# taz.de -- Indigene protestieren gegen Windpark: 600 Tage Stillstand in Norwegen
       
       > Die Windanlage wurde für illegal erklärt, doch Norwegens Regierung blieb
       > untätig. Die indigene Bevölkerung will ihr das nicht durchgehen lassen.
       
 (IMG) Bild: Für Rentier- und Menschenrechte: DemonstrantInnen vor dem Amt des Ministerpräsidenten in Oslo
       
       STOCKHOLM taz | In Oslo gab es am Freitag und Samstag neue Proteste wegen
       zweier Windkraftparks auf Samen-Gebiet. Naturschutzorganisationen und
       VertreterInnen der indigenen Samen demonstrierten gegen einen seit nunmehr
       600 Tagen andauernden Rechtsverstoß der norwegischen Regierung. Die weigert
       sich nach wie vor, einem Urteil des Obersten Gerichtshofs des Landes Folge
       zu leisten.
       
       Das Gericht hatte [1][schon im Oktober 2021 die beiden Windkraftparks
       Storheia und Roan] auf der in der mittelnorwegischen Region Trøndelag
       liegenden Halbinsel Fosen für illegal erklärt. Die Begründung: Deren Bau
       und Betrieb hätten nie genehmigt werden dürfen. Er verletze die
       Menschenrechte der indigenen Samen, die dort Rentierzucht betreiben.
       
       Die Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Jonas Gahr Støre
       hat bis heute nicht auf dieses Urteil reagiert und nichts unternommen, um
       den Menschenrechtsverstoß zu beenden. Deswegen hatte es bereits im Frühjahr
       nach 500 Tagen des Nichtstuns tagelange Proteste im Regierungsviertel in
       Oslo gegeben.
       
       Unter anderem [2][Greta Thunberg hatte teilgenommen], zeitweise waren
       mehrere Ministerien blockiert worden. Als Gahr Støre öffentlich eingestand,
       dass „das, was auf Fosen passiert, ein andauernder Verstoß gegen
       Menschenrechte ist“, und versprach, diesen Konflikt schnellstmöglich lösen
       zu wollen, hatten die Demonstrierenden seinerzeit ihre Aktionen beendet.
       Nun, 100 Tage später, ist aber nach wie vor nichts passiert.
       
       ## Ministerpräsident Gahr Støre bat um Geduld
       
       „Die Angelegenheit konnte noch nicht entschieden werden“, beteuerte der
       Ministerpräsident bei einem Gespräch mit den DemonstrantInnen, nachdem
       diese am Freitag den Zugang zu seinem Amtssitz blockiert hatten. Er bat um
       Geduld, „wir arbeiten wirklich daran“.
       
       Doch die Geduld der Samen schwindet mehr und mehr. „Das Verhalten der
       Regierung gefährdet Demokratie und Rechtsstaat“, heißt es in einer
       Erklärung der Jugendorganisation des „Norske Samers Riksforbund“ (Deutsch:
       Reichsverband norwegischer Samen): „Das ist völlig inakzeptabel.“
       
       Wie der norwegische Regierungschef seine Versprechen breche, sei „traurig
       und peinlich“, kritisierte auch Aili Keskitalo, ehemalige Präsidentin des
       Samen-Parlaments und nun politische Beraterin bei Amnesty International,
       die sich ebenfalls unter den DemonstrantInnen befand: Gerade Norwegen
       geriere sich ja international gerne als Hüter der Menschenrechte. Wie man
       sich beim Thema Fosen auf heimischer Ebene verhalte, sei deshalb schon gar
       nicht hinnehmbar.
       
       Storheia und Roan gehören mit zusammen 151 Windkraftanlagen zu den
       [3][größten Windkraftparks an Land in Europa]. An Roan sind auch die
       Stadtwerke München beteiligt. Die staatliche Konzession zum Bau war 2010
       erteilt worden. Von Anfang an hatte es Proteste der Samen gegeben, die
       traditionell auf der Halbinsel Fosen Rentierzucht betreiben.
       
       ## Windturbinen verängstigen die Rentiere
       
       Dass der Bau und der Betrieb dieser Anlagen und der dazugehörenden
       Infrastruktur auf den Weidegründen der Rentiere einen massiven Eingriff in
       die Lebensgrundlage und Kultur der fraglichen Samen darstellen würde, hatte
       die seinerzeitige Konzession durchaus zugestanden. Meinte aber, der Bau sei
       trotzdem vertretbar, wenn den Samen für Mehrarbeit und Mindereinnahmen von
       den Windkraftbetreibern angemessener Schadenersatz gezahlt werden würde.
       
