# taz.de -- Roman „Young Mungo“ von Douglas Stuart: Zerstörung von Schönheit
       
       > Douglas Stuart erzählt in „Young Mungo“ von den Proletariermilieus
       > Schottlands. Der Roman ist trotz aller Drastik zum Glück kein
       > Trauma-Porn.
       
 (IMG) Bild: 2020 gewann er den Booker-Preis. Jetzt kommt sein zweiter Roman: Douglas Stuart
       
       Fast am Ende des Romans ist die Hauptfigur, der Teenager Mungo Hamilton,
       zerschunden und überzogen mit Dreck, Blut und Schweiß. Zahllose Hämatome
       ziehen sich über seinen Körper und auch im Gesicht sieht man die Spuren von
       rücksichtsloser Gewalt. Er steht – im wahrsten Sinne – vor den Trümmern
       seiner Hoffnungen: „Die Sonne stand noch nicht einmal an ihrem höchsten
       Punkt, aber alles Schöne war schon zerstört.“
       
       Der zweite Roman [1][des schottischen Autors Douglas Stuart], „Young
       Mungo“, ist neben vielem anderen die Geschichte über die Zerstörung von
       Schönheit. Mungos makelloses Aussehen, seine Persönlichkeit und sein Leben
       sind dabei nur die offensichtlichsten Ziele der Angriffe.
       
       Die Welt, in der alles Schöne zerstört wird, ist das proletarische Milieu
       in den heruntergekommenen Sozialwohnanlagen im East End von [2][Glasgow in
       den neunziger Jahren.] Stuart bleibt damit dem Ort und der Zeit, die er aus
       eigener Erfahrung kennt und bereits erfolgreich literarisiert hat, treu.
       Schon sein Debütroman „Shuggie Bain“, 2020 mit dem Booker-Preis
       ausgezeichnet, spielte im postindustriellen Glasgow und handelte von der
       Kindheit eines Jungen in einem feindlich gesinnten Umfeld.
       
       Ganz ähnlich geht es Mungo. Er ist mit fast 16 Jahren das jüngste von drei
       Kindern der alleinerziehenden Maureen, genannt Mo-Maw, die gerade einmal
       Mitte dreißig ist. Seine Schwester Jodie, kaum zwei Jahre älter als er,
       übernimmt die Mutterrolle, die die alkoholkranke und unzuverlässige Maureen
       nicht ausfüllen kann. Hamish, der älteste, ist selbst schon Vater und
       Anführer einer protestantischen Jugendgang, die Bauhöfe ausraubt und sich
       blutige Straßenschlachten mit katholischen Banden liefert.
       
       Hamish ist es auch, der aus seinem Bruder einen Mann machen will. Ein Mann
       sein heißt hier, sich rücksichtslos und gewalttätig zu verhalten und unter
       keinen Umständen den Eindruck zu erwecken, nicht heterosexuell zu sein.
       
       ## Als Schwuchtel beschimpft
       
       Wie eng das Spektrum für Männlichkeit in diesem Umfeld ist, macht Hamish
       klar, als er ein Mitglied seiner Gang als „Scheißschwuchtel“ beschimpft,
       weil der bei einem Raubzug für seinen Geschmack zu sorgfältig in einem
       Werkzeugkasten nach Beute sucht. „Hör auf, Zeit zu verschwenden, als würdse
       dir die Karotten aussuchen, diede dir innen Arsch schieben willst“,
       herrscht er ihn an. Wie ein gnadenloses Damoklesschwert hängt die Angst
       davor, als schwul oder auch nur „weich“ zu gelten, über allen männlichen
       Figuren des Romans.
       
       Beinahe zu perfekt fügt sich in dieses Setting die in langen Rückblenden
       erzählte Romeo-und-Julia-Geschichte ein, die sich zwischen Mungo und dem
       etwas älteren katholischen Teenager James entfaltet, der zwischen den
       Mietskasernen einen Taubenschlag hat und wie Mungo Halbwaise ist.
       Tatsächlich ist es auch nicht diese Handlung, die „Young Mungo“ zu dem
       beeindruckenden Roman macht, der er ist.
       
       Der Reiz des Romans besteht in der Spannung aus Ruhe und Chaos, aus Liebe
       und Hass, aus Schönheit und ihrer Zerstörung. Der Taubenschlag im Hinterhof
       und die Wohnung, in der James meist allein lebt, werden zum Ort der Ruhe,
       an dem die beiden Jungs sich erst vorsichtig, später leidenschaftlich
       näherkommen.
       
