# taz.de -- Musik über Krieg gegen die Ukraine: Macht und Ausschluss von Macht
       
       > Einer aus der Ukraine, eine in Moskau geboren. Der Künstler Dmytro
       > Fedorenko und die Musikerin Mary Ocher engagieren sich gegen den Krieg.
       
 (IMG) Bild: Lebt seit 2020 dauerhaft in Berlin: Dmytro Fedorenko
       
       „Wie der Faschismus selbst sind die Robots lanciert und zugleich
       subjektlos“, hat Theodor W. Adorno 1944 angesichts der unbemannten V-2
       Raketen apostrophiert, die Hitlers Luftwaffe in der Endphase des Zweiten
       Weltkriegs Richtung London abfeuerte und damit verheerende Zerstörungen in
       der britischen Hauptstadt anrichtete.
       
       Es war im Kapitel „Außer Reichweite“ von Adornos „Minima Moralia“, worin
       der Philosoph veranschaulichte, wie sich in diesen Raketen neueste Technik
       mit archaischer Gewalt zum sinnlosen Grauen verbunden hatten: „Das
       Satanische […], dass es gleichsam die ganze Energie kostet, die
       Subjektlosigkeit herbeizuführen.“ Adornos Feststellung ist heute wieder
       wichtig: Waffen schießen sich nie von selbst ab.
       
       In vielen Debatten über den Angriffskrieg gegen die Ukraine gerät das
       Subjekt der Gewalt aber aus dem Blick: Die russische Armee, die den Krieg
       begonnen hat und auf Befehl des Kreml etwa Drohnen und ballistische Raketen
       auf die Ukraine loslässt, um die ukrainischen Bevölkerung auszulöschen.
       Die Menschen in der Ukraine nennen jene Drohnen inzwischen „Mopeds“, wegen
       ihres röhrenden Missklangs.
       
       ## Zum Zuhören verdammt
       
       Zivilbevölkerung ist der Gewalt immer auch auf einer klanglichen Ebene
       ausgesetzt, Menschen sind im Krieg zum Zuhören verdammt. „Auf der
       Klangebene ist Waffengeheul meist im niedrigen Frequenzbereich
       angesiedelt, oft hört man nur undeutliches Dröhnen. Es erinnert an
       Geräusche der industriellen Revolution. Einschläge klingen heute sehr laut,
       denn Artillerie verwendet große Kaliber, Bomben haben größere Sprengkraft.
       
       Ganze ukrainische Städte sind von den Russen in Schutt und Asche gelegt
       worden. Der brutale Klang ist Teil der Kriegsführung. Technik entwickelt
       sich weiter, Tod bleibt Tod. Wir haben 2023, aber die Gewalt gleicht in
       vielem der des Zweiten Weltkriegs von vor 80 Jahren.“
       
       Und noch etwas sagt der ukrainische Technoproduzent und Künstler Dmytro
       Fedorenko der taz, das zu denken gibt: „Als die Nazis 1941 die Ukraine
       überfallen haben, mordeten sie im Namen ihrer Herrenrasse. Die Russen tun
       heute so, als würden sie die Ukraine wiederum von Nazis befreien, in dieser
       schamlosen Behauptung kommt eine verklemmte faschistische Ideologie zum
       Ausdruck. Die russische Sprache ist schon länger verklemmt, auch 2008, beim
       Einmarsch in Georgien hieß es, das Land, müsse man ‚zum Frieden zwingen‘.“
       
       ## Kopfhörer in der Silvesternacht
       
       Dmytro Fedorenko lebt seit 2020 in Berlin. Der 45-Jährige ist einer der
       bekanntesten Technoproduzenten des Landes, sein Label Kvitnu
       veröffentlichte über 15 Jahre schroffe, hyperschnelle technoide Musik,
       unter dem Alias Kotra, aber auch von anderen Künstler:Innen. Bis 2020 hatte
       er bereits während einiger Jahre an der Wiener Kunstakademie Malerei
       studiert. In den frühen zehner Jahren organisierte er in Kiew Konzerte und
       Festivals. Zum Jahreswechsel 2022/23 in Berlin hat sich Fedorenko Kopfhörer
       aufgesetzt, um Musik zu hören. Das Geböller in der Silvesternacht hat ihn
       zu sehr gestresst.
       
       Zuletzt war er in der Woche vor dem Angriffskrieg, im Februar 2022, in der
       alten Heimat. Als der russische Einmarsch begann, hat sich Fedorenkos Leben
       grundlegend verändert. In den ersten Kriegswochen war er in Sorge um seine
       Eltern und Großmutter, sie leben in der Nähe von Butscha. Seine Schwester
       verbrachte über mehrere Wochen mit ihnen in einem Keller, wo sie sich vor
       den Russen versteckt hielten. Alle blieben unverletzt.
       
       Enge Freunde Fedorenkos sind jedoch beim Einsatz an der Front gestorben.
       „Schwer auszuhalten“, wie er sagt. Auch Fedorenko wollte sich zum Militär
       melden, aber hat entschieden, dass er seinem Land mehr helfen kann, wenn er
       in Deutschland bleibt: [1][Mit seiner Frau, der Musikerin Kateryna
       Zavolovka], hat er im April 2022 das Label „I shall sing until my land is
       free“ gestartet. Internationale Künstler:Innen, wie etwa der Finne Ilpo
       Väisänen, spielen ehrenamtlich Musik ein, alle Einkünfte werden
       ukrainischen NGOs gespendet. „Das Finanzielle ist nur eine Ebene, die
       Künstler zeigen offen ihre Solidarität mit der Ukraine, das ist auch
       wichtig, denn unser Projekt ist politisch.“
       
