# taz.de -- Biografie der ukrainischen Stadt: Traumhaftes, schreckliches Odessa
       
       > Charles King hat eine lebendige Geschichte des einst multikulturellen
       > Odessa vorgelegt, die eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit
       > dokumentiert.
       
 (IMG) Bild: Postkarte aus Odessa um 1907; Hafen für unzählige Kosmopolit:innen und Künstler:innen
       
       Spätestens seit der russischen Annexion der Krim im Jahre 2014 ist diese am
       Schwarzen Meer gelegene Halbinsel im fernen Südosten Europas wieder ins
       Bewusstsein auch des westlichen Europas gerückt; eine Halbinsel, die seit
       der Antike und dem Mittelalter immer wieder die östliche, die kulturelle
       Grenze des – seit Herodot – griechischen Europas und dann des christlichen
       Abendlandes markierte.
       
       Weitaus weniger bekannt ist, dass die Krim ein wesentliches Siedlungsgebiet
       von Jüdinnen und Juden war – nicht zuletzt deshalb, weil in dieser auch im
       Zarenreich stets kosmopolitischen, von internationalen Handlungsbeziehungen
       eine offene, aufgeklärte Atmosphäre herrschte, die auch Gruppen, die im
       christlichen Abendland nur ungern gelitten waren, nicht nur duldete,
       sondern geradezu förderte. Lag doch die Krim lange Jahre auch im
       osmanischen Einflussbereich.
       
       Wenig bekannt ist zudem, dass im Südosten Europas – nicht nur in Russland
       und der Ukraine, sondern auch unter dem Einfluss der Chasaren seit dem 11.
       Jahrhundert in Georgien und seit dem 13. Jahrhundert auf der damals erst
       christianisierten Krim – jüdisches Leben bezeugt ist. Noch weniger bekannt
       ist indes, dass dort auch die jüdische Aufklärung, die „Haskala“ – die in
       der Regel seit Moses Mendelssohn den deutschen Ländern zugerechnet wird –
       eines ihrer Zentren hatte.
       
       Das Odessa des 18. Jahrhunderts jedenfalls war trotz zaristischer
       Herrschaft eine weltoffene, von Franzosen, Italienern und von Juden
       geprägte Handelsstadt, in der soziale Spannungen sich jedoch immer wieder
       in antisemitischen Pogromen äußerten – eine Tendenz, die sich bis ins frühe
       20. Jahrhundert fortsetzte.
       
       ## Vernichtung der Juden
       
       Ja sogar bis in die Zeit der russischen Revolution, die auch und gerade
       durch Künstler, die in Odessa lebten, ihre kulturelle, künstlerische
       Physiognomie erhielt: So publizierte Isaac Babel bereits 1921
       Kurzgeschichten aus und über Odessa, während dort 1925 Eisensteins
       „Panzerkreuzer Potemkin“ verfilmt wurde.
       
       Indes: Odessa und die Krim waren auch Gegenstand und Ziel faschistischer
       Kriegsführung. Waren doch beide zwischen 1941 und 1944 von dem mit dem
       nationalsozialistischen Deutschland verbündeten faschistischen Rumänien
       besetzt – [1][einem Rumänien, das sich aktiv an der Vernichtung der
       dortigen Judenheit beteiligte]. Mit einer verheerenden Bilanz: Waren im
       Jahr 1926 noch 36 Prozent der Bevölkerung Odessas jüdisch, so waren es 1989
       nur noch 4 Prozent.
       
       Von alledem erzählt die neue Monografie des US-amerikanischen Historikers
       Charles King, der an der Georgetown University internationale Politik
       lehrt. Sein soeben erschienenes Buch „Odessa. Leben und Tod in einer Stadt
       der Träume“ informiert das lesende Publikum auf ebenso unterhaltsame wie
       informative Weise über eine Stadt, die gegenwärtig wieder die
       Aufmerksamkeit internationaler Politik auf sich zieht. Dass und wie diese
       Stadt aber auch ein Zentrum jüdischen Lebens vor der Shoah war, wird erst
       durch die Lektüre dieses Buches klar.
       
