# taz.de -- Erzählband über Sex: Aber wie?
       
       > Der patriarchale Blick, der Rausch, oder der Vibrator – was ist Sex,
       > befriedigt oder unbefriedigt? Jetzt wird's geil. Ein Vordruck aus „Enjoy
       > Schatz“.
       
 (IMG) Bild: Sanfte Lust am Morgen
       
       Als lesende, als schreibende, als liebende und körperliche Person frage ich
       mich: Wie wird über Sex geschrieben? Wie bekomme ich Sex zu lesen? Wie wird
       mir Sex gezeigt? Ganz allgemein fährt mir eine gewisse Aufregung durch den
       Körper. Vielleicht kollektiv, gesamtgesellschaftlich.
       
       Spürst du es auch? Wär doch hot. Wir, jetzt, zusammen.
       
       Wer leidet auch unter dieser diffusen Lust? Flirten, sich kennenlernen,
       annähern, schwärmen, sich berühren, sich hingeben, sich fallen, sich wieder
       los- und sich wieder verlassen. Der Rausch. Ich will den jetzt. Take me,
       I’m all yours.
       
       Sex in Literatur, Sex im Film ist so oft so unbefriedigend. Unter der
       Decke. Unterwäsche an. Nichts zu sehen. So viele Blowjobs auf Buchseiten
       gedruckt. In meinem Kopf ein Katalog an literarischen und filmisch
       inszenierten Penissen, die gnadenlos in die nassen Münder reinspritzen
       dürfen oder übers Gesicht. Aber bitte nicht in meins. Wobei ich erst
       neulich gelesen habe, dass Sperma zahnaufhellend wirkt.
       
       Wenn ein Mann meinen Kopf drängend und ungeduldig in Richtung seines
       Schwanzes zieht, drückt, manövriert, lache ich ihn gerne aus. Nur kurz.
       Kleine Pause. Nicht bevor du nicht meine Blume ausgiebig geküsst hast,
       meinen Rosengarten, meinen Früchteeisbecher, die Schleckmuschel, meine
       Vulva, sag ich dann. Gerne würde ich ihre verwirrten Gesichter in meinen
       Ursprung der Welt, der Ekstase, der Lust schieben und lässig sagen: Enjoy,
       Schatz. Mach ich aber nicht. Ich warte dann erst mal ab.
       
       Der [1][blaue Rabbit-Vibrator mit Klitoris-Saugfunktion] liegt in der
       rechten Schublade meiner Kommode, die praktischerweise neben dem Bett
       platziert ist. Ist Teil meines täglichen Aufwachrituals. Außer ein anderer
       Körper liegt neben mir. Aber meistens bin ich allein. Ich mag das. Sanfte
       Lust am Morgen. Vielleicht aus purer Gewohnheit. Oder luxuriösem
       Hedonismus. Der Gewissheit, entspannter in den Tag zu gleiten. Mehr Zeit im
       Bett verbringen zu dürfen. Danach fühlt sich es an, als wäre ich mit etwas
       davongekommen.
       
       Masturbation als Stresskiller. Und Stress gilt immerhin als
       herzinfarktrisikosteigernde Hautalterungsursache Nummer eins! Neben Sonne.
       Neben Alkohol. Neben Drogen, Rauchen, Fleisch, Kummer, Krankheit, Armut,
       Stadtluft, Klimawandel, Krankheit usw. Die Haut, vor allem im Gesicht, als
       wichtige zu pflegende Errungenschaft. Für die jugendliche Haut gelobt zu
       werden, scheint wie eine Auszeichnung. Schon über dreißig – aber Haut wie
       eine unter Zwanzigjährige. Beautygoals. Kosmetikindustrie und guten Genen
       sei Dank.
       
       Mitte-fünfzig-jährige Männer, die mir ungeniert erzählen, mein jugendlicher
       Glow sei ganz und gar verführerisch, und glauben, das wirkt.
       
       Jawoll, auch dafür masturbiere ich jeden Morgen. Für diese Art zu strahlen.
       Für den Rest kaufe ich Seren, Tinkturen und Öle. Weil ich mich nicht
       freimachen kann von dem Gefühl, dass es noch besser geht, noch schöner,
       noch frischer, noch ebenmäßiger, noch perfekter. Nie zufrieden sein, nie
       satt sein. Süchtig nach Lob, nach Komplimenten von Frauen in meinem Alter,
       älteren, jüngeren Frauen. Männer sind in Schönheitsfragen keine Referenz.
       Außer sie arbeiten in diesem Bereich.
       
       Das Geld. Die Anstrengung. Die Freude darüber. Es ist zu einfach zu sagen:
       Ja, dann mach halt nicht mit. Spar dir die Mühen und die Kosten. Genieß
       dein Leben fern der Schönheitszwänge. Auch das kommt zwanghaft daher: der
       Genuss des Genießens. Der patriarchale Blick auf meinen Körper. Unterwerfe
       oder ermächtige ich mich? Wenn mir Menschen vor, während oder nach dem Sex
       sagen, meine Haut sei so weich. Wenn sie nicht genug davon kriegen können,
       mich anzufassen, und ich süchtig nach ihren Berührungen werde, nach ihrer
       weichen Haut. Wenn ich ihnen nicht erzähle, dass ich extra vorher gebadet,
       mich geschrubbt, gepeelt und eingecremt habe. Zur Vorbereitung, für die
       besonderen Dates.
       
