# taz.de -- „Vulvina“-Erfinderin Souzan AlSabah: Ihre Worte befreien
       
       > Ein neuer Begriff hat das Sprechen über Sexualität verändert. Doch die
       > Erfinderin benutzte lange ein Pseudonym, um sich zu schützen.
       
 (IMG) Bild: Das sind nur Cupcakes, Baby
       
       Das erste Mal ließ die Sexualpädagogin das Wort 2009 in einem Workshop mit
       jungen Menschen zwischen 10 und 23 fallen: Vulvina – eine Mischung aus den
       Wörtern Vulva und Vagina. Ein Wort für das ganze Genital. Ein Wort, das
       ganz anders sein sollte als frühere Bezeichnungen wie Scheide oder die
       lateinische Übersetzung davon, „Vagina“. Denn sie symbolisieren: das
       Genital als eine „Hülle“ für den Penis.
       
       [1][Vulvina wurde zu einer Erfolgsgeschichte]: Heute gibt es
       Vulvina-[2][Pflegeprodukte], ein Vulvina-Malbuch und Kondome, die mit dem
       Wort verkauft werden. Die Wortschöpfung taucht in Fernsehberichten,
       Zeitungsartikeln und Aufklärungsbüchern auf. Im Jahr 2022 unterhalten sich
       die Teilnehmenden der lesbischen Reality-TV-Show „Princess Charming“
       minutenlang darüber. Doch niemand weiß, wer es erfunden hat. Denn die
       Sexualpädagogin benutzt ein Pseudonym: „Ella Berlin“.
       
       Zwölf Jahre später, im Februar 2023, hat sich die Frau hinter „Ella Berlin“
       geoutet: Souzan AlSabah ist eine syrischstämmige Krankenschwester,
       Therapeutin und Supervisorin – und mittlerweile eine der einflussreichsten
       Sexualpädagog*innen Deutschlands. Im April erscheint ihr drittes
       Buch: „Vulvina Intersektional“. Darin geht es nicht nur um die Geschichte
       des Begriffs, sondern auch um eine Sexualpädagogik, die intersektional ist:
       das heißt, die Rassismus, Sexismus und andere Diskriminierungsformen ernst
       nimmt und zeigt, wie sie ein positives Verhältnis zum eigenen Körper
       stören.
       
       Das hat AlSabah nicht nur Zustimmung eingebracht. Sie erzählt, dass sie für
       ihre Arbeit kritisiert und angefeindet wurde. Über das Internet erreichten
       sie sogar Morddrohungen. Auch diese Angriffe thematisiert sie in ihrem
       Buch: die Irritation mancher Menschen darüber, dass eine „arabisch und
       muslimisch markierte Frau und Mutter überhaupt ein neues Wort vorschlägt“
       und Kritik an der deutschen Sprache übt. Aus der Sexualpädagogik hat sich
       Souzan AlSabah für einige Jahre zurückgezogen. Mit ihrem Buch tritt sie
       jetzt erstmals mit dem Begriff „Vulvina“ an die Öffentlichkeit.
       
       ## Eine gewaltvolle Zeit
       
       Der Weg dorthin war nicht einfach. Über die Computerkamera sieht man ihre
       dunklen Locken, schwarz umrandete Augen, einen wachen Blick. Aufgewachsen
       ist Souzan AlSabah zwischen Syrien und Deutschland. Sie schreibt, während
       ihrer Schulzeit in Deutschland habe sie viel Rassismus erlebt: „Das war
       anstrengend und hat viel Kraft gekostet. Es war eine gewaltvolle Zeit. Die
       Erfahrung, mit allem, was mein Körper darstellt, Misstrauen zu erwecken.“
       
       Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester in der
       Psychiatrie. Was sie interessierte, war: Wie schaffen es Menschen, die
       diskriminiert werden, körperlich und psychisch stabil zu bleiben? Die
       Antwort, die sie in „Vulvina Intersektional“ gibt, lautet: dass „Menschen,
       die positive Urbilder zu Körperlichkeit, Sexualität, Geschlechtlichkeit und
       eigener Kraft haben, oft erstaunlich resilient sind gegenüber struktureller
       Gewalt“.
       