       Nicht zuletzt durch den Verweis auf einen noch immer zu wenig gelesenen
       jüdischen Autor und einflussreichen zionistischen Politiker: [2][Wladimir
       Jabotinsky] war der Begründer des rechten, des nichtsozialistischen
       Zionismus. Er wurde 1880 als Sohn einer jüdischen, bürgerlichen Familie,
       die als „assimiliert“ gelten konnte, in Odessa geboren und starb 1940 in
       New York.
       
       ## Sehnsuchtsort Odessa
       
       Sein viel zu spät, erstmals 2012 auf Deutsch publizierter, bereits 1935 in
       der Schweiz geschriebener und 1936 publizierter Roman „Die Fünf“ lässt das
       Flair des Odessas der Vorkriegszeit, dieser so schönen Stadt am Meer,
       auferstehen.
       
       Hier erzählt Jabotinsky in luzider, niemals anklagender Prosa vom Leben,
       Lieben und Leiden einer assimilierten jüdischen Familie aus Odessa, um
       seinen Roman mit diesen Worten zu schließen: „Es war eine komische Stadt;
       aber auch Lachen ist Zärtlichkeit. Doch jenes Odessa gibt es vermutlich
       nicht mehr, und ich brauche es nicht zu bedauern, dass ich nicht mehr
       dorthin gelangen werde.“
       
       Das trifft die Lage des heutigen deutschen Lesepublikums – gleichwohl: Die
       Lektüre von Kings ebenso unterhaltsamer wie auch bildender Studie ersetzt
       eine Reise beinahe; der Autor dieser Zeilen jedenfalls hat seit Langem kein
       so – in allen Hinsichten – gelungenes Buch gelesen.
       
       13 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Rechtsextreme-in-Rumaenien/!5826606
 (DIR) [2] /Archiv-Suche/!5806880&s=Wladimir+Jabotinsky&SuchRahmen=Print/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Micha Brumlik
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Odessa
 (DIR) Juden
 (DIR) Krim
 (DIR) zionismus
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Klaus Johannis
 (DIR) Holocaust
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Historikerin über sächsischen Zionisten: Rechthaberisch, aber visionär
       
       Lisa Gebhards Biografie entreißt den Dresdner Zionisten Davis Trietsch
       (1870–1935) dem Vergessen. Seine Ideen sind nicht nur Utopie geblieben.
       
 (DIR) Die Zerstörung Odessas: Mekka für Geiger und Genießer
       
       Im Juli zerstörten russische Raketen in Odessa 29 Architekturdenkmäler.
       Ein Rundgang durch die ukrainische Stadt.
       
 (DIR) Angriff auf Odessa: Kathedrale beschossen
       
       Bei Raketenangriffen auf die Hafenstadt Odessa wurden historische Gebäude
       und Kindergärten getroffen. Eine Rakete schlug im Hof unserer Autorin ein.
       
 (DIR) Buch über russischen Bürgerkrieg: Wagner am Stillen Don
       
       Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es. Antony Beevors Gesamtschau über
       den Russischen Bürgerkrieg enthält dennoch viele aktuelle Parallelen.
       
 (DIR) Drohnenangriffe auf Odessa: Explosionen am Schwarzen Meer
       
       Neue Drohnenangriffe haben die Ukraine getroffen, vor allem die Hafenstadt
       Odessa. In Russland hat indes eine Ölraffinerie gebrannt.
       
 (DIR) Geschichtsaufarbeitung in Rumänien: Weg frei für Holocaust-Museum
       
       Präsident Johannis unterzeichnet das Gesetz für ein Museum über den
       Holocaust. Nationalisten und Rechtsradikale lehnen das Projekt vehement ab.
       
 (DIR) 75 Jahre Nazi-Massaker von Babi Jar: Gedenken streng verboten
       
       Ein Dreivierteljahrhundert ist eines der blutigsten Naziverbrechen an den
       Juden nun her. Zu Sowjetzeiten wurde die Erinnerung getilgt.