       Währenddessen spielt sich draußen auf den Straßen und in den
       Sozialwohnungen das Leben ab, vor dem die beiden fliehen wollen und müssen.
       Dort patrouilliert die Gang von Hamish, häusliche Gewalt ist Alltag, Mo-Maw
       kommt tagelang nicht nach Hause, Jodie wird von einem Lehrer sexuell
       ausgenutzt und der feingeistige Mr Calhoun, von allen nur Poor-Wee-Chickie
       genannt und als Kinderschänder verleumdet, bringt sich vor homophober
       Gewalt in Sicherheit.
       
       ## Zuneigung und unbeholfene Lust
       
       Die Szenen, in denen sich die Zuneigung und die unbeholfene Lust von James
       und Mungo zeigt, sind auch Momente der Ruhe für die Leser*innen. „Wie
       heißer gebutterter Toast, wenn man am Verhungern war“, fühlt sich der
       erste, beinahe zufällige Kuss der beiden an. Der Nachmittag, den die beiden
       an James’ Geburtstag am Flussufer zusammen verbringen, ist die Beschreibung
       einer vorsichtigen Annäherung zwischen zwei Teenagern.
       
       Derart auf den Punkt, haarscharf am Klischee vorbei, erzählt Stuart diesen
       Moment, dass man ihn gerade noch genießen kann. So voller Gewalt und Dreck
       der Roman die meiste Zeit ist, so zart, unbeholfen und liebevoll entwickelt
       sich die Beziehung zwischen den beiden jungen Männern.
       
       Auch wenn der zentrale Konflikt in einer von Gewalt und Hass bedrohten
       Liebe besteht, würde es trotzdem zu kurz greifen, zu behaupten, es ginge
       allein um Liebe zwischen zwei Männern in einem homophoben Umfeld. Mungo und
       James können nicht einmal vorgeben, befreundet zu sein, weil die Rivalität
       zwischen Katholiken und Protestanten ausreicht, jede Beziehung zwischen den
       beiden zur Gefahr werden zu lassen. Als Hamish erfährt, dass Mungo mit
       einem Katholiken Zeit verbringt, droht er den Taubenschlag mit James darin
       abzubrennen. Von der körperlichen Zuneigung der beiden weiß er da noch
       nichts.
       
       ## Postindustrielles Schottland
       
       Stuart erzählt im Kern von unsicheren Identitäten und den Konsequenzen
       gesellschaftlicher Machtstrukturen. Alle männlichen Figuren sind auf die
       ein oder andere Weise gefangen in toxischen Männlichkeitsidealen. Die
       Teenagerjungs spielen Männer, so voller Angst, nicht männlich genug zu
       sein, dass sie sich gegenseitig fast umbringen. Körperliche Nähe ist ihnen
       nur mit Härte möglich.
       
       Die Frauen leiden unter dieser Gewalt und verteidigen doch das Verhalten,
       weil sie darin die unvermeidliche Reaktion auf die Unterdrückung ihrer
       Klasse durch Politik und Gesellschaft sehen. Stuart rechtfertigt die Gewalt
       nicht durch die Diskriminierung, die das Arbeitermilieu im
       postindustriellen Schottland nach Margaret Thatcher erfährt, aber es ist
       unübersehbar, wie sehr alle Figuren unter der Klassenhierarchie leiden.
       
       Geschildert wird das alles in einem kontrastreichen Ton, der die Prosa der
       Erzählstimme und den Klang des schottischen Proletariermilieus dennoch in
       eine Balance bringt, in der beides nicht fehl am Platze wirkt. Das
       schottische Englisch, das die Figuren sprechen, steht gegen die reduzierte
       und bildreiche Sprache der Narration.
       
