# taz.de -- 80 Jahre „Operation Gomorrha“: Trümmer für die Zukunft
       
       > In Hamburg jährt sich zum 80. Mal die britisch-amerikanische
       > Luftoffensive „Operation Gomorrha“ mit 37.000 Toten. Endet die Erinnerung
       > mit den letzten Zeitzeuginnen*?
       
 (IMG) Bild: Mittelstraße 89 Hamburg
       
       Drei hölzerne Karteikästen stehen in einem Regal im [1][Stadtteilarchiv
       Hamm], darin ein Schatz, in dem sich Hunderte, Tausende Geschichten
       verbergen. Solche des Leids, diese vor allem. Die Objekte bergen die Namen
       von Zeitzeugen. Sie haben den Hamburger „Feuersturm“ von 1943 überlebt.
       „Für uns ist das das zentrale Thema“, sagt Stadtteilarchivar Gunnar Wulf.
       „Wir waren hier in Hamm im Zentrum des Feuersturms.“
       
       Das Wort ist für Betroffene und ihre unmittelbaren Angehörigen, ihre Kinder
       und Enkel, eine biografisch entscheidende Vokabel: Es bezeichnet vor allem
       die Luftangriffe der britischen Royal Air Force auf die Stadtteile Hamburgs
       mit der höchsten Bevölkerungsdichte, zirka 37.000 Menschen sind in den
       Nächten und Tagen vom 24. Juli bis 3. August 1943 ums Leben gekommen.
       
       Strittig ist historisch, ob die britischen Bomber in diesem Areal bei für
       sie perfekten Wetterbedingungen auch rüstungszuliefernde Kleinbetriebe
       auslöschen wollten. Oder mit ihrer „Operation Gomorrha“, wie sie ihre
       Kriegsaktionen nannten, einzig biblisch anmutende Rache nehmen, Vergeltung
       üben wollten für die Luftkriege des nationalsozialistischen Deutschlands
       auf London und Coventry – mit einem demoralisierenden Bombardement der dort
       noch lebenden Bewohner, alte Männer, Frauen, Kinder. Wahr bleibt, dass bei
       den letzten halbwegs legalen Reichstagswahlen im März 1933 ausgerechnet in
       dieser Gegend die NSDAP vergleichsweise geringen Zuspruch erhielt, KPD und
       SPD dafür umso mehr.
       
       Mit blauem Kuli auf hellblauen Kärtchen jeweils notiert sind in den fast
       abseitig gestellten Adresskästen Geburtsdatum, die alte Straße im 1943
       ausgebombten, ausradierten Hammerbrook und Hamm, die alte Schule,
       Festnetznummern, sowie erste Hinweise, wo diese Person den sogenannten
       „Feuersturm“ überlebte. Oder dass sie ein Zusammentreffen mit früheren
       Nachbarn ihrer Straße wünscht. Oder wie ihr Lehrer in der Schule hieß.
       
       Seit 1987 gibt es dieses Stadtteilarchiv, das es sich zur Aufgabe macht,
       die Geschichte jenes Viertels aufzuarbeiten. Es war mit 90.000 Menschen mal
       dicht bewohnt, geteilt in zwei Hälften – „Oben-Hamm“, in der die
       Bürgerlichen lebten – und das auch topografisch tiefer gelegene
       „Unten-Hamm“, wo die weniger Feinen wohnten, Arbeiter und Arbeiterinnen,
       Kleingewerbetreibende.
       
       Noch heute bildet die vielbefahrene Hammer Landstraße eine Art unsichtbare
       Grenze durch den Stadtteil, die Kulturschaffende mit Aktionen wie dem im
       August beginnenden „Hammer Sommerfestival“ zu überbrücken versuchen. Da
       nach dem Krieg, um die Wohnungsnot zu beheben, vor allem viele kleine
       Wohnungen gebaut wurden, ist der ganze Stadtteil heute weniger wohlhabend.
       Heute leben in Hamm, im bürgerlichen hoch gelegenen wie im kleinbürgerlich
       unteren Teil nur noch rund 38.000 Menschen, davon viele Singles, denn
       Familien ziehen oft weg, wenn das zweite Kind kommt, weil der Platz nicht
       reicht.
       