       ## Asemisches Schreiben
       
       Weil ihm das Komponieren schwerfällt, hat Fedorenko zuletzt meist gemalt,
       er nennt diese Bilder „Asemic meditation and experimental Calligraphy“,
       geheimnisvolle Schriftzeichen sind darauf zu sehen. „Mich interessieren
       alte Meditationstechniken, man nennt das auch asemisches Schreiben,
       unleserliches Gekritzel, einer Schrift ähnlich, was aber nichts
       Entzifferbares enthält.“
       
       Dmytro Fedorenko erfüllt mit Sorge, dass Gewalt und Zerstörung automatisch
       zum Bestandteil seiner Kunst werden könnten. „Ich möchte den Krieg nicht in
       mein Herz einbetten. Er ist Gift.“ In Deutschland hat er in den letzten
       Monaten zweierlei festgestellt, riesige Hilfsbereitschaft ukrainischen
       Flüchtlingen gegenüber, aber auch Unkenntnis, ja sogar Ignoranz gegenüber
       der ukrainischen Kultur und Geschichte, was er als gefährlich empfindet,
       denn dadurch werde man empfänglich für russische Propaganda.
       
       Die Geschichte der Ukraine sei über Jahrhunderte von anderen geschrieben
       worden, ob vom zaristischen Russland, von Polen, von Nazideutschland und
       der Sowjetunion, nun sei die Ukraine als souveräne Nation aufgestanden, um
       ihre Geschichte selbst zu schreiben. Er lerne selbst immer neue Fakten
       kennen.
       
       ## Beispiel Wassyl Stus
       
       Fedorenko nennt exemplarisch den ukrainischen Dichter Wassyl Stus, der
       wegen seiner dissidentischen Texte noch in der Spätphase der UdSSR in einen
       Gulag kam und 1985 in sibirischer Haft vermutlich gewaltsam zu Tode kam.
       „Die Geschichte der Ukraine ist alt und jung zugleich. Wir haben lange
       kulturelle Eigenständigkeit, aber sind als Land erst 1991 unabhängig
       geworden. Wir sind multiethnisch, es gibt zwar seltsame Konflikte, aber
       alle vereint, dass wir angesichts der jüngsten Bedrohungen durch Russland
       einen unbändigen Willen zur Freiheit haben.“
       
       Den Willen zur Freiheit, hervorgerufen durch eine komplexe Geschichte,
       kennt [2][Mary Ocher] aus eigener Anschauung. Die in Berlin lebende
       israelische Künstlerin wurde 1986 in Moskau geboren. Wie ihre Eltern, die
       in der antijüdischen Stimmung nach Ende der Sowjetunion mit Ocher 1991 nach
       Israel emigriert waren. Ochers Großeltern, ukrainische Juden, waren vor den
       antijüdischen Pogromen in der Ukraine der 1930er Jahre wiederum nach Moskau
       geflohen.
       
       Flucht und Vertreibung sind konstante Themen in ihrer Familie. „Meine Oma,
       die in Charkiw geboren wurde, sammelte Bücher zur russischen Geschichte vor
       der Oktoberrevolution, zu Sowjetzeiten ein Tabu.“ Zum Jahrestag des Krieges
       in der Ukraine hat Mary Ocher nun ein Minialbum mit vier Songs und einem
       Manifest veröffentlicht: „Power and Exclusion from Power“. Alle Einkünfte
       werden ukrainischen Organisationen gespendet, die sich am Wiederaufbau
       von Wohnhäuser beteiligen, die durch russische Bomben zerstört wurden.
       
       ## Krieg ist kein metaphysischer Zustand
       
       „Krieg ist kein metaphysischer Zustand, es ist ein bewusstes Streben nach
       mehr Macht, das seinen Vernichtungswillen verbirgt“, schreibt Ocher in
       ihrem Essay. Der taz sagt sie: „Das Putin-Regime verbreitet den Mythos
       eines ethnisch reinen russischen Volkes, das es so nie gegeben hat. Der
       gesellschaftliche Alltag im Land ist von gewalttätiger Intoleranz geprägt,
       die Menschen werden bewusst im Dunkeln gehalten, der rapide
       gesellschaftliche Wandel auf der Welt soll vor ihnen verborgen werden.“
       
       Ochers eingängige Musik ihrer vier Songs regt zum Nachdenken an, es klingt,
       als hätte ihr die Zeitenwende nach Kriegsbeginn neuen Schwung gegeben.
       Gerade auch durch das näselnd Sägende ihrer Stimme wirken die Songs
       mitreißend, kühl und bedacht. Die Musik ist Zeugnis einer künstlerischen
       Reife.
       
       „Das Leben ist schwer vorhersehbar. Wir müssen dies zulassen. Verantwortung
       für uns selbst zu übernehmen heißt nicht, dass man nicht abschweifen kann“,
       schreibt sie in dem Manifest, was sich ausdrücklich auch an ihre kleine
       russische Fangemeinde richtet. „In der Sowjetunion wurden den Menschen die
       meisten Lebensentscheidungen von der Staatsmacht abgenommen. Das führte zur
       Lethargie, wie sie noch heute in Russland verbreitet ist. Scheinbar äußere
       Kräfte entscheiden über das Schicksal, alles ist determiniert.“
       
       Mary Ocher führt dagegen vor, wie sie sich mit dem Musikmachen gegen alle
       Widerstände einen Lebenstraum erfüllt hat. Die Bilder vom Krieg in der
       Ukraine machen sie wütend, aber nicht verzweifelt. „In Russland halten die
       Zerstörung und das Sterben die Mythen des Krieges lebendig. Vor allem für
       die zynische Führung im Kreml, [3][die das Leben ihrer Bürger:Innen
       nicht wertschätzt]. Irgendwann aber wird das Land implodieren.“
       
       27 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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