchaus auf die gesamte Verkehrspolitik der
       Partei gemünzt, die seit fast sieben Jahren das entsprechende Ressort im
       Senat besetzt – hier aber hängt es an einem neuralgischen Punkt. Und
       möglicherweise war es der ideologisch aufgeladene Streit um die
       „Flaniermeile“, der den Konservativen im sonst grün dominierten Herzen der
       Stadt einen Zweitstimmensieg und das Direktmandat verschafft hat.
       
       Ideologisch aufgeladen – das gilt durchaus für beide Seiten. Da sind einmal
       die vom rechts-liberalen Spektrum hofierten Untergangspropheten, [2][die
       die Verbannung des Autoverkehrs für den Verfall der Straße verantwortlich
       machen]. Aber auch die andere Fraktion hat sich an diesem Konflikt auf
       ungute Weise festgefressen.
       
       Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch seufzte oft und laut, wenn sie im
       Wahlkampf auf die Friedrichstraße angesprochen wurde. „An ihr entscheidet
       sich nicht die Mobilitätswende“, [3][sagte sie in der taz]. Stimmt – nur
       haben die Grünen kräftig daran mitgewirkt, die Straße zum vermeintlichen
       Symbol dieser Wende zu machen. Jaraschs Vorgängerin Regine Günther war vom
       einstigen Versprechen abgerückt, Berlins nahegelegenen Boulevard Unter den
       Linden autofrei zu machen, und hatte sich auf die Friedrichstraße
       kapriziert, deren Verkehrsberuhigung von einigen Bürgerinitiativen
       gefordert wurde.
       
       Die Linden wären bestimmt nicht die einzige bessere Kandidatin gewesen.
       Denn die mittlere Friedrichstraße steht für keinen der Reize Berlins. Von
       der engen, einst lebendigen Geschäftsstraße ist nach Krieg, DDR und
       Nachwende-Stadtplanung nichts geblieben; der Versuch, durch die Ansiedlung
       hochpreisiger Läden ein Pendant zum Kurfürstendamm zu schaffen, ist
       gescheitert. Ein Diamanten-Halsband für 85.000 Euro wie bei Bucherer in
       der Auslage kauft sich eben stilvoller im alten Berliner Westen, mit
       Gründerzeitfassaden, Platanen und extrabreiten Trottoirs.
       
       ## Weder stilvoll noch wild
       
       In der Friedrichstraße ist nichts stilvoll und nichts grün, aber auch das
       Wilde oder zumindest Experimentelle, für das Berlin immer noch steht,
       fehlt. Wenn in einem von H&M aufgegebenen Laden nun ein „Contemporary Show
       Room“ Kunst vor rohen Betonwänden ausstellt, ist das höchstens eine
       Simulation der anderswo in Berlin-Mitte tatsächlich florierenden
       Galerieszene. Und kein Café, das nicht von einer finanzstarken Kette
       betrieben wird, könnte hier die exorbitanten Gewerbemieten zahlen.
       
       Um es brutal zu sagen: Die angebliche Flaniermeile ist ein kalter, grauer
       und freudloser Schacht, der selbst emotional ausgeglichene Menschen
       innerhalb von Minuten depressiv stimmt. Sie vereint Hässlichkeit,
       Langeweile und Profitstreben auf die übelste Weise. Sollte es gelingen,
       durch die angekündigten Verschönerungsmaßnahmen wie Sitzmobiliar und
       Pflanzkästen so etwas wie eine urbane Atmosphäre herzustellen, wäre es ein
       Wunder – das Wunder von Berlin.
       
       19 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Claudius Prößer
       
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