       Das Stadtteilarchiv ist Ausgangspunkt unserer Hamm-Erkundung mit dem Rad,
       das Gedächtnis dieser Gegend, die so gar nicht schön aussieht wie andere
       Hamburger In-Quartiere, etwa das Schanzenviertel. Die Adresse führt zu
       einem modernen Kulturzentrum an der großen Straßenkreuzung Sievekingdamm
       und Hammer Landstraße. Per Fußgängerrampe ist es über eine Art Hochplateau,
       Platz der Kinderrechte genannt, erreichbar. Fern vom Autolärm bietet das
       Zentrum auch Platz für ein Straßencafé mit jungen Bäumen, sichtbar wird es
       von der Bevölkerung angenommen.
       
       ## Vorleben und Verbindungen eines Stadtteils
       
       Die Karteikästen im Archiv sagen viel über das Vorleben dieses Stadtteils.
       In ihnen Spuren einer Erinnerungsorganisation, die mal wie eine
       Facebook-Gruppe funktionierte, ein Kontaktstiftungsinstrument: „Wir
       benutzen die Karteikarten aber kaum noch. Viele Menschen sind auch schon
       gestorben“, sagt Gunnar Wulf, der in dieser Gegend Kind war und über eine
       ABM-Maßnahme zu seinem Job kam – er ist seit Anfang an dabei. Früher wurden
       mit Hilfe der Adressen auch Verbindungen hergestellt, von ehemaligen
       Bewohnern, die ihre Freunde und Nachbarn suchten.
       
       In dem Regal steht auch eine aus den Trümmern geborgene alte
       Schreibmaschine und ein aus Papier nachgebautes Modell der Villa
       Ohlendorff. Denn Hamm-Oben war einmal Treffpunkt der Reichen und Wichtigen
       – lange vor dem heute prominenten Blankenese an der Elbe. Hier hatten
       einflussreiche Hamburger Kaufleute und Reeder ihre Sommersitze.
       
       Wer erkunden will, wie diese Welt mal aussah, muss sich zum großen Tisch in
       der Mitte des Stadtteilarchivs nur umdrehen. Dort sind in eng aneinander
       gestellten Kästen über 43.000 Fotos nach Straßennamen sortiert,
       Lichtbilder, die die Menschen im Lauf der Jahre vorbeibrachten. Alle in
       Schwarz-Weiß. Teils wunderschöne Jugendstil- und Gründerzeitfassaden, die
       ans heutige Wien erinnern, interessante Läden, alte Straßenbahnen, große
       Kindergruppen, die auf der Straße spielen. Auch für die Nachbarstadtteile
       wie Rothenburgsort, Borgfelde und Hammerbrook sind hier Bilder zu finden.
       
       Es kommen auch heute noch Menschen vorbei und suchen danach, aber es sind
       nur noch wenige, manchmal aber auch die Kinder der ums Leben Gekommenen.
       Sie wollen dann sehen, [2][wie die Straße aussah, wo ihre Eltern mal
       lebten.] Ob es von dem Haus oder dem Laden noch ein Foto gibt? Es ist sogar
       möglich, über ein altes Straßenregister – das in der Hamburger
       Staatsbibliothek einsehbar ist –, nachzuschauen, wer damals unter welcher
       Hausnummer wohnte. „Wir müssen immer aufpassen“, sagt Stadtteilarchivar
       Wulf. „Die Leute klauen sonst einfach die Bilder.“ Wer eines haben möchte,
       könne es bestellen. „Ein Abzug drei Euro.“
       
       In der Mitte des großen Tisches liegen Bücher, auch sie kann man erwerben.
       Darunter das Heft „Die längste Nacht“ mit den Berichten von zwölf
       Zeitzeugen zum Hamburger „Feuersturm“, 2013 wurde sie zum 70. Jahrestag
       erstellt. Die erste Angriffswelle in der Nacht zum 25. Juli 1943 galt
       zunächst anderen Stadtteilen in Hamburgs Westen und traf nur vereinzelt
       Häuser in Hamm, weil die Bomber nicht genau zielten. Meteorologisch
       herrschte „perfektes“ Angriffswetter: viele Tage lang wolkenloser Himmel.
       