       AlSabah weiß, wovon sie spricht. Es sind die 1980er Jahre, eine Wohnung im
       Zentrum Aleppos, ganz im Norden Syriens. AlSabah ist gerade 12 Jahre alt.
       Sie lebt mit ihrer Tante und ihren Cousinen. Verwandte, Nachbarinnen,
       Freundinnen gehen ein und aus, fast jeden Abend wird getanzt. Junge,
       mittelalte und alte Frauen stehen in einem Kreis, eine nach der anderen
       tritt in die Mitte und lässt die Hüften kreisen, Arme und Hände zeichnen
       weiche Formen in die Luft. „Ein beckenzentrierter, lustvoller Tanz“, sagt
       Souzan AlSabah. Es waren die Tanzkreise in Aleppo, erzählt sie, die ihr vor
       allem das Gefühl gaben, „richtig zu sein in dieser Welt“, und ein positives
       Gefühl zu ihrem Körper und ihrer Sexualität aufzubauen.
       
       Diese Erfahrungen haben sie so geprägt, dass das ihr Lebensthema wurde. Sie
       hat Workshops für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ganz Deutschland
       gegeben, beauftragt von Initiativen, Organisationen und Ministerien. Dort
       wurde nicht nur getanzt, sondern über patriarchale Vorstellungen,
       Sexualität und Körper aufgeklärt: über Orgasmen, die Periode oder den
       Mythos des Jungfernhäutchens. Sie hat zwei Kinderbücher veröffentlicht,
       eins davon ist das diversitätssensible Aufklärungsbuch „Samira und die
       Sache mit den Babies“.
       
       ## Detailreich und unverkrampft
       
       In „Vulvina Intersektional“ geht es um das Leid, das noch zu viele Menschen
       still ertragen. AlSabah macht deutlich, was es bedeutet, in einem von der
       Gesellschaft marginalisierten Körper zu existieren: Eine Schwarze Frau zum
       Beispiel wird aufgrund ihres Schwarzseins und ihres als weiblich markierten
       Körpers diskriminiert. Ein positives, lustvolles Verhältnis zum eigenen
       Körper aufzubauen, fällt da schwer. Dabei hilft Souzan AlSabahs Buch: Sie
       schreibt so detailreich, unverkrampft und mit so viel Liebe über Körper,
       wie es selten der Fall ist. Auf knapp 300 Seiten schildert sie die Anatomie
       der Vulvina, beschreibt Orgasmen und klärt darüber auf, warum die Sprache,
       die wir für diese Körperteile benutzen, oft sexistische Ursprünge hat. Das
       informiert nicht nur, das befreit.
       
       Sie erklärt zum Beispiel, dass „Hysterie“ vom griechischen Wort für
       „Gebärmutter“ kommt (hystéra). Sie zeigt aber auch, dass das arabische Wort
       dafür, „Rahim“, die gleiche Wurzel wie eine Bezeichnung für Gott hat und
       täglich im muslimischen Gebet benutzt wird. Immer wieder erwähnt sie eigene
       Erfahrungen aus der Arbeit mit muslimisch markierten Kindern und
       Jugendlichen in Deutschland, um rassistischen Vorurteilen auch unter
       Sexualpädagog*innen etwas entgegenzustellen. „Aus Religion, Herkunft
       oder Wurzel einer Person können meiner Erfahrung nach keine Aussagen über
       deren Haltung zu Körperfreundlichkeit und Sexualität getroffen werden.“
       
       Vor allem mit ihrer Wortschöpfung möchte AlSabah etwas verändern. Das Wort
       „Scheide“ sei ein „Trigger, der Gewalt reproduziert“. Denn der Wortursprung
       lässt an ein „Schwert“ denken, das in die Scheide eingeführt wird. Doch in
       vielen Büchern zum Thema Sexualkunde komme das Wort noch vor. Vulvina soll
       also eine Lücke füllen. Es soll ein Angebot sein, für eine ermächtigende
       Genitalbezeichnung.
       
       Souzan AlSabah hat mit mehreren Tausend Kindern, Jugendlichen und jungen
       Erwachsenen zu dem Thema gearbeitet. Viele hätten begeistert auf das Wort
       reagiert: „So, als würden sie zum ersten Mal einen Begriff kennenlernen,
       der aussprechbar erscheint und keine unangenehmen Körperempfindungen
       hervorruft. Stattdessen gibt dieser Begriff den Raum, das eigene Genital
       wahrzunehmen, zu spüren, zu fühlen und zu denken.“
       
       27 Mar 2023
       
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