# taz.de -- Als Aktivist*in im Stadtrat: Wie ich Realpolitik hassen lernte
       
       > Bei Fridays for Future kannte mein Drang zur Veränderung kaum Grenzen.
       > Dann ließ ich mich mit 19 Jahren in den Mainzer Stadtrat wählen.
       
 (IMG) Bild: Von Fridays for Future zur Realpolitik: Wie selten traut sich mal einer, in Utopien zu denken?
       
       Ich hasse Realpolitik. Realpolitik ist einer der schlimmsten Begriffe, die
       Politiker*innen sich jemals ausgedacht haben. Das heißt doch nichts
       anderes als: Wir kapitulieren vor dem Status Quo und seiner vermeintlichen
       Unverrückbarkeit. Realpolitik, das heißt: Wir lassen bis 2035 weitere
       Verbrenner in der EU zu. Das heißt, wir ziehen den Kohleausstieg vor, aber
       blasen letztendlich [1][die gleichen Mengen Treibhausgase] in die Luft. Das
       heißt, wir wollen die Bahnschienen ausbauen, aber vorher erst einmal die
       Autobahnen. Das „Reale“ an der Realpolitik ist das, was ohne größere
       Widerstände umsetzbar ist. Wie will man mit dem Leitmotiv riesige
       Veränderungen angehen?
       
       Als ich mich vor drei Jahren in den Mainzer Stadtrat habe wählen lassen,
       war ich 19 Jahre alt. Die nächstjüngeren Mitglieder waren zwei Rät*innen
       von den Grünen, die mit 27 und 28 fast zehn Jahre älter waren als ich.
       Weder passte ich altersmäßig rein noch hatte ich irgendeine Ahnung von
       Stadtpolitik. Ich stand am Ende meiner Schullaufbahn und war überzeugt: Wer
       bei Fridays For Future die Welt verändern will, muss in der Mainzer
       Stadtpolitik anfangen.
       
       Meine Zeit als Aktivist*in hat meinen Blick auf Veränderungen geprägt.
       Für mich begannen sie immer dort, wo sich Menschen versammelten und
       gestritten haben. [2][Bei Fridays for Future fühlte sich] Kämpfen nicht
       mühselig an, sondern schien wie von selbst zu gehen. Dieses Gefühl, diesen
       Grundmythos wollte ich eigentlich in die träge Stadtpolitik bringen.
       
       Was ich nicht wusste: Wenn man ein Ziel vor Augen hat, das so groß ist wie
       die Bekämpfung der Klimakrise, fühlt sich die Konfrontation mit
       Realpolitik nach traumatischem Erlebnis an. Denn eigentlich sind alle auf
       deiner Seite: die Grünen, die Sozialdemokraten, sogar die Christdemokraten.
       Aber nicht im Stadtrat, nein, sondern nur in persönlichen Gesprächen. „Das
       können wir noch nicht machen, dafür ist es zu früh. Später irgendwann.“ Wie
       oft ich mir das anhören musste.
       
       ## Lokalpolitik braucht junge Menschen
       
       Am Anfang war ich wütend darüber. Dann hatte ich ein eindrückliches
       Treffen mit der damaligen Verkehrsdezernentin. Für sie war ich ein
       Klimaaktivist, der irgendwie in der Kommunalpolitik gelandet ist. Sie
       sagte: Was wirklich helfen würde, wäre, wenn die ganzen
       Sympathisant*innen von Fridays For Future mal auf die nächste
       Bürger*innenbeteiligung kommen und dort ein Gegengewicht gegen die
       immer selben Leute bilden würden, die sich gegen jede Umgestaltung der
       Stadt wehren. [3][Dort, wo der Widerstand am größten] sei, wo sonst nur
       alte weiße Männer erschienen, dort würden wir am meisten gebraucht.
       
       Aber ist Stadtpolitik wirklich der richtige Ort für große Veränderungen?
       Sind es wirklich die Telefonate, die Ausschusssitzungen und die halben
       Kompromisse, die etwas bewirken? Vielleicht ist es eher eine Mischung: In
       meinen ersten Jahren in der Stadtpolitik habe ich gelernt, dass es in der
       Politik nicht nur um Anträge schreiben oder Reden halten ging. Ich sah, wie
       hart Menschen dafür kämpften, Kompromisse zu machen und kleine Fortschritte
       auszuhandeln. Aber auch, wie selten sich jemand mal traute, so richtig in
       Utopien zu denken.
       
       Veränderung voranzutreiben funktioniert in der Stadtpolitik anders als im
       Aktivismus. Aber es funktioniert. Wenn ich mit meinen vermeintlich
       radikalen Forderungen für eine autofreie Innenstadt damals nicht in den
       Stadtrat gekommen wäre und wenn die Klimabewegung das Thema nicht
       vorangetrieben hätte, dann hätte es vielleicht noch länger gedauert, bis
       die SPD genau diese Forderung in ihren Oberbürgermeister-Wahlkampf
       aufgenommen hätte. Das bestätigt zumindest: Diese verdammte Realpolitik ist
       kein Naturgesetz.
       
       5 Mar 2023
       
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