       ## Unsagbares Glück im Unglück
       
       „Mancher hat durch dieses Unglück unsagbares Glück“, heißt es in dem Heft.
       Herr M. zum Beispiel wurde in dieser Nacht „ausgebombt“, während die
       Bewohner im Keller ausharrten, die elterliche Wohnung zerstört. Der damals
       15-jährige lieh sich ein Rad und flüchtete zu seinen Großeltern an den
       Stadtrand. „Uns wäre der Verlust der Wohnung leichter gefallen, wenn wir
       geahnt hätten, dass dadurch unser Leben gerettet worden ist“, schrieb er
       später. „In der nächsten Angriffsnacht ging Hammerbrook im Feuersturm unter
       und wir hätten noch im Zentrum des Glutofens gewohnt.“ Von den Bewohnern
       seiner Nachbarhäuser habe keiner überlebt.
       
       Ihre Rede handelt von der Nacht vom 27. zum 28. Juli 1943. Die ersten
       Flieger warfen Bomben, die die Dächer der Häuser wegsprengten. Dann folgten
       Phosphor- und Brandbomben, die die meist aus Holz gebauten Treppenhäuser
       entzündeten. Zeitzeugin Frau S. berichtet, wie sie diese überlebte: „Mutter
       und ich rasten den Grevenweg rechts runter zum Gesundbrunnen am Sportplatz,
       dort war ein öffentlicher Luftschutzkeller. Wohin die anderen sich gewandt
       hatten, weiß ich nicht.“
       
       ## Luftschutzkeller wurden zur Todesfalle
       
       Dort angekommen, sei es schon sehr voll gewesen. „Wir hätten im Stehen
       sterben können, so eng war es“, erzählt die Zeitzeugin. Für Tausende
       Hamburger seien diese Luftschutzkeller zur Todesfalle geworden, denn die
       boten Schutz vor Einsturz, aber nicht vor glutheißen Flammen. Andere
       suchten Freiflächen in einem Park oder auf einem Sportplatz.
       
       Wieder andere flüchteten ins Wasser. Dem damals sechsjährigen Wolf
       Biermann, später der berühmte Dichter und Sänger in der DDR, der damals in
       Hammerbrook Kind war – und seit Langem wieder in Hamburg lebt –, wurde
       zusammen mit seiner Mutter ein Kanal zur Rettung.
       
       Überlebt haben viele, die einen Platz in einem der Bunker fanden, für die
       es aber nicht genug Kapazitäten gab. 10.000 Plätze für 90.000 Einwohner.
       Juden und Zwangsarbeiter mussten draußen bleiben. Das Stadtteilarchiv hat
       einen solchen Bunker am Wichernweg trockengelegt und restauriert.
       
       Gunnar Wulf macht hier seit Jahren Führungen, jüngst erst für eine Gruppe
       junger Kriminalbeamter. Er sagt Sätze, wie, dass dieser Bunker auch zeige,
       dass „nie wieder Krieg“ sein dürfe. Drei Worte, die in Deutschland bis zum
       russischen Krieg gegen die Ukraine Common Sense waren.
       
       Wir fahren mit dem Rad vom Stadtteilarchiv am Sievekingdamm über den
       Thörls-Park, wo eine nachgebaute „Trümmerbank“ steht. Ein Kunstwerk, das an
       die Kleinbahn erinnert, die hier in den fünfziger Jahren bergeweise Schutt
       abtransportierte, hin zum neun Kilometer entfernten Stadtrand, wo durch
       Trümmerhügel der spätere Öjendorfer Park entstand.
       
       Auf der Bank ruhen sich zwei junge Männer aus, eingewandert aus Iran, die
       in der nahegelegenen Berufsschule eine Umschulung machen. Sie haben die
       daneben stehende Erklärtafel nicht gelesen und von „Gomorrha“ noch nie
       gehört: „Aber man darf hier sitzen?“ Selbstverständlich. So ist es ja
       gedacht: Kunst aus Bombentrümmern, die zur alltäglichen Benutzung einlädt.
       