       Die Hingabe. Die Aufregung. Die Überlegungen. Das will ich sehen. Die
       Auswahl der Unterwäsche. Wer hat überhaupt gute und schlechte Unterhosen,
       seit wann habe ich diese Auswahl? Abgeschaute, einstudierte, ins
       Bewusstsein übergegangene Riten? Dazwischen die spontane Lust, Verführung,
       ohne Vorbereitung, die auch gut sein kann, selbst in der miesesten der
       schlechten Unterhosen. Ein Beweis für die Sinnlosigkeit der Dienste
       vielleicht. Oder die Markierung ihrer Besonderheit.
       
       All das ist weg beim Sex.
       
       Meine Haut ist mir egal beim Sex. Mein Körper. Mein Kontostand. [2][Meine
       Work-Life-Balance. Meine Leistung], meine Aufträge, meine Misserfolge,
       meine Cellulite, meine hängenden Brüste, meine Hornhaut. Meine Features.
       Meine Defizite. Mein Status. Mein Bildungsstand. Manchmal sogar meine
       Klassenherkunft. Sex ist seit Jahren – der Hälfte meines Lebens – eine
       konstante, signifikante Ablenkungsstrategie.
       
       Als Teenager hatte ich Sex aus Langeweile. Sex war die ideale
       Beschäftigung. Beinah gratis, schaltete das Hirn aus. Ständig. Mit allen
       möglichen Menschen. Aus Mangel an Alternativen. Ödniswelt Provinz.
       Ödniszustand Armut. Die Lust kam erst viel später.
       
       Jetzt: andauernd die Lust. Die Lust am Begehren und Begehrtwerden, am
       Rumkriegen, am Rumgekriegtwerden, am Ausprobieren. Wie passen unsere Körper
       zusammen? Die Neugierde. Sex aus Spaß. Sex gegen Schmerzen. Praktisch bei
       Menstruation. Mittelmäßig hilfreich bei Liebeskummer. Richtig unbrauchbare
       Methode bei schlimmen Liebeskummer. Sex ohne Gefühl ist besser als Sex und
       dabei jemanden, mit dem man gerade keinen Sex hat, schmerzhaft zu
       vermissen. Vielleicht dabei (heimlich) zu weinen, untröstlich zu sein,
       damit die Person neben und in einem irritieren, das Gefühl des Verlusts,
       während man etwas tut, was einem sonst so viel gibt. Oder zumindest etwas
       gibt.
       
       Zurück zum Soloakt. Die Enttäuschung, wenn der Akku ausgeht. Es wird vorher
       angekündigt, der Vibrator wird kurz schwächer. Im Anschluss kann er nochmal
       hochgefahren werden. Bitte noch schnell kommen. Manchmal klappt’s nicht.
       Aufgeben, seufzen.
       
       Die Suche nach dem Ladekabel. Das Gefühl aufgestauter Orgasmen. Gibt es
       das? Die Lust verschleppen, mitnehmen, an die Person denken, mit der ich
       gerade schlafen will. Schwülstige Nachrichten senden. Es stattdessen mit
       der eigenen Hand versuchen. Vibratorenverwöhnt abbrechen. Die langen
       künstlichen Fingernägel helfen auch nicht in dieser Situation. Ein anderes
       Spielzeug aus der Schublade holen. Nichts geht über diesen einen
       Lieblingsvibrator. Hilft alles nichts. Aufstehen, warten, später ein neuer
       Versuch.
       
       Später wird’s dafür richtig heiß, wenn der wieder volle Power hat. Dann die
       eine Stellung nehmen, die, bei der es so unendlich lange dauert zu kommen,
       der Orgasmus aber unfassbar ist. Schön. Ich vermisse die Hände in diesem
       Moment. Das Küssen, den Atem, die andere Haut. Aber, hey, besser als
       nichts.
       
       Die Frage: Warum nicht nur sexuell aktiv sein, sondern es auch noch
       mitteilen, es aufschreiben, es zugänglich machen?
       
       Die Anforderung: Es soll ein erotischer, schöner und kluger Text werden,
       der eine*n durch die Gedanken führt, gespickt mit schlauen Aspekten.
       Witzig, nicht angestrengt oder aufklärerisch didaktisch. Alles ganz locker,
       irgendwie easy, juicy, cute (– so wie ich).
       
       Die Annahme: Ich habe Lust auf die Selbstoffenbarung. Will mich angreifbar
       und verletzlich machen, über die eigenen Schamgrenzen hinwegschreiben. Will
       mich der Lust ausliefern und ihrer sinnlichen Beschreibung. Grenzen
       verschwimmen lassen. Ähnlichkeiten zwischen dem Beschreiben und dem
       Ausleben der Fantasien aufzeigen. Ähnliche Praktiken und Taktiken. Ähnliche
       Bewertungskategorien. Ähnliche Gefahren. Ähnliche Reize.
       
       Ich will demonstrieren, dass ich eine sexuell aktive Frau bin. Sowohl
       textlich als auch körperlich – denn würde mir so ein Text nicht automatisch
       diese Aura verleihen? Wirke ich nicht total souverän, offen und
       hemmungslos? Ich will mich zeigen als eine von denen, die weiß, was sie
       will, und Worte dafür findet. Eine, die keine tradierten Restriktionen
       kennt und Abenteuer erfährt, als gäbe es kein Limit.
       
       So stelle ich mir das vor. So will ich gleichzeitig auch mich selbst sehen,
       gedanklich schon mit der Rezeption beschäftigt, die so ein Text
       wahrscheinlich erfahren wird. Authentizität nicht als Stilmittel, als Lüge,
       Unzuverlässigkeit oder vergnügliches, aber gemeines Spiel, sondern als
       Bedingung für diesen Text. Schließlich bin ich Schriftstellerin und die
       schreiben in erster Linie ja über sich selbst.
       
       Vorabdruck aus: „Enjoy Schatz“, Korbinian Verlag 2022, 158 Seiten, 20 €
       
       3 Nov 2022
       
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