       ## Trotz all der Gewalt nicht trostlos
       
       Genau hier ist die gelungene deutsche Übersetzung auch trotz allem in einem
       unvermeidbaren Nachteil. Der leicht rhythmische Ton der englischen
       Erzählstimme funktioniert auch noch im Deutschen: „Der Wind, der über den
       See blies, roch nach Regen. Mungo stand lange am Ufer. Die beleuchteten
       Männer sahen aus wie ein Diorama: Sie tranken, rauchten, spähten hinaus ins
       Nichts.“ Das kantige und schnarrende Schottisch der Figuren ist allerdings
       nicht in einen deutschen Soziolekt übertragbar: „Yer mammy will feel heavy
       rotten. She’ll take a wee drink […]. That’s what wummin do; they cannae be
       trusted to haud their own watter.“
       
       Die Übersetzerin Sophie Zeitz hat bei der Übertragung der wörtlichen Rede
       den vermutlich einzig möglichen Weg gewählt und aus dem schottischen Slang
       die konzeptionelle Mündlichkeit einer unspezifischen deutschen
       Umgangssprache gemacht. So rutscht der Text in der Übersetzung nicht in
       einen aufgesetzten deutschen Soziolekt ab, verliert jedoch eine seiner
       prägenden Eigenschaften.
       
       Doch auch in der Übersetzung wird deutlich, dass Stuart einen Roman
       geschrieben hat, der trotz all seiner Drastik und des Hasses nicht trostlos
       ist. Im Gegenteil, es ist zwar manchmal nicht leicht zu ertragen, was Mungo
       und andere Figuren an Psyche und Leib erleiden müssen, aber Stuart gelingt
       es, hoffnungsvolle Fäden einzuweben, an denen man sich festhalten kann.
       
       Deswegen ist „Young Mungo“ auch kein Trauma-Porn, dazu ist der
       erzählerische Widerstand gegen die Trostlosigkeit zu groß. Durch alle
       Gnadenlosigkeit hindurch scheint am Ende doch noch so etwas wie eine
       Zukunft. Denn so sehr die Geschichte auch an „Romeo und Julia“ erinnert,
       Stuart ist nicht Shakespeare. Zum Glück nicht.
       
       6 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Booker-Preistraeger-Douglas-Stuart/!5803868
 (DIR) [2] /Memoiren-von-Musikmanager-Alan-McGee/!5792500
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Simon Sahner
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Literatur
 (DIR) Coming-of-Age
 (DIR) Homophobie
 (DIR) Glasgow
 (DIR) Großbritannien
 (DIR) Simone de Beauvoir
 (DIR) Literatur
 (DIR) Literatur
 (DIR) Schlagloch
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) Booker Prize
 (DIR) Literatur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Altern und Altsein: An der Zitronentafel des Lebens
       
       In „Die Reisende der Nacht“ klagt Laure Adler die gesellschaftliche
       Missachtung der Ältesten an. In Frankreich ein Thema, das gerade entdeckt
       wird.
       
 (DIR) Debütroman über das Leben in Nordirland: Ein mattes Leuchten
       
       Konfessionen, Klassen, Bürgerkrieg, Haarfestiger und Gin. Die Autorin
       Louise Kennedy erzählt vom prekären Alltag im Nordirland der siebziger
       Jahre.
       
 (DIR) „Oh Boy“ und kritische Männlichkeit: Der große Fehlschluss
       
       „Aber das ist doch Literatur!“ Dieser Hinweis reicht nicht aus, um Texte
       gegen Canceln zu verteidigen. Grundsätzliche Anmerkungen zum „Oh
       Boy“-Desaster.
       
 (DIR) Angebliche Bevormundung durch Linke: Lob der Umerziehung
       
       Linke Selbstveränderung und Kritik an überholten Lebensformen und Werten
       ist nicht überheblich. Im Gegenteil: Sie ist ein nobles Anliegen.
       
 (DIR) Gesellschaftsroman von Teresa Präauer: Man trinkt Crémant
       
       Eine Gastgeberin lädt ein und Teresa Präauer spielt die Möglichkeiten in
       verschiedenen Varianten durch: „Kochen im falschen Jahrhundert“.
       
 (DIR) Schottische Popband Belle and Sebastian: „Aus jedem Tag das Beste machen“
       
       Die Popband Belle and Sebastian macht sich auf ihrem neuen Album Gedanken
       übers Alter. Ein Gespräch über alternde Musiker und einen Song für die
       Ukraine.
       
 (DIR) Booker-Preisträger Douglas Stuart: Ein falsches Leben
       
       In seinem atmosphärisch dichten Debütroman „Shuggie Bain“ zeigt Douglas
       Stuart eine Arbeiterwelt, in der jede Abweichung bestraft wird.
       
 (DIR) Booker-Preis Gewinner 2020: In einem Haus ohne Bücher
       
       Zehn Jahre hat Douglas Stuart an seinem Roman „Shuggie Bain“ gearbeitet und
       32 Absagen erhalten. Nun gewann der Schotte den Booker-Preis.