       Dann ein Stopp im Cafe May am Hammer Park, wo draußen am Tisch bei Quiche
       und Cola eine angenehme Straßencaféatmosphäre herrscht: ein
       [3][Nachbarschaftstreff,] der übliche Multikultimenschenmix, alles
       friedlich. An der Hammer Kirche fotografieren wir das dortige Mahnmal, das
       daran erinnert, dass von deutschem Boden aus von 1933 bis 1945 „Gewalt und
       Terror, Mord und Vernichtung“ in die Welt der Völker getragen wurden. Und
       wo es heißt: „Am Ende schlugen Gewalt und Zerstörung auf deutschen Boden
       zurück“.
       
       ## Breites Wissen früher über die Luftangriffe
       
       Fast niemand, der in Hamburg bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts
       aufgewachsen ist, weiß nicht von diesen Luftangriffen, sie gehören zur
       hanseatischen Nach-NS-Zeit-Erinnerungsgeschichte, jüngst erst titelte das
       Hamburger Abendblatt, tonangebende Zeitung der Stadt, auf ihrer Seite 1
       „Als der Tod vom Himmel fiel“.
       
       Im Gegensatz etwa zu Dresden, wo kurz vor dem alliierten Sieg über den
       deutschen Nationalsozialismus mit Luftangriffen auch Tausende Menschen ihre
       Leben ließen, hat es aber in Hamburg später „keine dezidiert antibritische
       Stimmung gegeben“, wie der Historiker Helmut Stubbe da Luz sagt, der die
       Ausstellung zum 80. Jahrestag der „Operation Gomorrha“ kuratierte. „Das mag
       auch dran gelegen haben, dass die Briten als Besatzungsmacht nicht die
       Schlechtesten waren.“
       
       ## Historisches Wissen und Fühlen verblasst
       
       Es scheint zudem, als ob es an Alster, Elbe und Bille bei vielen eine Art
       vorbewusstes Wissen gab, dass das alles eben Teil des fürchterlichen, vom
       NS-Deutschland begonnenen Krieges war. Man schien zu wissen, dass der
       Schmerz ob der Getöteten eine selbstverschuldete Vorgeschichte hatte. Das
       historische Wissen und Fühlen verblasst indes.
       
       Als kürzlich mal wieder in Hamburg bei Bauarbeiten im Schanzenviertel eine
       Fliegerbombe entdeckt wurde, musste das halbe Viertel für etliche Stunden
       evakuiert werden – und bei spontanen Umfragen bei den Flüchtenden wussten
       die meisten nicht zu sagen, woher diese „Blindgänger“ stammten, nämlich aus
       dem Zweiten Weltkrieg.
       
       Im Hamm benachbarten Stadtteil Rothenburgsort ist es nur die ansonsten
       randständige CDU, die regelmäßig an einem dort aufgestellten Gedenkort an
       diese „Operation Gomorrha“ erinnert. Ob das Gedenken je aus rechten
       Gedankenwelten entspringt, wollen wir von Gunnar Wulf wissen. „Manchmal
       musste ich mir im Bunker paar Sachen anhören. Ich habe dann mit den Älteren
       auch diskutiert“, sagt er.
       
       ## Senat hält sich zurück mit Erinnerungspolitik
       
       Wulf weist dann immer darauf hin, dass die Deutschen angefangen hatten, in
       London gezielt Wohnbevölkerung zu bombardieren. Der Hamburger Senat hält
       sich seit Längerem mit direkten erinnerungspolitischen Initiativen zurück,
       die Ereignisse im Sommer 1943 erfassen die Gefühle einer ganzen Stadt nicht
       mehr, keine Gedenkveranstaltungen wie einst auf dem Friedhof Ohlsdorf mit
       Zehntausenden Menschen.
       