       In den erstinstanzlichen Verfahren über die von den Samen eingereichte
       Klage gegen die Baugenehmigung war es deshalb zunächst nur um den Umfang
       eines solchen Schadenersatzes gegangen. Dennoch hatte Norwegens Oberster
       Gerichtshof den Bau dann kurzerhand grundsätzlich für illegal erklärt.
       Mehrere Studien ergaben: Der Anblick und die Geräusche der Rotoren
       verängstigen die Rentiere so sehr, dass sie diese Anlagen weiträumig
       umgehen, eine [4][Koexistenz zwischen Tieren und Windturbinen] wäre also
       praktisch kaum möglich.
       
       Wenn den Samen ihr traditionelles Leben unmöglich gemacht oder extrem
       erschwert wird, liege ein Verstoß gegen den „Internationalen Pakt über
       bürgerliche und politische Rechte“ vor, dessen Artikel 27 einen umfassenden
       Schutz der Kultur ethnischer, sprachlicher und religiöser Minderheiten
       verbrieft – so die Entscheidung des Gerichtshofes. Der Verstoß sei auch
       nicht ausnahmsweise mit Rücksicht auf die „grüne Energiewende“
       gerechtfertigt: Windkraftanlagen könnten da gebaut werden, wo sie die
       Rechte indigener Völker nicht verletzten.
       
       Zu dem Zeitpunkt, als dieses letztinstanzliche Urteil erging, waren die
       Windkraftanlagen bereits in Betrieb genommen worden. Oslo hatte diese
       Inbetriebnahme genehmigt und die Betreiber waren das Risiko bewusst
       eingegangen, obwohl beispielsweise der UN-Ausschuss für die Beseitigung der
       Rassendiskriminierung (CERD) sie schon 2018 dringend zu einer Beendigung
       der Bauarbeiten aufgefordert hatte. Zwar ordnete der Oberste Gerichtshof in
       seiner Entscheidung nicht ausdrücklich einen Abriss der Windkraftanlagen
       an.
       
       ## Gutachten unterstreichen Menschenrechtsverstöße
       
       Dass jedoch nicht zumindest sofort die Genehmigung zu deren Betrieb
       widerrufen wurde, als Konsequenz aus dem Urteil und um den permanenten
       Menschenrechtsverstoß zu beenden, halten nicht nur die Organisationen, die
       hinter den jetzigen Protesten stehen, für absolut inakzeptabel – sondern
       auch mehrere juristische Gutachten. Als Hintergrund für das Nichtstun wird
       die Hoffnung der Regierung vermutet, Schadenersatzforderungen der
       Windkraftbetreiber zu vermeiden oder beschränken zu können.
       
       In einem Fernsehinterview rechtfertigte [5][Ministerpräsident Gahr Støre]
       das Verhalten seiner Regierung mit Versuchen, zu einer einvernehmlichen
       Regelung mit den Samen zu kommen. Offenbar gibt es Gespräche über die
       Stilllegung und den Abriss eines Teils der Anlagen. Außerdem heißt es, dass
       höhere Schadenersatzleistungen zur Debatte stehen, für die durch den
       Verbleib der übrigen Windturbinen verursachten Mehrkosten der
       Rentierzüchter. Dem Vernehmen nach soll es zur Frage eines solchen
       Kompromisses Differenzen unter den Samen geben.
       
       Mit den jetzigen Protesten hat ein umfangreicher Kommissionsbericht
       darüber, wie der norwegische Staat 150 Jahre lang systematisch die
       Menschenrechte der Samen und anderer nationaler Minoritäten verletzt hat,
       zusätzliche Aktualität erhalten – [6][die taz berichtete]. Mehrere
       SprecherInnen der demonstrierenden Organisationen werfen Oslo vor, der
       Umgang der Politik mit dem Fosen-Urteil sei ein schlagender Beweis dafür,
       wie wenig sich die staatliche Unrechtspolitik selbst im 21. Jahrhundert
       geändert hat.
       
       Auch Sara Emilie Jåma stammt aus einer Familie, die auf Fosen Rentierzucht
       betreibt. Gegenüber dem TV-Kanal NRK nahm sie auf den Bericht Bezug, den
       eine vom Parlament eingesetzte „Wahrheits- und Versöhnungskommission“
       verfasst hat: „Versöhnung? Das dürfte schwierig sein. Wer kann Vertrauen in
       den norwegischen Staat haben, solange die Windkraftanlagen bleiben dürfen?
       Ich jedenfalls nicht.“
       
       4 Jun 2023
       
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