       Die meisten der früheren Bewohner aus Hamm oder Hammerbrook leben nicht
       mehr. SPD-Kultursenator Carsten Brosda hat immerhin eine, wenngleich wenig
       ertragreiche, Universitätstagung zum Thema beschirmherrt. Und die am
       Stadtrand gelegene Universität der Bundeswehr zeigt eine überaus
       instruktive, vom Historiker Helmut Stubbe da Luz [4][kuratierte
       Ausstellung] zu „Hamburgs Gomorrha 1943 und die Folgen“ – sie wird gut
       besucht, Alte und etwas Jüngere, einige Schulklassen.
       
       Wer heutzutage wenigstens eine Art Vorstellung von der „Ausbombung“ (der
       Begriff der Nachkriegszeit unter Überlebenden) sich ausmalen möchte, stelle
       sich, etwa bei einer Bahnfahrt von Berlin nach Hamburg oder, aus dem Süden
       kommend, über die Elbbrücken eingereist, jeweils rechts der letzten zwei
       bis vier Kilometer engste Bebauung mit einigem Gewerbeanteil vor –
       vergleichbar mit dem Berliner Neukölln.
       
       Unten-Hamm, Rothenburgsort und Hammerbrook, das waren proletarische Viertel
       im Aufstieg: mit Wohnungen, die lichter und trockener waren als die
       vorsätzlich zugunsten der Hafenökonomie abgewrackten Quartiere in
       direkterer Elbnähe.
       
       ## Fläche des vieltausendfachen Todes
       
       Geblieben ist davon so gut wie nichts, wiederaufgebaut werden sollten die
       Quartiere auch nicht, dafür kamen Kleinhöker, Ramschbetriebe, hier und da
       ein Puff, wenige Kneipen. Die Stadtentwicklungsbehörden wiesen die Gegend
       als Industriegebiet aus, eine No-Go-Area für ängstliche Menschen, faktisch
       ja auch eine Fläche des vieltausendfachen Todes.
       
       Die Gegend war in den fast zwei Jahren bis zur NS-Kapitulation ein
       Sperrgebiet, umzäunt. „Eine zügige Bergung der allein auf dieser relativ
       kleinen Fläche angefallenen Leichen schien unmöglich“, schreibt das
       Stadtteilarchiv. Hammerbrook und Unten-Hamm: fürs erste und lange Zeit
       aufgegeben.
       
       Ein harter Kern von etwa 25 Ehrenamtlichen hat daran gearbeitet, die
       Erinnerung an den Stadtteil Hamm überhaupt erst zu schaffen. Bis vor etwa
       zehn Jahren sei das Archiv von Zeitzeugen häufig besucht worden, berichten
       Gunnar Wulf und seine Kollegin Stephanie Kanne.
       
       Für Oben-Hamm mit seiner grünen Lunge, dem Hammer Park, gab es nach dem
       Krieg einen Wiederaufbauplan, kaum zerstört liegt es höher auf einem
       Geestrücken. Es wurde mit breiten Zufahrtsstraßen auch zur nahen Autobahn
       am Horner Kreisel – gen Ostsee und Westberlin – durchzogen und mit
       günstigen kleinen Wohnungen derart wiederhergestellt, dass es seine alte
       urbane Qualität und seinen Charme trotzdem nicht wieder gewann. Auch wenn
       es dort, wie rund ums Café May am Park, viele schöne Ecken gibt – diese
       gewisse metropole Quirligkeit wie einst, sie fehlt.
       
       ## Was schuf der Herrgott im Zorn?
       
       Fragt man junge Leute, wo in Hamburg sie eine Wohnung suchen, nennen sie
       nur Eimsbüttel, Altona und Ottensen und natürlich das legendäre
       Schanzenviertel, beliebt sind die alten Gründerzeitbauten westlich der
       Alster. „Billstedt, Hamm und Horn, schuf der Herrgott im Zorn“, lautet ein
       Taxifahrerspruch, der angesichts der „Operation Gomorrha“ als Witz nicht
       mehr richtig zündet.
       
       Wir fahren vom Mahnmal an der Hammer Kirche kommend über einen steilen
       Radweg den Geesthang runter nach Unten-Hamm. Anfangs noch an teils
       propperen, keineswegs prunkvollen Wohnhäusern vorbei, bald aber auf lauten
       Autostraßen mit ungemütlichem Lkw-Verkehr.
       
       Das untere Hamm und Hammerbrook wurden als Wohngebiete viele Jahre eben gar
       nicht wiederaufgebaut. Vor dem Bombardement gab es mehr Brücken, viel mehr
       Kanäle, mehr Wohnhäuser, mehr urbane Infrastruktur, sogar eine U-Bahn-Linie
       – die sich, so die Hamburger Stadtplanung, wieder in Verkehr zu bringen
       nach 1945 nicht mehr lohnte.
       
       Viele Alte erinnern sich noch sehr gut, ihre Erinnerungen sind voll da.
       Auch die Mutter der Co-Autorin erzählt von diesen Bombennächten. Sie kam
       gerade mit ihrer Mutter und ihren kleinen Brüdern von einer vorsorglichen
       Landverschickung zurück nach Hamburg, als der Himmel am Hauptbahnhof
       schwarz vor Rauch war. Ihr Vater kaperte kurz entschlossen das Motorrad
       seines Nachbarn mit Beiwagen und fuhr damit die fünfköpfige Familie
       schnellstmöglich raus aus der Stadt ins 30 Kilometer entfernte Siek. Auch
       von dort sah man die Flugzeuge am Himmel.
       
       Seit der Ukrainekrieg ausgebrochen ist, spricht die 86-Jährige häufiger
       davon, wie viele ihrer Generation in dieser Stadt. Die Zeitzeugen, die den
       „Feuersturm“ erlebten, sehen sich durch den Krieg in der Ukraine
       hochbelastet. So berichtet es Ulrich Lamparter von der Hamburger Uniklinik
       Eppendorf, der Betroffene im Rahmen des Projekts „Das Erinnerungswerk
       Hamburg Feuersturm 1943“ im Mai 2022 befragte.
       
       ## Manifeste posttraumatische Symptome
       
       Es ist bereits das zweite Forschungsprojekt. Das erste wurde 2013
       abgeschlossen und kam zu dem Fazit, dass die Erinnerung an diese Nächte
       sehr präzise sich hält und in einer Art Sondergedächtnis abgespeichert
       bleibt, wie Lamparter kürzlich bei einem Vortrag berichtete. Bei etwa einem
       Drittel der über 60 befragten Überlebenden zeigten sich manifeste
       posttraumatische Symptome, bei einem weiteren Drittel eine „basale
       Erschütterung“.
       
       Die Aufarbeitung der psychomentalen Folgen sei lange Zeit rudimentär
       gewesen „und musste angesichts des Holocaust auch rudimentär bleiben“,
       sagte er und zitierte Hort Eberhard Richter mit dem Satz, „Es war nicht
       vorzeigbar, was an Zufügungen im Dienste des Nazi-Unrechts geschehen war.“
       Und doch blieb immer ein Schmerz, eine Wunde bei den Überlebenden, die
       öffentlich kaum thematisiert werden konnte.
       
       Die Friedensbewegungen der Nachkriegszeit, interessanterweise sowohl in
       Großbritannien wie in der Bundesrepublik, speiste sich aus den
       Überlebenden, jenen Menschen auch in Hamburg, die auf „Krieg“, wie sie
       sagen, unbedingt verzichten wollen, jetzt und für alle Generationen nach
       ihnen.
       
       Lamparter befragte auch Kinder von Zeitzeugen. Die Hälfe hat konkretes
       Wissen über die damaligen Luftangriffe und kann sich in das Erleben der
       Eltern einfühlen. Und auch wenn die beiden Generationen es nicht leicht
       miteinander gehabt hätten, stimmten sie einig der Aussage zu: „Ich wollte,
       dass meine Kinder wissen, wie schlimm Krieg ist.“
       
       Es gibt Zukunftspläne für die geschundenen Viertel. Auf der Nahtstelle
       zwischen der Hafencity, dem Hafen und Hammerbrook und Hamm, am Ausgang der
       Elbbrücken, entsteht das zukünftig höchste Gebäude der Stadt, der
       „Olaftower“ genannt wird, weil der frühere Bürgermeister Olaf Scholz sich
       für dieses Projekt stark gemacht hat.
       
       Danach sind die Areale, die die „Operation Gomorrha“ plattmachte, wieder
       dran. Nicht mehr nur Gewerbegebiet, sondern schöne Wohnhäuser mit viel
       Grün, ein bisschen so wie früher, etwa wie das Osterbrook-Viertel, das in
       Unten-Hamm schon entstanden ist.
       
       ## „Gute Mischung, gute Busverbindung“
       
       Da in der Nähe, an der Bushaltestelle Braune Brücke an der Süderstraße, der
       Zentralachse von Unten-Hamm, steht eine Frau, wie sie äußerlich zur Roten
       Flora im Schanzenviertel nicht besser passen könnte. Darf man fragen?
       Gerne! Lebst du hier? Sie heißt hier Lisa, und sie sprudelt los: „Ja, seit
       vier Jahren. Ist ja keine rechte Ecke mehr hier. Früher viele Hell’s
       Angels, Zuhälter und so. Jetzt wohnen hier klasse Leute. Gute Mischung,
       gute Busverbindung nach Altona und in die Stadt.“
       
       Und in Wurfweite entfernt eine Kneipe an der Bille, dem dritten Fluss
       Hamburgs, idyllisch gelegen, szenig, weltoffen, aufgeklärt, mit
       alternativem Programm zum Gedenken an die „Operation Gomorrha“. Die
       Bürgerinitiative BOOT – Untertitel „Sport, Kultur, Nachbarschaft und
       Gastronomie im Billebecken“ – nimmt sich der Erinnerungen an.
       
       Es heißt zum Anspruch: „Die friedliche Heilung der Stadt ist ein wichtiger
       Prozess – wir sehen uns mit unseren Zielen im BOOT e.V. als Teil dieses
       Heilungsprozesses. Wir halten es aber für ebenso wichtig, den Blick auf die
       Lücken frei zu halten – Sie zeigen uns, dass nichts, was wir zu sehen
       meinen, selbstverständlich für immer da sein wird.“
       
       ## Sich kümmern um die Folgen des „Feuersturms“
       
       Stephanie Kanne, Kollegin von Stadtteilarchivar Gunnar Wulf, ist
       Historikerin – und seine designierte Nachfolgerin. Wird sie sich denn auch
       um die Folgen des „Feuersturms“ kümmern? Sie sagt: „Natürlich mache ich mit
       dieser Frage weiter. Mich interessieren aber auch Fragen des Kolonialismus,
       dazu habe ich bereits in einem Museum gearbeitet.“
       
       Sie meint zum Beispiel die Teilhabe wohlhabender Hamburger an kolonialer
       Ausbeutung (nicht nur) in Afrika. Hamburger, die so prunkvolle Häuser wie
       die Villa Ohlendorff in Hamm bauen konnten. „Ich werde da mit Oben-Hamm zu
       tun haben“ – diese Aufarbeitung stehe jetzt an.
       
       So geht die Zukunft, auch für diesen Stadtteil – wie sonst?
       
       25 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Dokumentarfilm über Operation Gomorrha: Erinnerung, sprich!
       
       Zum 80. Jahrestag des schwersten Luftangriffs auf Hamburg zeigt Christian
       Grasse seinen Dokumentarfilm „Im Gedächtnis einer Stadt – Operation
       Gomorrha“.
       
 (DIR) Bombenangriff auf Hamburg vor 80 Jahren: Bleibende Leerstellen
       
       Eine Tagung beschäftigte sich mit dem Bombenangriff auf Hamburg im Juli
       1943. Was bedeutet Gedenken an den „Feuersturm“ für die Erinnerungspolitik?
       
 (DIR) Kirchentag diskutiert Krieg und Frieden: Beten allein reicht nicht mehr
       
       Waffenlieferungen an die Ukraine? Der Kirchentag hat dafür Sympathie – und
       empfängt auch den Generalinspekteur der Bundeswehr freundlich.
       
 (DIR) Gedenktag 8. Mai: Opa war schrecklich kalt im Krieg
       
       Den 8. Mai zum Tag der Befreiung umzulabeln, tat der heimischen Seele gut.
       Dabei wurde 1945 die Welt befreit, nicht die große Mehrzahl der Deutschen.